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Bloß Kleinigkeiten
Als „Kumpel“ sollte er Kevin bezeichnen. „Freunde“, so was sagten coole Jungs doch nicht. Und cool waren sie ja wohl!
Tobi war es ziemlich egal, ob er Kevin nun als Freund oder Kumpel bezeichnete. Viel wichtiger war, dass er endlich jemanden gefunden hatte, mit dem er endlose öde Nachmittage verbringen konnte, während seine Mutter im Altenheim arbeitete. Anstatt auf ihre Rückkehr zu warten, konnte er nun mit Kevin „durch die Gegend ziehen“, wie dieser es nannte. Tobis Mutter hatte sowieso immer nur etwas zu nörgeln, und Hausaufgaben kontrollieren, das konnte sie schließlich auch abends noch tun. Seiner Meinung nach war er mit 13 Jahren auch zu alt für solchen Kram. Was würde Kevin bloß dazu sagen, wenn er erführe, dass Tobi seine Hausaufgaben jeden Abend seiner Mutter vorlegen musste und sogar mal „Wohnungsarrest“ bekam, wenn diese nicht ordentlich und richtig waren.
Kevin hatte für solche Sachen nichts übrig. Er war eindeutig der coolste Junge in Tobis Klasse. Schließlich war er schon 16 Jahre alt. Tobi hatte letzte Woche mitbekommen, wie Kevin von einem seiner Mitschüler gefragt worden war, warum er denn mit 16 noch die siebte Klasse besuchte. Daraufhin hatte Kevin nur abfällig geantwortet: "Es ist doch bloß Schule. Da hab ich wirklich besseres zu tun". Das hatte Tobi sehr beeindruckt.
Und Kevin rauchte. Das war nun wirklich beeindruckend. Klar rauchten auch einige Jungs und Mädchen aus seiner Klasse und das auch schon seit er sie im fünften Schuljahr kennen gelernt hatte. Aber bei denen wirkte es … irgendwie unecht und falsch. Ganz anders bei Kevin: Wie er die Rauchwolken langsam aus seinem Mund oder seiner Nase entweichen ließ und wie der aufsteigende graue Nebel um seinen Kopf tanzte, bevor er sich auflöste. Für Tobi war das ein faszinierender Anblick. Wie so vieles an Kevin. Wenn er in der Mathestunde auf seinem Stuhl kippelte, die übereinander geschlagenen Beine lässig auf den Tisch gelegt, und desinteressiert aus dem Fenster schaute. Wenn er provozierende oder gar keine Antworten auf Fragen der Lehrer gab. Wenn er in den Pausen bei den „Großen“ stand oder, verbotener Weise, einfach den Schulhof verließ.
Auch jetzt konnte Tobi nicht anders als bewundernd zu Kevin aufzuschauen. Sie standen in der Schreibwarenabteilung des großen Kaufhauses der Stadt. Kevin schien immer der Herr der Lage zu sein. So auch jetzt. So jemanden hätte sich Tobi als großen Bruder gewünscht. Oder noch besser als Vater: Jemanden, zu dem er Vertrauen haben konnte, jemand der stark war.
Kevin langte lässig ins Regal zu seiner linken und nahm zwei Textmarker heraus, die er in dieTasche seiner Jeansjacke wandern ließ. Er ging einige Schritte weiter, griff wieder ins Regal und diesmal wanderten Kugelschreiberminen in seine Jacke. Tobi traute seinen Augen kaum und starrte Kevin mit offenem Mund an. Hastig drehte er sich im Gang um und blickte verängstigt in alle Richtungen.
„Was biste denn so ängstlich?“ Kevin schaute seinen jüngeren Freund ein wenig von oben herab und vorwurfsvoll an. „Wir nehmen uns hier doch bloß paar Kleinigkeiten weg. Denen tun wir damit nich’ weh“, damit nickte er in eine beliebige Richtung. Er meinte wohl die Leute, die im Kaufhaus arbeiteten.
„Und jetzt du!“ Kevins Worte trafen den Jungen wie ein Hammer, den ihm jemand in den Magen rammte. Kevin schien seine Beunruhigung und Angst zu bemerken, denn er fügte noch hinzu: „Na los, mach schon! Wir sind doch Kumpels. Und die tuen so was nun mal für’nander. Du bist doch mein Kumpel oder nich’? Oder haste etwa Angst?“
Zuzugeben, dass er Angst hatte, war für Tobi eine noch viel peinlichere Sache als Kevin zu erzählen, dass seine Mutter jeden Tag seine Hausaufgaben kontrollierte. Aber dennoch, Angst hatte er. Erst einmal natürlich davor erwischt zu werden. Hier gab es doch sicherlich Videokameras. Und Kaufhausdetektive. Und …
„Erwischt dich schon keiner. Bin doch auch noch bei dir. Und wenn schon, passiert dir doch eh nix.“
Kevins Worte vermochten Tobi nur wenig zu beruhigen. Wenn seine Mutter davon erführe! Was würde sie für einen Aufstand machen. Das gab nicht nur einen Tag Wohnungsarrest. Außerdem wollte er sie nicht enttäuschen. Sie arbeitete sehr hart, um die kleine Wohnung und Tobis Kleidung sowie Schulsachen finanzieren zu können. Sie arbeitete schon hart, so lang sich der Junge erinnern konnte. Was würde sie nur von ihrem Sohn denken, wenn er von zwei uniformierten Polizisten an der Haustür abgesetzt wurde. Andererseits…
„Okay, dann eben nicht. Dacht’ wir wär’n Kumpels, aber da hab ich mich wohl in dir getäuscht. Du bis’ genauso langweilig wie all die anderen Pimpfe in der Klasse“, meinte Kevin, zuckte abfällig mit den Schultern und ging den Gang zurück, in dem sie gestanden hatten.
Tobi wollte aufschreien. Nein! Kevin durfte nicht gehen! Dann würde er vielleicht nie wieder mit ihm sprechen. Er wäre wieder jeden Nachmittag alleine, würde in der Wohnung auf seine Mutter warten und sich nach den Hausaufgaben langweilen, denn andere Freunde hatte er doch nicht. Vor seinem neuen überaus coolen Kumpel Kevin, den er so bewunderte, durfte er doch nicht als Feigling da stehen. Ihn durfte er doch nicht verlieren. Tobi fühlte sich hin und her gerissen. Was sollte er nur tun?
„Ich mach’s!“ hörte er sich sagen. Seine Stimme klang rau und fremd und von weit her, gar nicht mehr wie seine eigene.
Kevin zögerte, drehte sich schließlich um. Auf seinem Gesicht lag ein breites Grinsen.
“Ich wusste, dass’de’n feiner Kumpel bist. Dauert doch auch bloß paar Minuten, dann sin’wa hier raus.“
Tobi atmete schwer. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Angespannt starrte er auf die Radiergummis im Regal, neben den Anspitzern. Einen davon fixierte er mit seinem Blick. Unruhig sah er sich um, aber niemand war außer ihnen beiden in diesem Gang. Sein Blick fiel auf Kevin. Erwartungsvoll stand er da, sein Gesichtsausdruck hatte etwas Drängendes, zugleich auch irgendeine Art von Stolz, die Tobi nicht einzuordnen vermochte. Erst dachte er daran, Kevin zu fragen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war, doch er wollte sich vor ihm nicht noch mehr blamieren. Hastig griff er ins Fach mit den grauweißen Rechtecken. Einige purzelten durcheinander, doch eines hatte er fest in der Hand, die er nun eilig in seine Jackentasche wandern ließ. Kevin nahm ihn am Ärmel und zog ihn mit sich den Gang hinunter. Erst jetzt merkte Tobi, dass er die Luft angehalten hatte. Schwerfällig atmete er aus.
„Siehste, das war doch bloß ne Kleinigkeit.“ Kevin steuerte auf den Ausgang zu. Tobi fühlte sich verfolgt. Er hatte das Gefühl, dass alle Leute ihn verächtlich anstarrten. Aber das war natürlich Quatsch. Niemand schaute zu ihnen, als sie in Richtung der großen Flügeltüren gingen, welche in Tobis Augen die vorläufige Freiheit bedeuteten.
Doch dann geschah etwas, was dem Jungen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Vor dem Kaufhaus stand ein Polizeiwagen, dessen Blaulichter pulsierend aufleuchtete. Zwei Polizisten marschierten mit eiligen Schritten auf ihn und Kevin zu. Tobis Atem stockte. Sein Herz schien auszusetzen, dann wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Auch Kevin hatte die Polizisten bemerkt. Er war allerdings nicht so versteinert wie Tobi. Rasend drehte er sich um und rannte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Doch die Polizisten hatten vorgesorgt. Kevin sprang nämlich geradezu in die Arme eines Polizisten, der hinter ihnen aus einem Gang trat.
„Haben wir dich!“ rief der Polizist, der Kevin am Jackenkragen und am rechten Arm gepackt hatte. Die anderen sechs Polizisten traten hinzu und verdeckten Tobi teilweise die Sicht auf Kevin.
„Du bist festgenommen. Wegen des Einbruches in der Thomasstraße vor drei Tagen. Für wie klug du dich auch halten magst, Bürschchen, diesmal hat es nicht gereicht uns auszutricksen."
Tobi traute seinen Ohren kaum. Immer noch stand er wie erstarrt da und wagte kaum zu atmen. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass einer der Polizisten auch ihn packen würde. Stattdessen kümmerten diese sich nur um Kevin. Auf dessen Gesicht konnte Tobi nun einen Blick werfen. Das Gesicht seines Kumpels war schmerzverzerrt und er schaute eben so wütend wie resigniert drein. Seinen Kumpel beachtete er gar nicht.
Tobis Hand glitt in seine Jackentasche. Der gestohlene Radiergummi fühlte sich kalt und feucht an. Der Junge schwitzte. In Gedanken sah er das erzürnte Gesicht seiner Mutter vor sich, als sie die Wohnungstür öffnete, während er von zwei Polizisten am Kragen gehalten wurde.
Zwanghaft gelassen bewegte Tobi sich auf die großen Flügeltüren zu. Der Ausgang!
„Hey du!“ hörte er einen der Polizisten rufen. Doch er kümmerte sich nicht darum, drehte sich kein Stück herum. Als er durch die Türen hinaus war und auf der Straße stand, rannte er los.
Er rannte so weit er konnte. Erst als er die Tür zur Wohnung, in der er mit seiner Mutter lebte hinter sich geschlossen hatte, gestatte er sich, wieder zu Atem zu kommen.
Kevin war ein Einbrecher. Dieser Erkenntnis lastete noch schwer auf ihm.
„Tobias?“ Der Junge zuckte zusammen, als er die Stimme seiner Mutter hörte. Sie war heute scheinbar schon früher von der Arbeit im Altenheim zurückgekehrt.
Tobis Mutter trat aus der Küche und kam auf ihn zu.
„Was ist denn mit dir los? Du siehst ja ganz verschreckt aus. Und so zerzaust. Bist du gerannt?“ Seine Mutter strich ihm durchs Haar, was Tobi gar nicht gern hatte, aber heute tat diese Berührung gut. Sie nahm ihm die Jacke ab.
„Ich… habe draußen gespielt“, log der Junge. „Und ich bin gerannt, weil ich doch noch die Hausaufgaben machen wollte, bevor du wieder zu Hause bist.“ Ein wenig schämte er sich für seine Lüge. Doch er wollte und konnte seiner Mutter unmöglich die Wahrheit erzählen. Es hätte sie nur wütend gemacht. Und das wahrscheinlich auch noch unnötig, denn Kevin hatte er vor seiner Mutter eh noch nie erwähnt.
Tobis Mutter lachte. Es war ein warmes, herzliches Lachen.
„Na, so sehr hättest du dich da aber auch nicht beeilen brauchen. Ich habe heute schon früher Schluss gehabt. Dann komm mal mit in die Küche. Dort wartet Essen auf dich und danach machen wir deine Hausaufgaben gemeinsam. Was hältst du davon?“
„Hört sich toll an“, meinte Tobi, während sich die Hand um den gestohlenen Radiergummi fest schloss. Und diesmal hatte er sie nicht angelogen.