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Bildung für alle
“Du musst mir helfen”, überfiel ich meinen großen Bruder Michael. Diesmal steckte ich echt in der Scheiße, aber er war Doktor, ein gelehrter Mensch, der immer einen Rat wusste. Gerade saß er an seinem Computer.
“Ich arbeite.”
“Es ist aber wichtig. Sylvia wurde zu einer Party eingeladen. Von ihrem Professor. Alleine fühlt sie sich unsicher, deshalb soll ich mitkommen.”
“Sylvia? Ist das nicht die Kichererbse mit den ...” Er wölbte die Hände vor der Brust, sein Computerhirn hatte die Lage analysiert. Sylvia war die kleine Blonde mit dem Pferdeschwanz; ihr Lachen war sehr charmant, aber sie studierte auch – Germanistik – und hatte mächtig was auf dem Kasten.
“Michael, ich habe keine Komplexe und wenn mich jemand fragt, kann ich ihm meine Meinung sagen. Aber das sind alles Universitätsleute, Wissenschaftler eben - wie soll ich da mitreden?”
“Sag, du wärst krank, und geh nicht hin.”
“Unmöglich – dann geht sie mit Sven, diesem Anwaltssohn, der an der Uni immer ihre Bücher trägt. Eher sterbe ich, als sie einen Abend diesem Angeber zu überlassen.”
“Aber du brauchst eine Kenntnis der philosophischen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge”, sagte Michael. “Es hilft dir in solchen Kreisen wenig, lediglich die Tageszeitung zu lesen.”
“Nein”, sagte ich erleichtert, denn ich las keine Zeitung mehr, seit es ntv gab.
“Ein gewisses Fundament muss vorhanden sein: Aristoteles, Einstein, Bismarck, von Aquin, Marx, Kierkegaard, Platon, vd Makroökonomie, Rembrandt, Michaelangelo, NATO, Goethe, Schiller, Dostojewski ... soll ich dir etwas zu trinken bringen?”
Ich hatte mich auf sein Bett sinken lassen, mir schwindelte. “Das lerne ich nie, die Party ist morgen. Vielleicht sollte ich ihm ein Gesichtslifting verpassen?”
“Gewalt hilft nicht, sein Vater würde dich verklagen. Aber da es um die Familienehre geht, werde ich dir einen kleinen Trick verraten. Zwischen dir und der intellektuellen Oberschicht gibt es eine Grenze, die vielleicht unüberwindbar erscheint. Sie wird gebildet von der Sprache.” Er ließ die Maus über den Bildschirm gleiten, der Drucker surrte, und wenige Augenblicke später hielt ich einige Zettel in der Hand.
Ich versuchte zu lesen. “Was soll ich mit diesem Kauderwelsch?”
“Auswendig lernen.”
Sylvia holte mich ab. Sie trug ein schwarzes Kleid, das ihre zierliche Figur betonte, und lächelte mich an wie ein Engel. Gemeinsam fuhren wir zur Party. Ihr Professor öffnete uns und er sah gar nicht aus, wie ich mir einen Professor vorgestellt hatte: Er trug zwei farblich nicht zusammenpassenden Anzugteile, hatte einen Rauschebart und eine Hühnerbrust – bis jetzt hatte ich diese Bild immer für ein Klischee gehalten. Im Hintergrund lief Jazz und die Anwesenden standen in kleinen Gruppen zusammen.
In der ersten Stunde hielt ich mich zurück, trank ein Glas Wein, aß ein paar Erdnüsse und spülte diese mit etwas Wein hinunter. In den Diskussionen versteckte ich mich hinter Sylvia. Ihr tiefer Ausschnitt fing die meisten Blicke ab; wenn angesprochen, setzte sie ihr bezauberndes Lächeln auf und nickte verständnisvoll, bei ranghöheren Personen ließ sie ein gehauchtes ‘Ja’ einfließen. Doch irgendwann kommt für jeden die Stunde der Wahrheit.
“Und was meinen Sie dazu?”, sagte jemand in meine Richtung. Ich zuckte unmerklich. Ausgerechnete der Professor, dessen bis dahin gemütliches Lächeln nun etwas Lauerndes zu verbergen schien. Wir diskutierten gerade die Reform des Arbeitsmarktes unter Berücksichtigung des Wertewandels in der Postmoderne. Fieberhaft blätterte ich in meinem Gedächtnis und blieb hängen bei Standardantwort 3, Kapitel II: Meinungen, politische.
Ich sah ihm tief in die Augen. “Eine solche komplexe Thematik muss man differenziert betrachten. Allgemeingültige Dogmen gibt es nicht, denn einfache Lösungsvorschläge halten selten, was sie versprechen.”
Der Professor nickte. “Ausgezeichnet, junger Mann, genau das predige ich schon seit Jahren. Man könnte meinen, Sie hätten meine Arbeiten gelesen.”
Sylvia betrachtete mich mit offenem Mund. Mich aber packte das Jagdfieber. Ich wanderte umher und kam neben einem Mann mit schütterem Haar zum Stehen, der laut Sylvia ein Germanist war. Er war mit den Umstehenden in eine aufgeregte Diskussion verwickelt, die ich kurzerhand sprengte und ihn damit konfrontierte, die Klassentheorie Marx’ dürfe keineswegs auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. Nach einigen Sekunden bemerkte er anerkennend, dies sei ein hoch interessanter Einwand, vor allem unter dem Aspekt der unverschämt hohen Transfersummen im Fußball, der soeben diskutiert worden war.
Doch schon wenig später erlitt ich einen Rückschlag, als ich einen Satz unseres großen Denkers Heidegger zum besten geben wollte: “Das Wesen eines real Seienden ist das Sosein der Idee dieses Seienden.” Es gelang mir nicht, diesen tiefsinnigen Gedanken zu Ende zu bringen. Irgendwo in der Mitte verhaspelte sich meine Zunge und ich musste einen Hustenanfall vortäuschen um nicht in den Verdacht fehlender Artikulationsfähigkeit zu kommen.
Ausgezeichnete Wirkung dagegen erzielte ich mit Standardbemerkung 4, welche mir wegen ihrer Schlichtheit gut über die Lippen kam. Dreimal hintereinander setzte ich sie in verschiedenen Diskussionen ein: “Die Ereignisse der Vergangenheit dürfen für uns, und gerade für uns, niemals in Vergessenheit geraten.” Nach dem zweiten Einsatz konnte ich den Effekt noch steigern, indem ich bei ‘und gerade für uns’ eine Schweigesekunde einlegte. Alle betrachteten an dieser Stelle ihre Schuhspitzen, ausgenommen ein Gast irgendwo aus Haifa.
Sylvia hatte sich bei mir eingehakt, und wenn ich sprach, legte sie seufzend ihr Köpfchen an meine Schulter. Ich schwebte wie auf Wolken, getragen von den Schwingen geistiger Überlegenheit, als mich das Unheil überfiel.
Es kam in Gestalt einer eloquenten Brünetten, einer schlanke Frau mit kurzen braunen Haaren, der ich gerade meine Aufmerksamkeit widmete. Sie redete über die Aufhebung des traditionellen Rollenverständnisses in demokratischen Gesellschaften, den sie jäh unterbrach und an mich die Frage richtete: “Wie stark, denken Sie, sind die Strukturen in unserer Gesellschaft noch patriarchalisch geprägt?”
Ich erstarrte.
“Von Männern dominiert?”, wiederholte sie langsam, als sei ich ein Kretin. Dabei hatte ich nur einen Moment nicht hingehört, ich hatte mir vorgestellt, sie hielte ihren Vortrag nackt. Das war nicht abwertend gemeint, ich mache das bei allen Frauen.
Wie sie mich anstarrte ... mir wurde heiß, ich lockerte meinen Kragen, aber mein Kopf blieb leer. Wo waren sie hin, all die schönen Fremdwörter?
“Nun ja”, lächelte ich und drückte Sylvia an mich, “ich denke, Männer sind Männer und Frauen sind Frauen, was auch schon von der Biologie bewiesen wurde. Aber das hat auch Vorteile, hehehe ...”
Eisiges Schweigen senkte sich über die Runde. Die Brünette streifte mit den Augen Sylvias Ausschnitt und lächelte kühl. Hatte ich einen Fehler gemacht?
“Chauvinistisches Schwein!”, zischte Sylvia mit hochrotem Kopf und rauschte davon. Sollte sie doch, sie war meinem Niveau sowieso nicht mehr angemessen.
Ich versuchte mich wieder am Gespräch zu beteiligen, aber niemand beachtete mich. Man drehte mir den Rücken zu, überhörte meine Bemerkungen, sah durch mich hindurch. Ich war ein Paria, ausgestoßen wegen geistiger Lepra.
Ich verließ die Party und ging in die nächste Kneipe, ein geschlagener Mann. Die geistige Elite wird die Probleme unserer Gesellschaft ohne mich lösen.