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Boxhagener Platz

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11.07.2021
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Boxhagener Platz

Wladimir „Darf man fragen, wo der Herr die Nacht verbracht hat?“ Estragon „Im Graben.“
Samuel Beckett „Warten auf Godot“

*Macht kaputt was euch kaputt macht Dona Rosita La Soltera Egon und das Achte Weltwunder Die Turnstunde San Quentin Die Ratten Fleisch ist mein Gemüse

„Wahre Freundschaft gibt es bloß auf dem Boxhagener.“ behauptet mein Freund. Vielleicht hat er recht damit. Aber ihm werden dort auch ständig alle Arten von Drogen angeboten. Da sind sie beim einem Gesundheitsapostel wie ihm, der nichts Härteres zu sich nimmt als Pfefferminztee, ja an der richtigen Adresse.

Meine Drei Heiligen Könige aus dem Morgenland, so taufte ich sie, denn es war am Dreikönigstag, als ich die drei Männer abends vor dem Kiezcafe in der Wühlischstraße traf. Während der Kälteperiode übernachteten sie hier, wo ich früher mal gearbeitet hatte. An diesem Wintertag hatte es mich mal wieder hierher gezogen.

Der Dreikönigstag ist mir übrigens erst durch meinen Freund, der aus Kastilien stammt und vier Schwestern hat, die alle Maria heißen, ein Begriff geworden. Am sechsten Januar werden im katholischen Spanien die Geschenke verteilt, nicht wie bei uns am 24. Dezember.
Früher, im religionsabstinenten Osten, hatte ich noch nie etwas von diesem Tag gehört. Ich kannte keine Apostel und kein Nichts und kein Garnichts, was mit Kirche zu tun hatte, da es bei uns keinen Religionsunterricht gab.

Ich verstand mich auf Anhieb mit dem Freundestrio, dass rauchend vor der Tür stand.
Als ich vor einigen Jahren dort eine ABM Stelle hatte, durfte man noch rauchen. Der Raum war so verqualmt, dass ich manchmal Schwierigkeiten hatte, Denjenigen zu finden, der sich ein Essen oder einen Kaffee bestellt hatte.
Alle im Kiezcafe rauchten Kette. Ich war die einzige Nichtraucherin. „Ein Rauchverbot würde keinen Sinn machen.“ meinte unser Chef.

Meistens kochte ich im Kiezcafe. Meine Kochleidenschaft war übrigens durch Liebeskummer ausgelöst worden.
Ich kaufte mir in dem großen Zeitungsladen am Ostbahnhof den Osnabrücker Generalanzeiger und las unter Lokales, dass der Hühnerzüchterverein eine Versammlung gemacht hatte und das sich Biker in einem Dorf in der Nähe von seiner Heimatstadt getroffen hatten.
Ton Steine Scherben liefen damals bei mir in Endlosschleife.
Er, den ich kennengelernt hatte, als er hinter dem Tresen eines Hausbesetzercafes arbeitete, wollte nicht mit mir zusammen „Kaputtmachen was uns Kaputtmacht“. In seinem Zimmer war es so eisekalt gewesen, dass man sich gar nicht traute, einen Zeh unter der Decke hervorzustrecken.

Ich kochte mir meinen Kummer einfach weg und leitete meine verhinderte Leidenschaft in meine Gerichte um. Ich war schon immer der Meinung, dass Kochen etwas Sexuelles ist. Stundenlang stand ich täglich, eingehüllt von Dämpfen, in meiner Küche und brutzelte die raffiniertesten Rezepte.

„Jetzt haben sie das Rauchen total verboten, und die Übernachtung ist nur noch im Winter möglich und nicht mehr das ganze Jahr über, wie es sonst war.“ erzählten mir traurig die drei sympathischen Herren, die ich gerade vor der Tür kennenlernt hatte. „Wir machen uns schon Sorgen was wird, wenn wir im Frühjahr aus dem Kiezcafe ausziehen müssen.

Kommst du noch mit zum Boxhagener Platz?“

Es sind nur ein paar Schritte bis zum Boxi. Das Kiezcafe, das jetzt, 2022, in der Petersburger Straße ist, war zu der Zeit sehr zentral, an an einem sozialen Brennpunkt im ehemaligen Ostteil Berlins, gelegen. Deshalb war es auch immer proppenvoll.

Am Boxhagener hatte ein Spätkaufbetreiber im Nachbarraum von seinem Laden eine Freiluftkneipe eingerichtet. Es gab Stehtische, aber es gab keine Tür. Das erinnerte mich an den Karneval in Wasungen, zu dem ich in der Achtzigern öfter gefahren bin und der ein Treffpunkt der Blueserszene war. Das war immer total genial. Friedlich mischten sich dort die Shellparker mit den Thüringern. Auch da hatte man sich das Kältegefühl weggetrunken.
Leider entwickelte sich in dem engen Nebenraum vom Späti bald eine Schlägerei, und der Besitzer schmiss uns alle raus.

Da standen wir vier wieder auf dem eisekalten, dunklen Boxi und unser Atem gefror vor unseren Mündern zu einer Wolke. Aber trotz des unwirtlichen Wetters, es war Anfang Januar, waren wir nicht allein auf dem Platz. Zwei Männer unterhielten sich mit einer Frau. Der eine der Beiden sagte zu mir: „Mit deiner Baskenmütze und deinen langen Haaren siehst du aus wie die Freundin von Picasso, die ich mal auf einem Foto gesehen habe.“ Ich fühlte mich geschmeichelt.

Die Frau, die bei ihnen stand, erinnerte mich mit ihrer zierlichen Statur, den schwarz-weiß gestreiften Leggins und ihren strohfarbenen Haaren irgendwie an eine Wespe. Szenefrauen haben ja oft mit anderen Frauen nicht viel im Sinn, damit hatte ich mich schon abgefunden, aber ich war ihr wohl irgendwie sympathisch. „Du siehst aus, als wenn du total in Ordnung bist.“ findet sie. „Woran erkennt sie das, und was bedeutet eigentlich „in Ordnung sein“? Ist das nicht ein bißchen schwammig formuliert?“ denke ich.

Sie erzählte mir, dass sie aus Westdeutschland kommt und in Pflegefamilien aufgewachsen ist. Der Mann, der neben ihr stand, kannte sie schon aus der Zeit, als sie noch auf dem Bahnhof von ihrer Heimatstadt mit ihrer Mädchentruppe abhing. Niemand von uns ahnte, dass gerade das letzte Jahr ihres Lebens angebrochen war. Sie verstarb im darauffolgenden Sommer plötzlich. Der halbe Boxi war bei der Beerdigung.

Ich war dann noch oft mit den Dreien, die ich die Heiligen Könige getauft hatte, auf dem Boxhagener.

Jemand nannte uns die Allwetterbrigade, da wir uns von wiedrigen Wetterbedingungen nicht abschrecken ließen. „Siehst du das Haus da.“ Der Eine war genau gegenüber von unserer Bank in einem Berliner Mietshaus aufgewachsen. „Auf dem Boxi habe ich schon als Kind gespielt.“
Ihn, der ein grundgutmütiger Typ war, hatte es wieder zurückgezogen in seine alte Gegend, die für ihn dasselbe sein musste, wie mein mecklenburgisches Heimatdorf für mich. Nur waren hier in Berlin Menschen, Häuser und Bäume auf einem Fleck komprimiert.

Der Zweite kam aus Thüringen und hatte früher bei der Wismut im Uranbergbau gearbeitet. „Ich bin schon fünfmal verschüttet worden.“ erzählte er mir. „Mein Sohn lebt in Kuba. Seine Mutter, Maria Rosita, hat mal eine Weile bei uns gearbeitet und ist wieder in ihr Land zurückgekehrt.“
Ich vermute aber, dass sie abgeschoben wurde, wie es üblich war bei Kontingentarbeiterinnen, die schwanger wurden.
Wir beide stellen uns den brünetten Sohn der madre soltera vor, wie er im weißen Sand unter einer Palme sitzt und dem Meeresrauschen lauscht. Da liegt einiges an Wasser zwischen Vater und Sohn.

Der Dritte, K, war der Intellektuelle in der Truppe. Er las alles, was ihm in die Hände fiel: Zeitungen, Comics, Märchen. Im Kiezcafe gab es auch eine Bücherecke. „Kennst du „Egon und das achte Weltwunder“? „Klar kenne ich das.“ antwortete ich.
Der Roman ist ein typisches Machwerk der Heile Welt Literatur in der DDR und hatte mit der Realität in unserem Land nichts zu tun. Er war sehr bekannt bei uns und ist auch verfilmt worden. Alles andere an Kunst, was sich mehr nach Wahrheit anhörte, wurde brutal unterdrückt. Ein gutes Beispiel sind die Filme „Das Kaninchen bin ich“ und der allbekannte „Spur der Steine“, die im Giftschrank landeten.

In diesem Buch geht es darum, dass eine Abiturientin, aus bürgerlichem Hause, trotz Widerstands ihrer Eltern, einem gestrauchelten Jugendlichen wieder auf die Beine hilft. Natürlich wird die große Liebe draus, und außerdem werden in Friedland noch Wiesen trockengelegt. „Es ist kein Wunder, dass er durchhängt, wenn er so einen verlogenen Quatsch für bare Münze nimmt.“ denke ich.

Aber ich verstehe K. Es wäre schön, wenn das Leben so wäre wie in diesem Roman.

Am Wahrheitsgehalt dieses Machwerks, in dem es, wie in allen DDR Romanen, von netten Parteisekretären und verständnisvollen Brigadieren nur so wimmelt, hatte ich schon mit vierzehn meine Zweifel.
Aber der Film hat viele aus unserer Generation geprägt, und so Manche hofften wohl insgeheim auf ein Achtes Weltwunder, und dass eine blonde Studentin kommt und sie rettet.

K hing sehr am Kiezcafe in der Wühlischstraße. Als es wärmer wurde, mussten die Übernachtungsgäste ausziehen und wurden in Pensionen untergebracht. Nur K. wollte nicht in der Pension in Marzahn, in die sie ihn gesteckt hatten, wohnen, und übernachtete jetzt in einem Keller am Boxi.
Ich schickte ihn zum Bayomahaus. Aus meiner Zeit im Kiezcafe wusste ich, dass dort eine Mitarbeiterin arbeitet, die sich sehr engagiert darum kümmert, Obdachlosen eine Wohnung zu vermitteln. Ich hatte mir ihren Namen gemerkt, weil er nicht sehr häufig vorkam. Einer, der bei uns wohnte, bekam seine Wohnung schon nach einem Monat und einer Frau verschaffte sie sogar eine eigene Wohnung innerhalb von vierzehn Tagen.

K ging wohl auch einmal ins Bayomahaus, das damals noch in der Rudolfstraße war und hatte auch gute Aussichten. Dann ließ er es schleifen.

Einmal saß in unserer Mitte auf dem Boxhagener Platz ein junges Mädchen, wohl eine Studentin. Der Mann neben mir, den ich gerade kennengelernt hatte und der ein Wissen über Drogen besaß, dass sogar Timothy Leary vor Neid erblassen ließe und ich starrten beide fasziniert auf ihre Füße.
Wir waren aber keine Fussfetischisten, sondern der Grund für unser Interesse war, dass sie die Turnschuhe trug, die uns unsere ganze DDR Kindheit durch den verhassten Sportunterricht begleitet hatten. Es waren nagelneue, blaue Stoffschuhe mit weißer Gummisohle.
Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass die noch produziert wurden. „Wo hast du den deine Schuhe her?“ fragte ich sie. „Die habe ich auf dem Flohmarkt gesehen. Sie kamen mir so retro vor.“ Da musste irgendjemand alte Bestände aufgekauft haben.

Damit verbinde ich gar keine so guten Erinnerungen. Bei dem, der neben mir saß, war es genauso, obwohl er vom Körperbau her sehr sportlich wirkte. Ich sah mich noch auf dem unteren Holm vom Stufenbarren stehen und die Klasse lachte mich aus, weil ich mich nicht traute über den Oberen zu springen.
In diesen Schuhen bin ich in der sengenden Sonne mit Seitenstechen um die Häuserblocks gelaufen, wobei unserer Sportlehrer immer die, die keinen Sport mitmachen konnten, in den toten Blickwinkel stellte, damit sie ihm Bescheid sagten, wenn jemand ins Schritttempo verfiel.

In diesen Schuhen stand ich auch immer noch als letzte in der Reihe, wenn die Mannschaften gewählt wurden und schämte mich so, dass ich mir wünschte, dass der Parkettboden der Turnhalle sich auftut und mich verschlingt.

Der Andere hatte sogar noch schwärzere Erinnerungen. Er war in einem der sogenannten Jugendwerkhöfe eingesperrt. Dort war Sport ein Mittel der Bestrafung. Sie wurden mit Leibesübungen gemartert, bis sie zusammenbrachen. Für die allerkleinste Verfehlung, wie das Abspreizen der Ellenbogen am Tisch, mussten gleich hunderte Kniebeugen und Hock-Strecksprünge gemacht werden.

Mein Kastilianer hatte zu mir einmal gesagt: „Noch nie habe ich so viele Alkoholiker auf einem Haufen gesehen wie in Berlin.“
Ich sitze zusammen mit einer Frau, die bei uns im Kiezcafe verkehrt hat und ihrem Freund nachts an einem Tisch vor einem Späti am Boxhagener. Sie hatte gerade traurig darüber berichtet, dass ihr Kind, von dem sie mir früher immer viel erzählt hatte, jetzt in einer Pflegefamilie lebt.
Jemand kommt vorbei und gesellt sich zu uns. Wir kennen uns auch aus dem Kiezcafe.Er ist eine Quasselstrippe vor dem Herrn. Der Ladenbesitzer ist ein Freund von ihm.
„Er und ich haben einmal an einem einzigen Nachmittag eine Flasche Rum, eine Flasche Wiskey und eine Flasche Ouzo getrunken.“ renomierte er.
„Da werde ich ja schon vom Hinhören blau.“ dachte ich.
„Habt ihr wirklich die drei Flaschen auf Ex getrunken?“ fragte ich ihn.“ Das nötigte mir ehrliche Bewunderung ab.

Ich traf ihn vor einiger Zeit mal wieder. Er ist seit langem trocken und leitet eine Fahrradwerkstatt. Aber merkwürdigerweise ist sein sonst nie abreißender Redestrom versiegt, und wir hatten uns nicht viel zu sagen.

K, der sehr sensibel war und auch selber schrieb, war dabei in eine Depression abzurutschen. Die beiden Anderen, die schon lange in der Szene waren, machten sich Sorgen um ihren Freund. „Für dich ist das Leben auf der Straße nichts.“ sagten sie zu ihm.
Ich kam auf die Idee, ihn aufzumuntern, indem ich ihn ständig mit Büchern versorgte. Aber vielleicht hat ihn das noch mehr runtergezogen.

Er war intelligent und las alles, was ich brachte. Vom „Fänger im Roggen“ und „Einer flog über das Kuckucksnest“ über Flann O Brian, „Clockwerk Orange“, „Dem verschenkten Leben des Ferenc Macra“, das ein Kultbuch bei uns war, Sylvia Plath, Bukowski, bis zu „Warten auf Godot“, er las einfach alles, im Licht der Taschenlampe in seinem Keller am Boxi.

Ich erwartete eigentlich, dass er mit „Warten auf Godot“ besser klarkommt als ich. Ich hatte schon bei der Stelle mit der Hundeleine aufgegeben, aber gehört, dass ein Regisseur das Stück sehr erfolgreich mit Häftlingen in San Quentin aufgeführt hat, die sich alle sofort mit den Figuren in dem Theaterstück identifizieren konnten.

Aber K, der es schon immer mal lesen wollte, wurde auch nicht schlau daraus. Über dieses dünne Heft sind schon dicke Bücher von klugen Leuten geschrieben worden. Ich habe dreimal versucht, mir das Theaterstück auf dem ZDF Theaterkanal, als es den noch gab, anzuschauen und verstand immer nur Bahnhof.

„Warten auf Godot“ ist auch von dem Obdachlosentheater „Ratten“ in der Volksbühne aufgeführt worden. Ein schottischer Regisseur hatte Anfang der Neunziger einen Bekannten von meiner Freundin, der am Kotti schnorrte, angesprochen. Der wohnte in einer Wagenburg. Davor hatte er einige Jahre auf der Straße gelebt. „Willst du nicht bei einer Theateraufführung in der Volksbühne mitspielen?“ fragte ihn der Regisseur.

Da schellen bei jedem jetzt ganz heftig die Voyerismusalarmglocken und wohl auch nicht zu Unrecht, aber die Arbeit mit der Theatertruppe, wo er auch Geld verdiente, tat ihm gut, und er blühte auf.
Einen anderen Schauspieler der Truppe, Manne, hatte ich auch mal im Kiezcafe getroffen. Sowas hätte K. auch gefehlt, um ihn aus seinem seelischen Tief zu holen. Aber er wurde immer unzugänglicher. Ich kam nicht mehr an ihn ran. Vorher hatten wir uns sehr gut verstanden.

Aber vielleicht wäre so eine Theatertruppe gar nichts für ihn gewesen. Dort waren ja nur Wessis. Wir, im Osten, sind anders sozialisiert worden. Aus meiner Arbeit im Kiezcafe wusste ich, dass die Ostdeutschen unter unseren Gästen konservativ waren und nichts Neues ausprobierten. Sie besetzten keine Häuser, gründeten keine Wagenburgen und Theatertruppen.
Das Kiezcafe war ja auch von Jemandem aus Hamburg gegründet worden, und in der Wagenburg in der Wuhlheide, im östlichen Bezirk Treptow, leben auch fast nur Westdeutsche. Sämtliche Hausbesetzer in Friedrichshain kamen fast ausschließlich aus den alten Bundesländern.

Bei den Essengewohnheiten merkte man auch einen Unterschied. Meine Landsleute aßen nur das, was sie von Kindheit an kannten und ließen keine Mahlzeit gelten, wo nicht Fleisch mit bei war. Gemüse wurde im Osten als minderwertiges Nahrungsmittel betrachtet. Manche aßen auch konsequent gar kein Gemüse.
Einmal musste ich im Kiezcafe die geschmorten Paprikaschoten mit Reis und Schafskäse füllen, weil das Hackfleisch alle war. Das machte ich Zuhause immer so. Mir schmecken sie sogar noch besser als die Version mit Fleisch.
Diejenigen, die aus Westdeutschland kamen, waren begeistert, die Ossis dagegen warfen die schönen Paprikaschoten weg.

Genauso verfuhren sie mit den gebratenen Auberginen, die im Osten niemand kannte. Wenn ich da an das eklige Kantinenessen früher bei uns dachte, an die ewigen Innereien, mit denen sie uns von Kindheit an gemartert haben. Bei dem Gedanken an Lungenhaschee biegt sich mir heute noch die Gabel. Diese gräuliche, gummiartige, übelriechende Masse war das Standbein von jeder Werkküche. Ich staunte immer, dass es Leute gab, die das runterkriegten.

Der Gipfel der Enttäuschung waren die knusprigen Bouletten, die ich aus Reis, Gemüse und Käse gezaubert hatte.
Mit blutigem Herzen musste ich zusehen, wie meine Landsleute, die ja auch nur einen schmalen Taler besaßen und bei denen wohl oft der Herd, in Ermangelung von etwas Eßbarem, kalt geblieben war, sie empört in den Abfalleimer schmissen, da sie nur Bouletten aus Hack kannten.
Die Leute aus Westdeutschland dagegen, wo vegetarisches Essen schon lange ein Thema ist, lobten mich in den Himmel, so dass ich mir schon vorkam wie ein Sternekoch.

Aber am meisten stieß mir die Haltung unserer Gäste, die ja meist Männer waren, gegenüber Frauen, die auch in Schwierigkeiten geraten waren, auf. Unbarmherzig wurde über sie gelästert, wobei man die eigene Situation ausblendete. Von der Frau wurde verlangt, dass sie funktioniert.

Im letzten Sommer war ich mal wieder auf dem Boxi und wunderte mich, dass die Ecke leer ist, wo die Truppe, die inzwischen schon ziemlich groß geworden war und zu der auch zwei Frauen gehörten, sich sonst immer aufhält. „Wenn du die suchst, die sind an die Küste gefahren.“ sagte ein Mann.
Er erzählt mir, dass einer davon eine Erbschaft gemacht hat und alle ans Meer gereist sind, wo jemand von der Truppe herstammt. Da machten die Leute vom Boxi also jetzt meine Heimat unsicher.

„Hoffentlich schwimmen sie nicht zu weit raus.“ denke ich.

*nacheinander: Lied von den Scherben; Stück von Garcia Lorca; Jugendbuch von Joachim Wohlgemuth; Erzählung von Rilke; Song von Metallica; Theaterstück von Gerhart Hauptmann; Roman von Heinz Strunk

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Frieda Kreuz

erzählerisch kommt mir das recht durchwachsen vor. Der Erzähler teilt eine Reihe von Erinnerungen und Beobachtungen, die sich um den Boxhagener Platz und verschiedene Personen drehen, die er dort getroffen hat. Die ganzen Details sind auf jeden Fall interessant und auch griffig und schön formuliert und sie liefern auch einen Einblick ins Leben am "Boxi" und in die persönliche Erfahrungswelt des Erzählers. Allerdings gibt es keine klare Struktur oder Handlung in der Geschichte. Ohne Kontext oder Infos über die Erzählabsicht fällt es mir hier schwer etwas dazu zu sagen. Was dem Text gut tun könnte, wäre aus meiner Sicht etwas mehr Struktur und etwas weniger Sprunghaftigkeit, auch so etwas wie ein roter Faden. Aber sag vielleicht erst mal, wo du mit dem Text hinwillst. Vielleicht bin ich ja auch auf dem falschen Dampfer unterwegs.

LG
Carlo

 

Hallo @Frieda Kreuz

gleich am Anfang ein paar Schnitzer:

„Wahre Freundschaft gibt es bloß auf dem Boxhagener.“ behauptet mein Freund. Vielleicht hat er recht damit. Aber ihm werden dort auch ständig alle Arten von Drogen angeboten. Da sind sie beim einem Gesundheitsapostel wie ihm, der nichts Härteres zu sich nimmt als Pfefferminztee, ja an der richtigen Adresse.
Ich verstehe nicht ganz die Zitate und Bezüge ganz am Anfang des Textes, die ignoriere ich mal, aber hier im ersten Absatz gleich mal zwei Fehler (und ich bin da echt nicht penibel oder so). Bei nachgestelltem Begleitsatz kommt ein Komma nach der wörtlichen Rede und der zweite Fehler, da muss es "bei" heißen und nicht "beim".

kein Nichts und kein Garnichts
(zweimal) doppelte Verneinung ... heißt dann, du kanntest etwas :drool:

ABM Stelle
Was ist das?

Der Raum war so verqualmt, dass ich manchmal Schwierigkeiten hatte, Denjenigen zu finden, der sich ein Essen oder einen Kaffee bestellt hatte.
denjenigen klein.

„Ein Rauchverbot würde keinen Sinn machen.“ meinte unser Chef.
wie oben

Ton Steine Scherben liefen damals bei mir in Endlosschleife.
Was ist das?

eisekalt gewesen
ist das Dialekt?

Es sind nur ein paar Schritte bis zum Boxi. Das Kiezcafe, das jetzt, 2022, in der Petersburger Straße ist, war zu der Zeit sehr zentral, an an einem sozialen Brennpunkt im ehemaligen Ostteil Berlins, gelegen.
Dopplung

„Du siehst aus, als wenn du total in Ordnung bist.“ findet sie. „Woran erkennt sie das, und was bedeutet eigentlich „in Ordnung sein“? Ist das nicht ein bißchen schwammig formuliert?“ denke ich.
Wir sind doch die ganze Zeit in ihren Gedanken, ich verstehe nicht ganz, warum du die jetzt dann manchmal in Anführungsstrichen einfügst.

„Siehst du das Haus da.“
Das ist eine Frage, wo ist das Fragezeichen?

„Ich bin schon fünfmal verschüttet worden.“ erzählte er mir.
wie oben

madre soltera
Was bedeutet das?

„Klar kenne ich das.“ antwortete ich.
wie oben

„Es ist kein Wunder, dass er durchhängt, wenn er so einen verlogenen Quatsch für bare Münze nimmt.“ denke ich.
wieder ihre Gedanken in Anführungszeichen

„Wo hast du den deine Schuhe her?“ fragte ich sie.
denn

„Er und ich haben einmal an einem einzigen Nachmittag eine Flasche Rum, eine Flasche Wiskey und eine Flasche Ouzo getrunken.“ renomierte er.
wie oben

„Da werde ich ja schon vom Hinhören blau.“ dachte ich.
Das Problem mit den Anführungszeichen ist, beim Lesen meint man sie sagt es und muss dann zurückrudern. Das ist nicht so schön.

„Für dich ist das Leben auf der Straße nichts.“ sagten sie zu ihm.
wie oben

Aber er wurde immer unzugänglicher. Ich kam nicht mehr an ihn ran. Vorher hatten wir uns sehr gut verstanden.
Das wird hier einfach so gesagt, überhaupt wird viel einfach so gesagt, ohne dass es irgendeine Bedeutung hat. Das ist schade. Gezeigt ist immer besser und wenn es dann auch noch einen Grund hat, warum es gezeigt wurde, das ist am besten :)

biegt sich mir heute noch die Gabel.
Find ich richtig cool, werd ich mir merken :)

in Ermangelung von etwas Eßbarem, kalt geblieben war, sie empört in den Abfalleimer schmissen, da sie nur Bouletten aus Hack kannten.
Wirklich? Also die hatten allgemein kaum Geld und wenig Essen und schmeißen dann Vegetarisches Essen einfach weg? Sowas macht mich total sauer!

„Wenn du die suchst, die sind an die Küste gefahren.“ sagte ein Mann.
wie oben

So, dass sind dann mal meine Anmerkungen. Dein Text hat sich gut gelesen. Die Zitate/Infos am Anfang des Textes würde ich unbedingt raus nehmen. Die verwirren nur.
Ihre Gedanken in Anführungszeichen würde ich auch raus nehmen und vielleicht einen zentralen Handlungsstrang einbauen. Zumindest hat sich mir keiner erschlossen. Da sind ein paar Motive eingeflochten, die ich nicht verstehe (zum Beispiel, dass mit dem Kochen). Ich glaube auch das mit der Küste, soll irgendeine größere Bedeutung haben, oder? Befreiung? Keine Ahnung. Das Ganze Thema ist für mich auch sehr weit weg ... aber trotzdem habe ich durch den Text so ein Gefühl für das Milieu gekriegt, das hat mir gefallen :)

Viele Grüße und einen Schönen 2. Weihnachtsfeiertag!

Gruß

Mary

 

Hallo Carlos, Hallo Mary,
entweder man liest das, weil es einen irgendwie interessiert, oder man läßt es sein. Eine richtige Geschichte ist es nicht, sondern es sind mehr so Impressionen. Das wird besonders Friedrichshainer neugierig machen.

Es geht einfach um den Boxhagener Platz, der ein sehr bekannter Platz in Friedrichshain ist. Dort vereinigen sich Ost und West, die Oberbaumbrücke, die Kreuzberg mit Friedrichshain verbindet, ist ja nicht weit weg.

Von Kreuzberg aus kamen die Drogen über die Spree in den Osten rüber. Vorher kannten wir nur Alkohol. Auch im Kiezcafe, das in der Wühlischstraße, nicht weit vom Boxi, liegt, treffen Leute, von denen viele Probleme haben, aus den zwei unterschiedlichen Systemen aufeinander. Es entsteht eine interessante Mischung.

Übrigens „Mater soltera“ heißt ledige Mutter. Ich dachte, dass Spanischkenntnisse sehr verbreitet sind. Mein Freund, der Kastilianer hatte mal ein paar Monate in einem besetzten Haus gewohnt. Dort konnten viele Spanisch.

Den Spruch: „Da biegt sich mir die Gabel.“ habe ich aus dem Internet geklaut. Ich hatte nach Lungenhaschee, ein typisches Ostgericht, gesucht. Da erzählte jemand, wie sehr ihn vor diesem Gericht aus seiner Schulküche grauste.

Das Zitat aus „Warten auf Godot“ passt sehr gut, finde ich. Die Theatergruppe „Ratten O7“, die aus ehemaligen Obdachlosen besteht, die sich durch die Theaterarbeit wieder emporgerappelt haben, hat es ja auch an der Volksbühne aufgeführt.

Sowas hätte vielleicht auch dem K. aus meiner Geschichte gut getan.
Er rutschte immer mehr in eine Depression rein und hätte wahrscheinlich therapeutische Hilfe gebraucht. Seine Freunde, die älter als er waren und Menschenkenner, machten sich Sorgen um ihn.

Auch die Buchtipps und Musiktitel am Anfang finde ich eigentlich passend. Sie sollen ein bisschen neugierig machen, so als eine Art Inhaltsverzeichnis.

In der „Turnstunde“ von Rilke geht es darum, dass jemand beim Sport tot umfällt. In den Jugendwerkhöfen, die ich erwähne, wurde ja solange Sport getrieben, bis die Kinder zusammenbrachen.

Garcia Lorca habe ich mit reingenommen, weil mein Freund Spanier ist und weil der eine vom Boxi einen Sohn in Kuba hat, er kennt ihn aber gar nicht, dessen Mutter eine Soltera/Ledige ist wie in dem Stück „Dona Rosita bleibt ledig“, das ich übrigens als Hörspiel im Radio gehört habe.

„Egon und das achte Weltwunder“ ist eine verlogene Schmonzette, aber war das Lieblingsbuch von K.

In San Quentin hat Metallica ein Video mit Gefangenen gedreht. Viele auf dem Boxi haben ja auch Knasterfahrungen und in diesem Gefängnis wurde "Warten auf Godot" von Häftlingen aufgeführt.

Ton Steine Scherben waren meine Rettung bei meinem Liebeskummer mit dem Hausbesetzer aus Osnabrück.

Den Buchtitel „Fleisch ist mein Gemüse“ finde ich total genial. Er trifft auf meine Landsleute zu, die alle Gemüseverächter waren.

Einen Guten Rutsch wünscht Frieda

 

Hey Frieda,

du, die Atmosphäre und Details darüber braucht man gar nicht streiten, das ist alles interessant und super. Aber um die Handlung und den roten Faden kommt, finde ich halt, auch ein sehr authentischer, atmosphärischer Text nicht herum. Und man kennt das doch. Wenn ich allein auf Atmosphäre und Details setze und das andere komplett ausklammere, werde ich auf jeden Fall nur wenige Leute erreichen. Wenn das für einen okay ist, dann passt das. Aber vielleicht willst du ja über ein einfaches Korrektorat hinaus noch ein wenig an deinem Text feilen.
Viele Grüße

 

… entweder man liest das, weil es einen irgendwie interessiert, oder man läßt es sein.

Es wird buchstäblich ein „Kreuz“ mit Dear,

liebe oder doch eher sture Frieda,

und ja, ich weiß, Du musst das loswerden – aber wenn DU DICH nicht selbst bewegst und buchstäblich unkorrigierte "Frag"mente hinterlässt, wird es eine sehr einsame Angelegenheit für Dich, fürchte ich.

Was zum Teufel hindert Dich an Korrekturen am eigenen Werk?

Oder glaubstu, es könnte hier jenseits eines „[z]urück oder vorwärts, du musst dich entschließen. / Wir bringen die Zeit nach vorn, Stück um Stück. / Du kannst nicht bei uns und bei ihnen genießen, / denn wenn du im Kreis gehst, dann bleibst du zurück“ (Puhdys)

Auf ein gutes Neues

Friedel

 

Hallo Frieda Kreuz,

ja, entweder man liest es oder lässt es bleiben - hab mich drauf eingelassen und es ist eben Dein Style, in dem Du Deine Geschichte erzählst; ja, sie ist genauso zusammenhangslos wie aus einem Guss, sie ist scheinbar langweilig und doch interessant und zog mich immer weiter in dieses "Szenemilieu" hinein, weil ich in meiner Jugend ebenfalls an solchen Plätzen rumhing und in ähnlichen Kreisen verkehrte - Berlin inklusive, allerdings noch hinter Mauern.
Hier noch ein paar Anmerkungen:

beim einem Gesundheitsapostel wie ihm, der nichts Härteres zu sich nimmt als Pfefferminztee, ja an der richtigen Adresse.
... das m bei beim kann weg ...
Schwierigkeiten hatte, Denjenigen zu finden, der sich ein
denjenigen, glaube ich, klein...
„Ein Rauchverbot würde keinen Sinn machen.“ meinte unser Chef.
"Ein Rauchverbot ... machen", meinte mein Chef. oder:
"Ein Rauchvervot ... machen!", meinte mein Chef.
Diesen "Fehler" machst Du im ganzen Text ... ich führ´s jetzt nicht jedes Mal auf ...
Jahr über, wie es sonst war.“ erzählten mir traurig die drei
... war", erzählten ... hier wieder ...
total in Ordnung bist.“ findet sie.
... hier wieder ... usw.
„Woran erkennt sie das, und was bedeutet eigentlich „in Ordnung sein“? Ist das nicht ein bißchen schwammig formuliert?“ denke ich.
Vorschlag von mir: Da Du das ja denkst, den Satz nicht in Gänsefüßchen, sondern kursiv: Woran erkennt sie das, und was bedeutet eigentlich „in Ordnung sein“? Ist das nicht ein bisschen schwammig formuliert? Denke ich.
Beispiel sind die Filme Das Kaninchen bin ich und der allbekannte Spur der Steine, die im Giftschrank landeten.
... auch hier würde ich die Zitate oder die Beispiele kursiv setzen und nicht in Gänsefüßchen ... Geschmacksache, aber leichter zu lesen und auseinanderzuhalten.
Es ist kein Wunder, dass er durchhängt, wenn er so einen verlogenen Quatsch für bare Münze nimmt. Denke ich.
Ich fühle, dass Du einfach "andere" Wege gehen "willst" wie die klassische Literatur es empfiehlt. Eigensinn hat´s nie einfach gehabt oder wird´s nie einfach haben. Individualität tut Not und Widerstand auch, nur - was ich erst im Alter kapierte - darf der Dialog nicht abbrechen. Deine Geschichte ist lebendig und "echt" - nicht zu verwechseln mit netflix-Adaptionen, die erschreckend Einzug halten. Also, Kopf hoch, Krone richten und weiter.
Mir gefällt´s - Grüße - Detlev

 

Hallo Detlef, Hallo Frieder,
ich hatte gar nicht gesehen, dass ich noch zwei Kritiken hatte. Leider muss ich eingestehen, dass ich im Moment zu faul bin, um noch irgendetwas umzuschreiben. Jeder, der mal einen Text veröffentlicht hat, weiß ja, dass man wochenlang daran herumformuliert. Zum Schluß kann man die Story schon gar nicht mehr sehen. Für Frieder: Langsam merkt ich, dass ich bei der Groß- und Kleinschreibung total unsicher bin. Aber wenn man beim Geschichtenschreiben seine Fantasie anstrengen muss, will man sich nicht noch wegen sowas den Kopf zerbrechen.
Gruß Frieda

 

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