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Baustelle bei Nacht

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20.01.2002
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Baustelle bei Nacht

Ein leises Wimmern drang durch die unheimliche Dunkelheit. Das Schluchzen einer Frau, die dem Nervenzusammenbruch nahe war. Das Geräusch klang unterdrückt, als ob die Frau sich davor fürchtet, gehört zu werden. Niemand war bei ihr. Ganz alleine hockte sie in der grossen Tiefgarage des zukünftigen Shopping Centers. Die Baustelle war um diese Zeit verlassen, denn es war Nacht. Kein Licht, kein Lärm kam von diesem Ort, verliess diesen Ort. Vor wenigen Minuten waren auch die Lichter auf der Strasse erloschen, sodass sich die Frau nirgendwo mehr orientieren konnte. Ganz verzweifelt hockte sie in der Tiefgarage.
Sie hatte einem Dieb nachgestellt, der ihre Brieftasche geklaut hatte. Der junge Mann hatte ihr in einem Moment fahrlässiger Unvorsichtigkeit in die Handtasche gegriffen und sie bestohlen. Danach war er geflüchtet. Von Beruf Sportlehrerin, hatte sie es mit ihm aufnehmen wollen und hatte ihm nachgestellt. In dieser Baustelle hatte er sich versteckt. Zu dem Zeitpunkt, als sie ihn in diesem riesigen Bauwerk hatte suchen wollen, gingen draussen die Laternen aus und überliessen sie der Dunkelheit.

Der Eisenhaken, den sie unterwegs mitgenommen hatte, nütze ihr nun herzlich wenig, da sie überhaupt nichts sah. Sie wollte um Hilfe rufen, aber um diese Zeit hätte sie ausser dem Dieb wohl niemand gehört. Und der war wenig dran interessiert, ihr zu helfen. Sie war allein. Sie sann noch eine Minute über ihre jetzige Lage nach und darüber, was sie tun könnte.
„Hilfe!“, schrie sie dann doch verzweifelt in die Dunkelheit. „Hört mich jemand?“
Keine Antwort. Noch immer kein Geräusch ausmachbar. Sie fing wieder an zu schluchzen. Sie wurde regelrecht geschüttelt. Sie versuchte nicht mehr leise zu sein, liess alles heraus, weinte in die Nacht hinaus.

Nach einer Weile hatte sie sich wieder ein wenig gefasst und wollte es wieder mit rufen versuchen. „Hilf…!“, rief sie und hielt dann erschrocken inne. Ein Strahl gleissendes Licht hatte sie getroffen und blendete sie, sodass sie ihre Hände schützend vor die Augen halten musste. Sie torkelte einige Schritte rückwärts und wäre beinahe über einige Eisenstangen gestolpert.
„Vorsicht!“, rief eine Stimme hinter dem Licht hervor. Es war die Stimme eines jungen Mannes und klang ziemlich erschrocken. „Passen Sie auf, wo Sie hintreten. Hier liegt allerlei Gerümpel.“ Er trat einige Schritte vor und streckte ihr seine helfende Hand entgegen. Sie ergriff seine Hand mit der ihren, zittrigen und wischte sich mit der anderen hastig die Tränen aus dem Gesicht.
„Danke“, brachte sie stotternd über die Lippen und versuchte, ihren Puls unter Kontrolle zu bringen. Hilfe war gekommen. Sie bemerkte, wie auch die Hand ihres Helfers zitterte.
„Kommen Sie, ich führe Sie hinaus“. Ihre Augen hatten sich zu sehr an die Dunkelheit angepasst, so dass sie sie im Schein der Taschenlampe schliessen musste. So konnte sie den jungen Mann nicht sehen, musste ihm ihr ganzes Vertrauen schenken, während er sie vorsichtig durch die mit Werkzeugen und Baumaterialien gesäumte Tiefgarage führte. Sie kamen langsam vorwärts. Er wies sie auf herumliegende Hindernisse hin und achtete darauf, dass sie nicht stolperte. Nach einer Weile konnte sie ihre Augen wieder öffnen und nahm einen ersten Augenschein von ihrem Helfer. Da er seine Lampe auf den Boden vor ihm richtete, liess sich von ihm nur eine dunkle Silhouette erkennen. Sie sah, dass er einen Schutzhelm trug und seine Füsse in grossen, klobigen Schuhen steckten. Während sie eine Biegung nahmen, konnte sie seinen dicken Faserpelz mit der Beschriftung „Kölliker Bau AG“ erkennen. Ich werde dieser Firma wohl einen Dankesbrief schreiben müssen, dachte sie. Seine Finger, die ihre sanft umschlossen, waren dünn und zart. Er konnte noch nicht lange im Baugewerbe tätig sein, denn Bauarbeiter hatten normalerweise eher Wurstfinger. Sie schätzte sein Alter auf etwa fünfundzwanzig bis dreissig Jahre.
„Danke, dass sie mich hier herausholen. Ich war schon ganz verzweifelt.“ Das war stark untertrieben.
„Keine Ursache. Es freut mich, dass ich Ihnen helfen kann. Ohne diese Lampe hätte ich hier unten auch keine Chance. Aber sobald wir dieses Loch verlassen haben, können Sie sich an den Lichtern der Stadt orientieren.“
„Sie müssen mich wohl für völlig bescheuert halten, hier alleine auf der Baustelle herumzulungern.“ Sie hatte das im Scherz gesagt, aber in ihr kam langsam der Zorn über sich selber auf. Sie war wirklich ein dummes Ding! Kein anderer Mensch wäre mitten in der Nacht alleine in eine Baustelle gerannt, Sportlehrerin hin oder her. Und nun musste sie wie ein kleines Kind an der Hand genommen werden.
„Ich masse mir kein Urteil an“, erwiderte der Arbeiter. Wir finden hier allerlei Leute, wobei es sich allerdings meistens um Drogenabhängige oder Obdachlose handelt. Sie sind wirklich eine angenehme Überraschung.“ Da musste sie lauthals lachen. Dieser junge Mann vor ihr hatte mehr Charme als ihr verflossener Freund.

Bald sah sie vor ihm eine Auffahrt, die, von hier unten betrachtet, direkt in den Sternenhimmel führte. Sie liess seine Hand los und marschierte hastig darauf zu. Sie konnte es kaum erwarten, wieder in die Zivilisation zu stossen. Hinter ihr schaltete der Arbeiter die Lampe aus, damit sie den Ausgang besser sehen konnten. Die Sterne strahlten hell genug, um ihr den Weg hinauf zu weisen. Unendlich froh darüber, diesen Alptraum hinter sich gelassen zu haben, kam sie oben an und konnte, nicht weit entfernt, die Silhouetten der Stadt erkennen. Sie wartete einen Moment, um den Bauarbeiter aufholen zu lassen und warf einen Blick auf die Uhr. Es war ein Uhr morgens. Fast eine ganze Stunde hatte sie in diesem Loch verbracht und wäre keine Hilfe gekommen, hätte sie vermutlich hier übernachtet.

Sie wollte sich zu ihrem Helfer umdrehen und ihm nochmals danken, aber sie konnte ihn nicht sehen. Sie stand auf einem Strassenstück, das geradewegs in ein dunkles, unheimliches Loch führte, auf einer riesigen Baustelle.
Aus der Dunkelheit erklang eine bekannte Stimme. „Danke für die Brieftasche!“

 

Hallo Assassin!

Nicht schlecht, die Geschichte; die Idee und die Umsetzung gefallen mir insoweit eigentlich ganz gut.

Ein Ausdruck hat mich jedoch bißchen gestört und zwar

fahrlässiger Unvorsichtigkeit
Unvorsichtigkeit ist ja kein Straftatbestand als solcher, da kommt die Aufwertung mit "fahrlässig" etwas zuviel.
Zudem setzt die Unvorsichtigkeit schon fahrlässiges Handeln voraus - sonst wäre man ja behutsam vorgegangen, nicht wahr? ;)

Ein Aspekt wäre noch vorhanden und zwar, dass du am Anfang "Tiefgarage" sofort mit "Baustelle" gleichsetzt, ohne nähere Erläuterungen.

Ansonsten eine gelungene Geschichte!


Gruß, Hendek

 

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