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04.05.2020
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Besuch

An ein erstes Treffen kann ich mich gar nicht erinnern, denn irgendwann war er einfach da. Er hat sich auch nie richtig vorgestellt. In meiner Kindheit hat er meist einfach nur neben mir gesessen und seine schwere Hand auf meine kleine Schulter gelegt. Auch jetzt im Erwachsenenalter steht er oft neben mir, wenn ich zum Beispiel auf einer Party tanze oder bei einem Familientreffen Kuchen esse. Phasenweise ist er täglich bei mir und begleitet jeden meiner Schritte. Und dann gibt es solche Tage wie heute, wenn es draußen dunkel und innerlich laut wird. Es gibt auch Zeiten, in denen ich ihn kaum zu Gesicht bekomme. Immer wieder ärgere ich mich über seine freche Art sich geräuschlos anzuschleichen. Ich begrüße ihn mit den Worten: „Warum bist du hier? Es macht mich immer traurig dich zu sehen. Ich will das nicht.“ „Wir kennen uns doch jetzt schon so lange und du weißt es ist wichtig, dass wir uns sehen.“, sagt er mit einem aufmunternden Lächeln. Mir ist bewusst, dass ich dieses Treffen nicht vermeiden kann. Meistens bleibt er solange bis ich Zeit mit ihm verbracht habe, denn er mag es nicht ignoriert zu werden. Ich biete ihm also einen Platz auf meiner Couch an und bereite dann einen Tee für uns zu, während sich meine Augen mit einem wässrigen Gemisch aus Trauer und Wut füllen. Wir fangen an uns zu unterhalten. Über die großen Themen natürlich, denn mit ihm gibt es keinen Small-Talk. Wir sprechen über meine Familie, die Arbeit, Freunde, meinen Klinikaufenthalt und besonders über meinen Ex-Freund. Die Trennung ist einer der Gründe warum er in letzter Zeit häufiger auf der Matte steht. Ich komme ins Nachdenken und spüre wieder diese Sehnsucht nach Sinn, tiefen Beziehungen und Halt. Vielleicht sollte ich meinem Vater heute Abend noch eine Nachricht schreiben, ihm sagen, dass ich ihn vermisse. Und dann lasse ich es zu, dass er mich umarmt und einhüllt. Für einen kurzen Moment fühle ich mich getröstet in seiner Gegenwart und verstehe wieder ein wenig mehr die Bedeutung seines Erscheinens. Mein Handy klingelt. „Hey, ich wollte einfach mal hören wie es dir geht, weil ich seit zwei Tagen keine Nachricht von dir bekommen habe“, höre ich auf der anderen Seite die Stimmte meiner besten Freundin. Ich blicke mich um und sehe wie er zur Tür schleicht, genauso lautlos wie er gekommen ist. Er dreht sich kurz um und schenkt mir wieder sein typisches Lächeln und dann ist er weg. Ich bezweifle, dass Einsamkeit und ich jemals beste Freunde werden aber vielleicht und nur vielleicht schaffe ich es ihn irgendwann mit einem wissenden Schmunzeln zu begrüßen. „Ich bin so froh, dass du anrufst!“, hauche ich ins Telefon während mein Blick zum Couchtisch mit der halbleeren Teetasse wandert.

 

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