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Blechfluten

Beitritt
10.11.2001
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9

Blechfluten

Es ist ein Morgen wie jeder andere auch. Das Lichtermeer der Automassen schafft es nicht, den Himmel zu erhellen.
Wie an allen anderen Tagen auch, steht ein Mann am Rande der Brücke.
Er sprintet los; die erste Fahrbahn, die zweite und dann auf die Insel mitten auf der Strasse.
Er bleibt stehen, mitten im tosenden Meer von Autos; Abgase strömen ihm ins Gesicht. Der graue, verhangene Himmel öffnet seine Schleusen und schüttet schweren, kalten Regen aus.
Immer noch auf der Insel stehend, jetzt jedoch schon total durchnässt, erblickt er die andere Seite der Strasse.
Völlig zermürbt rennt er weiter.
Auf der zweiten Fahrbahn bleibt er stehen, wie versteinert starrt er auf die Pfützen am Boden. Er hat plötzlich eine grosse Leere im Kopf.
Hupend und mit quietschenden Reifen kommt ein Auto näher; der Mann wird von der Flut geradezu verschluckt.
Die Windschutzscheibe klirrt und der Mann landet auf der Motorhaube; Blut läuft auf den Boden und vermischt sich mit dem Regenwasser.
Halb weggetreten nimmt er die hektischen Leute und die hysterisch kreischenden Frauenstimmen um ihm herum wahr, sie scheinen jedoch in eine weite Ferne gerückt zu sein.

Der grauschwarze Himmel ist verschwunden, wie durch einen Tunnel bewegt er sich langsam von allem weg, nur von weitem hört er noch ein schwaches Sirenengeräusch.
Es wird immer wärmer, wie mit einem warmen Strom wird er an das rettende Ufer getrieben; die Schmerzen in seinen gebrochenen Extremitäten verklingen.
Mit einem wohligen Gefühl im Bauch befindet er sich nun in einer von der Sonne erhellten Weite. Frei wie ein Vogel gleitet er schwerelos über der Erde. Doch alles ist irgendwie anders als sonst. Dort, wo sonst die grauen Wolkenkratzer der Stadt stehen, ist nun die freie Natur, alles blüht und riecht frisch. Das Leben ist nur noch so gross wie ein grauer Punkt am wolkenlosen Sommerhimmel.
In seinen Alpträumen, welche er seit Jahren praktisch jede Nacht hatte, fiel er jeweils vom Himmel auf einen glühenden Vulkan zu. Er bekam darauf das Gefühl, er würde innerlich verbrennen und direkt in die Hölle rasen, bis er dann schweissgebadet und unter Todesangst aufwachte, Blitze draussen zucken sah und sich nach stressfreien Ferien sehnte.

Das Gefühl, das er jetzt hat, ist viel besser als in seinen Urlauben zuvor. Keine ewigen Gedanken an den Arbeitsstress, keine Geldnöte, nichts mehr. Für zwei Wochen Urlaub musste er jeweils mehrere Jahre arbeiten.
Alle seine eigenen Probleme und diejenigen der Menschheit sieht er jetzt aus einer grossen Ferne. Er ist völlig losgelöst von der Erde. Die beschwerliche Erdanziehungskraft, wegen der er das ganze Leben lang seinen Körper herumschleppen musste, ist wie weggeblasen.

Doch da rückt plötzlich der graue Punkt wieder in sein Blickfeld. Der Mann versucht wegzuschauen, die Realität nicht in sein Herz zu lassen. Bedrohend kommt der Punkt jedoch immer näher; er vergrössert sich zu einem Kreis.
Die freie Natur unter ihm ist verschwunden.
Der Vulkan aus seinen Träumen erscheint unter ihm; unter Todesangst rast er ihm entgegen. "Oh Gott, lass mich bitte Leben.", schreit er. Er fällt schneller, immer schneller. Auf seinem Körper bilden sich Wunden; Blut spritzt hinaus.
Unter höllischen Qualen taucht er in die glühenden Fluten ein; er schlägt irgendwo auf.
Das Erste, das er wahrnimmt, sind die Abgase.

 

Hat mir gut gefallen.
Schön geschrieben und ein fast überraschender Schluss.

 

Schließe mich uffmucker an: Die Geschichte ist gut. Mir hat die Erzählweise sehr gefallen, Bildsprache, poetisch, aber ohne Pathos.

 

Sehr gut durchkonstruierte Geschichte.
Die Stimmungen hasst du sehr gut in Worte gefasst. Den ganzen Text wird durch eine Wassermethaphorik durchzogen, ohne dabei wässerig zu erscheinen. Dass muss mal jemand nachmachen!! :D :D :eek:

 

Genau so! Hier hatte der Autor von Anfang an ein Ziel und hat es im Verlauf des Textes und durch den Verlauf des Textes konsequent verfolgt. Gut gemacht, saubere Arbeit!

San

 

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