Bordsteinzähler
Sehnsucht. Solch eine Sehnsucht. Solch eine Sehnsucht nach diesem einmaligen Gefühl, für das die Welt noch keine Worte gefunden hat. Bis heute nicht. Und sie würde es auch niemals tun, da dieses Gefühl in der Gesellschaft ein absolutes Tabu war, dachte er. Er brauchte das. Immer öfter. Es befriedigte ihn ungemein. So ungemein, dass er diese tiefe Befriedigung immer wieder spüren wollte, süchtig danach wurde im Laufe der Jahre. Manchmal war er klar. Absolut klar. Doch immer öfter gelangte er in diesen Zustand absoluter Zufriedenheit. In den Zustand des Bösen, wie sie es nannten.
Mitchell Adams war ein äußerst attraktiver Mann Ende vierzig. Gut gebaut, schlank, kurze, schwarze Haare. Immer zurecht gegeelt und nach hinten gekämmt. Mitchell ging so gut wie nie ohne Anzug aus dem Haus. Er sah aus wie ein erfolgreicher Geschäftsmann, der auf der Durchreise war – eitel und ein wenig abgehoben. Diesen Eindruck machte Mitchell auf die meisten der Leute, welche ihn auf der Straße sahen. Mitchell liebte es, mit den Vorurteilen der Leute zu spielen, sie hinters Licht zu führen und einen Eindruck zu erwecken, welcher ein so anderes Bild von ihm zeichnete, als sein eigenes Empfinden. Mitchell hatte den ganzen Tag über Zeit, ging seit ein paar Jahren nicht mehr arbeiten. Zu viel Freude bereitete ihm seine abartige Sehnsucht. Er liebte das Leben mit all seinen Facetten. Er war ein Täuscher vor dem Herren. Mitchell, der erfolgreiche Geschäftsmann, der jede Frau auf Händen tragen würde. Die meisten glaubten ihm das.
In dieser Nacht machte sich Mitchell auf den Weg. Er ging die Straße entlang, die er am liebsten hatte. Eine einsame Seitenstraße mitten in der Großstadt. Dunkel und wenig befahren. Umso mehr Leute torkelten nachts durch diese Straße, meist auf dem Weg nach Hause von etwaigen Partys in der Umgebung. Mitchell war seit mehreren Stunden in seinem geliebten Zustand. Er zählte die kleinen Pflastersteine unter seinen Füßen. Stück für Stück. Von ganz links nach ganz rechts. Manchmal zählte er auch einige Flecken am Rande des Bürgersteigs dazu, welche wie Pflastersteine aussahen. Es machte ihn wahnsinnig, wenn er sich nicht genau entscheiden konnte, ob es sich bei einem Fleck um einen weiteren kleinen Pflasterstein handelte oder nicht. Ob dieser dazuzählte oder nicht. Mitchell ging diese Straße bereits hunderte Male ab. Meist kam er auf knapp über 2000 Pflastersteine, manchmal etwas weniger. Er liebte den Geruch der Nacht. Er liebte es, wenn der Mond in seiner vollen Pracht über der Stadt hing und sein fahles Licht auf die Welt scheinen ließ. Mitchell war ein Genießer. Er konnte nicht anders als auf der Stelle stehen zu bleiben. Jede Nacht, in der er unterwegs war, immer um Punkt 2:22 Uhr und 22 Sekunden. Er blieb auf der Stelle stehen, egal wo er sich um diese Zeit befand. Es war seine innere Eingebung, die ihm sagte, dass er dies zu tun habe, koste es was es wolle. Und sei es sein eigenes Leben. Mitchell genoss es, sich selbst Befehle zu erteilen und noch mehr genoss er es, Macht auszuüben. Auch über sich selbst, indem er sich Belohnungen für manche Taten ausdachte und Bestrafungen für Dinge, die ihm nicht so gut gelungen waren. Nicht selten schlug er dutzende Male mit seinem Kopf gegen Laternenpfähle oder parkende Autos. Manchmal bis zur Bewusstlosigkeit. Er war wie in einem Rausch in diesem Zustand, seinem Zustand, der so oft diese tiefe Zufriedenheit zur Folge hatte, die kein Mensch sonst jemals nachempfinden könnte.
Gerade eine Woche war es her, da ging Mitchell wieder auf die Suche nach seiner persönlichen Ekstase. Wieder ging er nachts durch seine Lieblingsstraße und schlenderte so langsam, dass er auch ja keinen einzigen Stein ausließ. Wieder passierte stundenlang nichts. Bis gegen drei Uhr ein Ehepaar in ca. 100 Metern Entfernung auftauchte, das sich nach einer scheinbar langen Nacht auf dem Nachhauseweg befand. Als Mitchell die beiden erblickte, erstarrte er für einen kurzen Moment. Adrenalin schoss in Sekundenschnelle in seinen Kopf. Es schien, als würde er vor Freude förmlich zerspringen. Mitchell liebte dieses Gefühl, denn er wusste, dass er gleich einen seiner schönsten Momente erleben würde.
„Wie damals, oder?“, schmachtete Eliza ihren Mann, mit dem sie nun seit bereits 15 Jahren verheiratet war, liebevoll an. Der Theaterbesuch in dem Theater, in welchem sie sich damals kennengelernt hatten, war ein voller Erfolg. Glücksgefühle durchzogen Elizas Körper und sie war überglücklich, den richtigen Mann an ihrer Seite gefunden zu haben, den Mann ihres Lebens, welchen sie früher so sehr gesucht hatte und welchen sie damals schon so gebraucht hätte nach dem Tod ihrer Eltern. Umso glücklicher war sie, dass sie seit nun schon 15 Jahren die richtige Entscheidung getroffen und George an ihrer Seite hatte. „Genau wie damals, meine Süße!“, hauchte George ihr liebevoll ins Ohr. George war zwar etwas angeschwipst von dem kleinen Umtrunk im Anschluss an die fantastische Aufführung des „Balkan-Quartetts“, einer Tanzgruppe, die sie beide liebten. Dennoch war er vollkommen klaren Verstandes und liebte es heute noch, mit seiner Frau durch die Häuser zu ziehen, was seiner Meinung nach viel zu selten vorkam, nicht zuletzt der Kinder wegen. „Ein Segen des Himmels, deine Schwester!“, fuhr George fort. „Ja das stimmt. Dein Bruder hätte uns den Vogel gezeigt, wenn wir ihn gefragt hätten, mal eben eine Nacht auf unsere Kleinen aufzupassen.“ George wusste, dass Eliza Recht hatte. Das Verhältnis zu seinem Bruder war schon seit Jahren nicht das Beste. Eine Art Hassliebe eben. „Ich habe es so genossen mit dir, mein Engel!“, brach es aus George heraus. „Und ich erst. Georgi, ich liebe dich. Und das nicht erst seit heute. Vergiss das bitte niemals!“ George war so gerührt von den Worten seiner Frau, dass er befand, jedes weitere Wort sei überflüssig. Er wollte sie nur noch küssen. Küssen, wie er es zuvor selten getan hat. Mit einer Emotion, die ihn überfiel, welche seine gesamten Gefühle zu ihr ausdrücken sollte. Als sie beide auf der Stelle stehen blieben und sich ihre tiefen Blicke trafen, geschah es. Ein elender Schmerzensschrei erschütterte die Nacht. Kurz darauf ein Weiterer. Qualvolle Schmerzen durchzuckten ihrer beider Körper. Langsam bahnte sich das Blut der beiden seinen Weg den Bordstein entlang in die Zwischenräume der Pflastersteine. Ihre angsterfüllten, erschrockenen Blicke trafen sich ein letztes Mal, bevor sie beide in sich zusammensackten. George versuchte, seine geliebte Frau zu schützen und umklammerte sie fest, obwohl er die Situation selbst noch nicht einmal im Ansatz überblicken konnte. Noch bevor sie registrierten, was gerade geschehen war, hauchte ein letzter Atemzug und ein Blick voll tiefster Liebe und Seelenverwandtschaft das letzte bisschen Leben aus ihren Leibern.
Mitchell war voller Vorfreude, fast wie ein kleines Kind. Er musste sich ziemlich zusammenreißen, damit er nicht auffiel. In der nächsten Toreinfahrt entlang der Straße versteckte er sich und lauschte dem Gespräch des Paares. Er bemerkte, wie sie immer nährer kamen und er liebte schon jetzt den Klang ihrer beider Schritte. Tipp – tipp…Sie musste hochhackige Schuhe anhaben, anders konnte Mitchell sich diese Geräusche, welche schöner waren als jede Musik, die er bisher in seinem Leben gehört hatte, nicht erklären. Er wiederum trat eher dumpf auf den kalten und leicht feuchten Bürgersteig. So dumpf, dass man es kaum hörte und dennoch nahm Mitchell jeden einzelnen Schritt wahr. Mitchell war besessen davon, er spürte eine ungehaltene Anziehungskraft, welche von den Geräuschen des Paares ausging. Er konnte nicht anders, er wurde förmlich von den Klängen der Schuhsohlen angezogen wie ein Magnet. Mitchell wurde immer besessener von dem Gedanken, die Melodie der beiden gänzlich in sich aufzusaugen und eins mit dieser zu werden. Nichts schöneres, nichts Sinnvolleres konnte er sich mehr vorstellen, als diese unglaubliche Situation nun voll und ganz auszukosten und sich den beiden mit ihren qualvoll schönen Lauten so zu nähern, wie es noch kein einziger Mensch vor ihm je getan hat. Er konnte den Moment kaum noch abwarten. Als die beiden nur einen Steinwurf von ihm entfernt zum Stehen kamen und sich tief in die Augen sahen, war der Zeitpunkt gekommen. Mitchell sprang aus seinem Versteck, zog das silberne Küchenmesser hervor, welches er in seiner Jeans steckend aufbewahrte und bohrte es, ohne ein Wort zu sagen, zuerst ihr von hinten in den Rücken, sodass sie vor Schmerzen aufschrie. Qualvoll gut tat es ihm, dass er ihr so nah kam wie noch nie jemand zuvor und die qualvoll schönen Geräusche der Beiden urplötzlich aufhörten. Nur Zehntelsekunden später zog er das Messer wieder aus ihrem Körper und wiederholte das selbe Spiel, welches ihm mehr gab als nur simple innere Befriedigung, mit ihrem Partner. Sanft drehte er das Messer in seinem Körper noch einmal um seine eigene Achse und wiederholte dieses Szenario einige Male bei beiden, bis sie regungslos da lagen. Langsam ließ Mitchell das Messer aus dem toten Körper gleiten, wie in Zeitlupe, um den Moment gänzlich zu erfassen.Geschafft. Mitchell hatte es geschafft. Endlich. Zutiefst befriedigt und erhaben, über das Schicksal zweier weiterer Menschen entschieden zu haben, zog er von dannen. In seinem Anzug. Mit seiner zurechtgemachten Frisur. Mitchell hatte sein Tagesziel erreicht. Er war zufrieden. Bis zum nächsten Morgen…
Am nächsten Tag wachte Mitchell in seiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung mit heftigen Kopfschmerzen auf. Er hielt sich vor Schmerzen beide Hände an seine Schläfen und versuchte sich an gestern Nacht zu erinnern. Urplötzlich durchzog ein gellender Schmerz seinen Körper. Es war der Schmerz der Erinnerung. Er wusste genau, was er getan hatte, kannte jedes kleinste Detail. Und fühlte sich schuldig. Er fühlte sich schlecht und verbraucht, sackte zusammen und ließ seinen Tränen freien Lauf. Eine ganze Stunde lang. Mitchell erkannte sein wahres Gesicht. Er war ein Monster. Ein schreckliches, blutrünstiges Monster. Was würde wohl als nächstes passieren? Würde er weitere Morde begehen? Würde er gar seine eigene Familie im Rausch umbringen aus Hass, da sie sich schon seit Jahren von ihm abgewandt hatten? All diese Gedanken ließen Mitchell sein Blut in den Adern gefrieren. Er schien völlig hilflos. Zu viel Scham und Schuld lastete auf ihm, um sich im Zustand geistiger Wachheit Hilfe zu suchen. Viel mehr dachte er mehr und mehr daran, dass er das Leben schon lange nicht mehr verdient hatte. Diese eigenen Verurteilungen machte Mitchell zu einem psychischen Wrack. Immer öfter geriet er in seinen eigenen Rauschzustand. Immer geringer wurden die Abstände zwischen abscheulichem Handeln und geistiger Wachheit. Immer tiefer geriet er in die Fänge seines eigenen Ichs. Immer grausamer wurden seine Taten. Und immer stumpfer wurde er selbst in Wahrnehmung und Hemmung. Mitchell Adams, die Ausgeburt des Bösen?
Mitchell ging auch zwei Wochen später die dunklen Seitenstraßen der Stadt entlang. Doch nichts war wie sonst. Alles hatte sich komplett verändert. Mitchell befand sich zum ersten Mal seit einigen Tagen endlich nicht mehr in seinen eigenen Fängen. Er wusste alles. Er kannte alles, was er je getan hatte. Und es fraß ihn förmlich auf. Jedes Detail seiner letzten Tat kam nach und nach wieder hoch. Er sah es wie aus einer anderen Perspektive, einer weitaus Ferneren. Er sah sich selbst wie einen fremden Mann und doch erkannte er haargenau, was er letzten Abend getan hatte. Und dafür hasste er sich. Noch mehr als sonst. Er fühlte sich völlig ausgebrannt. Und schuldig. Schuldig für zwei weitere zerstörte Leben. Was hatte er nur angerichtet? Mitchell überkamen nicht enden wollende Schauer voller Schuld und Sühne, als die Erinnerungen Stück für Stück hervorkamen. Gerade wenige Stunden war es her, da er sich in seinem jämmerlichen Zustand voller Ekstase und Willenlosigkeit befand. Wie konnte er nur so etwas tun. So etwas tut doch kein Mensch. Nein, so etwas tun nur abscheuliche Monster, befand er selbst. Einem Säugling seine Mutter zu nehmen. Mitten auf der Straße. Wo sie doch nur wenige Sekunden im Freien waren, vom Taxi in Richtung eigener Wohnung, so nahm Mitchell an. Doch dieser Moment reichte für ein Monster wie ihn, um zuzuschlagen. Mitchell sah vor seinem geistigen Auge, wie er es genossen hatte, die Mutter qualvoll hinzurichten. Und nur aus Angst, erkannt zu werden, hatte er den Säugling in Ruhe gelassen und sich schnellstmöglich aus dem Staub gemacht. Das war zu viel für Mitchell Adams. Er konnte mit dieser Schuld nicht leben. Und so kam es, dass er den für ihn einzig korrekten Entschluss fasste. Den Entschluss, weitere Menschenleben zu retten und seine eigene gescheiterte Existenz aufzugeben. Er musste es tun. Er hatte es nach eigener Ansicht verdient. Er hasste sich so, wie nie einen anderen Menschen in seinem ganzen Leben zuvor. In all diese Gedanken mischte sich ein dumpfes Ziehen im ganzen Körper, welches er nur periphär wahrnahm. Zu groß war der Schmerz, der all die Erinnerungen an seine vergangenen Jahre und Taten hervorrief, als dass ihm sein letzter Akt noch irgendwie wehtun könnte. Erleichterung mischte sich unter all die Wut auf sich selbst, unter all den Schmerz, als sein eigenes Messer sich langsam seinen Weg durch seine Schläfen hindurch in seinen Körper bahnte.
Mitchell Adams, eine gescheiterte Existenz, die Großes vor hatte. Ein Mensch wie Du und Ich, unscheinbar und doch so unberechenbar. Augenscheinlich kleine Ereignisse in Kindheit, Jugend und Alltag können Großes anrichten. Menschenleben zerstören. Existenzen ruinieren. Die Einen sagen, Mitchell habe seine gerechte Strafe erhalten. Die Anderen sagen, ihm hätte geholfen werden müssen. Letztendlich ist die Frage der Schuld zweitrangig. Mitchell Adams nahm sich selbst das Leben und glaubte, damit Andere zu schützen und seine Schuld nicht mehr ertragen zu müssen. Doch ist es so einfach?