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Begegnungen
Sie war allein, nun ja, wenn man von den hunderten von Menschen ringherum absah. Tränen liefen ihre Wangen herunter, es waren tonlose Tränen. Dieserart Tränen, die einfach nur liefen, ein tonloses Schluchzen, ein Laufen ohne Aufregung, ohne Regung. Sie liefen einfach und sie saß einfach da und fragte sich, wie sie nur hierher gekommen war.
Diese Frage stellte sie sich immer wieder. "Wann bin ich falsch abgebogen?", fragte sie sich. Und nebenbei liefen die Tränen und sie starrte in die Nacht, umgeben von Fremden. Sie saß jetzt schon seit Stunden an diesem Flughafen, in diesem fremden Land, welches ihr gänzlich fremd war und für das sie sich auch in Gänze momentan nicht interessierte.
Sie interessierte wenig in diesem Augenblick und doch interessierte sie alles. Paradoxerweise passte dieser Ort zu ihrer derzeitigen Verfassung. Sie war allein und doch umgeben von Fremden. Die Einsamkeit, die sie empfand, als sie in der Ecke des Flughafens saß und in die Nacht herausstarrte, in der Hoffnung, dass möglichst wenige Menschen Notiz von ihr nahmen, war wohl eine Wunschvorstellung.
Als weißes weinendes Mädchen umgeben von Schwarzen nachts um zwei am Flughafen in Addis abeba hätte sie auch nicht mehr auffallen können, wenn sie sich einen pinken Flamingohut auf den Kopf gesetzt hätte und in der Mitte der Halle einen Volkstanz aufgeführt hätte.
Irgendwann gingen ihr die Taschentücher aus und sie musste mehr oder weniger gezwungenermaßen auf die Toilette Nachschub holen. Sie überlegte kurz, ob es der Ärmel nicht auch tuen würde, besann sich aber eines Besseren. "Ich falle wirklich schon genug auf", dachte sie.
Auf dem Weg zur Toilette schaute sie möglichst nach unten, um ihr verschmiertes Make up zu verdecken. Auch auf der Damentoilette war der Teufel los. Sie bahnte sich den Weg durch die Menge und zog die Aufmerksamkeit einer kleinen, etwas untersetzten und um die achzig Jahre alten Inderin auf sich, die sie neugierig von der Seite beobachtete.
Sie näherte sich dem Mädchen und schaute sie an - sie sah sie einfach nur an. Das Mädchen schaute zurück und blickte in das Gesicht der Frau. Sie sah ihre Falten, ihre bräunliche Haut, ihren Dutt aus grauen Haaren, der sich allmählich auflöste und sah ihr in die Augen. Stille. Die alte Dame legte dem Mädchen die Hand auf die Schulter und nickte einfach nur, als ob sie verstanden hätte, dass das Mädchen nicht reden wollte, nicht reden konnte. Aber in ihrem Blick lag pures Mitgefühl. Als sie so reglos dastanden und das Mädchen entgegen ihrer Natur kein Befremden, sondern das erste Mal an diesem Tage so etwas wie Frieden fand, nahm die Frau auch schon wieder ihre Hand vom Mädchen der Schulter und ging davon.
Zurück blieb das Mädchen und sie schaute der Inderin noch eine Weile nach. Begegnungen - die kleinen Gesten des Alltäglichen, die Nichtigkeiten, die zu Wichtigkeiten werden. Manchmal spenden sie Trost. Das Mädchen kehrte zurück zu ihrem Platz zurück und starrte in die Nacht. Sie dachte an den Heimweg, sie dachte an ihr Zuhause und sie dachte an die Begegnung mit der Inderin und diese Gedanken spendeten ihr Trost.