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Brass und die Schlacht auf den purpurnen Feldern
Es tut not zu wissen, dass Brass ein einfacher Mann war. Nie aus seinem Weiler herausgekommen. Kannte den Fürsten nur vom Hörensagen, wenn weit gereiste Männer Einkehr hielten in der Schänke und erzählten von fernen Orten. Dort, Brass drückte sich dermeist am Feuer herum und würfelte, hörte er zum ersten Mal vom Fürsten. Der Fürst, so kam es ihm zu Ohren, sei ein stattlicher Mann, stark wie zwei Ochsen und größer als ein großer Mann mit einem mittelgroßen auf den Schultern. Und gewitzt sei er, gescheit wie ein Storch und ein Mann, dem man dienen müsse, Mann und Weib gleichermaßen.
„Wohl doch nicht gleichermaßen!“, brüllte Pitt dann, der mit am Feuer hockte und würfelte.
„Doch! Gleichermaßen!“, sagte der weit gereiste Mann in das Gelächter der Männer des Weilers hinein.
„Dann!“, schrie Pitt noch einmal auf. „Ist der Fürst wohl ein Mann, den man lieber neben als hinter sich weiß!“
Es wurde gelacht, getrunken und von Weibern ward gesungen. Dem weit gereisten Mann wurde auf die Schulter geschlagen und man bedrängte, befragte, betatschte und umringte ihn; Pitt und Brass jedoch würfelten am Feuer weiter und es kümmerte sie nur ihr Spiel und dass sie es warm hatten und dass es laut zuging und dass alles seine Richtigkeit hatte, das kümmerte sie auch.
Ein paar Monde später, als der weit gereiste Mann mit anderen Männern zurückkam, und Waffen und Pferde dabei hatte und Brass davon in Kenntnis setzte, er müsse für seinen Fürsten kämpfen, zog man Pitt aus seiner Hütte, hängte ihn mit dem Kopf nach unten an einem Querbalken auf und trieb ihm einen Speer von hinten durch den Leib, dass das Blut, was aus seinem Mund kam, von einem solchen Rot war, dass Brass meinte, so müsse Blut aussehen, wenn es nachts vergossen werde. Ein unsinniger Gedanke, denn Pitt starb am hellen Tag. Aber Brass hatte viele unsinnige Gedanken.
Das erste Mal sah Brass den Fürsten, als er für ihn auf den purpurnen Feldern kämpfte. Damals waren die Felder braun und kahl. Purpur nannte man sie erst nach jenem Tag.
Der Fürst, aber das wusste Brass damals noch nicht, war ein junger Mann, dem die Rüstung seines Vaters noch zu weit war, des Vaters Schwert zu schwer, das Land des Vaters zu klein, zu kahl, nicht rot genug. Und vielleicht haben die alten Leute Recht, die sagen, dass das Schicksal mit rot geschrieben werde. Vielleicht haben andere Recht, die sagen, dass Geschichte von vielen kleinen Männern geschrieben wird und nicht von wenigen großen.
Brass jedenfalls stand in Reih und Glied. Die Rüstung war ihm zu eng, unter dem schweren Helm konnte er wenig hören und noch weniger sehen und die Halbrüstung des Nebenmanns rieb an seiner Schulter. Der Fürst ritt an der Schlachtreihe vorbei auf einem schwarzen, schönen Pferd. Jemand blies in ein Horn, jemand schlug eine Trommel und Brass marschierte.
Das Marschieren nach Trommeln wird für jeden Mann das einzige, was zählt. Es ersetzt das Denken, Brass dachte nicht mehr an das Feuer in der Schänke, daran wie ihm die Arme weh taten, wenn er den Tag auf dem Feld verbracht hatte, dachte nicht mehr daran, wie sich Gras anfühlte nach einem Sommerregen, dachte nicht an den Geruch von Heu oder an das, woran du denkst, wenn du die Nase eines Pferdes anfasst, dachte nicht daran, wie schön es ist, wenn du dich einfach in eine warmen Ecke kauern kannst und einschläfst oder wie es ist, wenn du dir mit Schnee die Brust, den Rücken und den Schwanz abreibst, dachte nicht an Wein, nicht an Weib und nicht an die Würfelei. Brass dachte an Trommeln. Menschen verschmelzen, wenn sie zu Trommeln marschieren. Der Mann neben ihm war ein Fischer, schon vermählt, schon Vater, aber nur eine Tochter. Was sollte nur werden? Wo die Aussteuer hernehmen? Der Mann neben jenem war nur ein einziger Sohn, noch nichts gelernt, auf dem Feld mitgeholfen, die Mutter wollte ihn zur Lehre geben, der Vater sagte, es werde sich schon finden, der Hof sei groß genug für drei. Der Platz daneben war leer, vielleicht wär Pitt da mit gelaufen.
Man hörte das Surren von Pfeilen in der Luft, ob's die eigenen waren, konnte Brass nicht sagen, er umklammerte den Speer fester, sah nur den Nacken des Mannes vor sich und hörte das Schlagen der Trommel in seinen Gebeinen. Dann trafen die Schlachtreihen aufeinander.
Manchen kann man von Blut nicht genug erzählen. Es wurde viel gestorben und viel gemordet an jenem Tag. Die Männer waren noch nicht sehr geschickt im Schlachten, aber mit einigem Eifer dabei. Lange war Brass eingekeilt in den Menschenmassen um ihn herum, hatte keinen Feind vor sich, keinen neben sich, nur Freunde, konnte allein hoffen, dass der vor ihm nicht allzu bald fiel, dass er seine Kraft noch etwas schonen konnte, bis es an ihm war, den Speer zu nehmen. Die Reihen lichteten sich, von hinten wurde geschoben, Brassens Herz klopfte und klopfte, hatte die Trommel bald ihrer Notwendigkeit enthoben, und da: Der Mann vor ihm fiel oder floh oder verschwand oder war einfach nicht mehr da, sein erster Feind. Ein Barbar. Nie würde Brass diesen Anblick vergessen, als er in die Hocke ging, den Speer mit der rechten Hand fest hielt und ihn dem Feind von unten in den Leib trieb. Fell hatte der um seine Schulter gewickelt, Fell, wie man es anfassen und berühren konnte, wie um etwas daraus zu machen, das einen warm hielt. Schnell zog er den Speer heraus, hinter ihm schrie jemand: „Reiter“, und Brass blickte auf und tötete einen anderen und dann noch einen, es bereitete ihm nicht viel Mühe, der Speer von unten schien die wilden Fremden zu überraschen, die nach seinem Haupt oder seiner Brust schlugen, und er sank auf die Knie, ganz demütig, und tötete. Weil Brass keinen Schild hatte, war er schnell, und weil der Speer zu lang war, brach er ihn ab. Bald lösten sich die Reihen auf und Brass erkannte linkerhand den weit gereisten Mann, der eine schönere Rüstung hatte als Brass, dem die rechte Seite aber hinab hing wie Fleisch in der Räucherkammer. Ein bärtiger Riese mit einer zweiblättrigen Axt sprang auf den weit gereisten Mann zu, Brass wandte seinen Blick nach rechts, wo er das Banner des Fürsten flattern sah.
Das erste, was ein Fürst im Feld lernen musste, so stand es später in den Büchern und so hallte es fortan jedem Adepten der Kriegskunst in den Ohren, war es, sich mit den besten Männern zu umgeben, die man nur finden konnte, damit man sicher war und stark und befähigt, dahin zu gehen, wo man hingehen musste. Das wusste der Fürst damals noch nicht. Er hatte die Leibgarde seines Vaters um sich geschart, satte, alte Männer, deren Zeit lang hinter ihnen lag. Manche hatten ein halbes Leben nicht mehr auf einem Pferd gesessen, und wo ihr Kampfesmut ungebrochen war, ihre Kampfeskraft lag in Trümmern. Viele hatten vom alten Fürsten einen Hof bekommen, sich Weiber gesucht, Söhne gezeugt, Branntwein gesoffen, zu Paraden waren sie noch mal an den Hof gereist und hatten zusammen getafelt und ihre Schwüre erneuert und ihre Kameradschaft besungen, aber jetzt – in der Schlacht auf den purpurnen Feldern wurden sie vom Antlitz der Erde gepickt wie Fische aus einem Teich, wenn die Reiher zurückkommen.
In einer Schlacht ist das Banner des Fürsten wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit. Und das Banner wankte und drohte zu fallen. Der Fürst auf dem Rappen mitsamt seiner schwindenden Schar Getreuer wurde von den Barbaren bedrängt, schon griffen die Hände nach einem weiteren der Panzerreiter, bekamen ihn am Schienbein zu fassen, der Ritter schlug mit dem Schwert auf das Fußvolk unter sich, da erwischte ihn ein geschleuderter Speer in der Brust und warf ihn vom Pferd. Dem Rittersmann neben ihm hauten sie das Pferd tot und schon bald war der König allein, und hatte nicht links und nicht rechts mehr einen Getreuen und keinen Freund mehr auf der Welt, schon hatten die Hände ihn gepackt und aus dem Sattel gezerrt, und die wunderschöne, schwarze Rüstung lag im Matsch der kahlen Felder. Ein Mann hatte den Fuß auf seine Brust gestellt und er führte einen Hammer mit sich, einen gemacht wie um Steine zu klopfen. Und den Hammer schwang er, hoch über seinem Kopf.
Was dachte der Fürst wohl in dem Augenblick? Dachte er, dass das Land seines Vaters doch, bei näherer Betrachtung, von ausreichender Größe sei? Dachte er daran, dass ihm niemand gesagt hatte, wie schnell Träume enden konnten und wonach sie dabei stanken? Dachte er daran, dass Geschichtsbücher weitergeschrieben wurden, ob mit oder ohne ihn? Die Antwort auf jene Fragen werden wir in keinem Buch finden, nicht am Fuße eines Monuments und nicht an eine Häuserwand gekrakelt, wir werden sie nicht in Liedern hören, nicht im Getuschel am Feuer und nicht einmal der Wind vermag es, sie uns zu flüstern. Es gibt Momente, die kann ein Fürst aus dem Gedächtnis der Welt tilgen, wenn er genug Zeit hat, und wenn er jemanden hat, wie Brass, der mit der Schulter voran den Barbar mit dem Hammer zu Fall brachte, der ihm von hinten mit bloßer Faust den Schädel einschlug, der seinen Speer nahm und ihm dem nächsten in den Leib trieb und der sich vor den Fürsten stellte in den Matsch auf den purpurnen Feldern und der seinen Fürsten bewachte wie eine Wölfin ihr Junges. Und Brass hielt, so erzählte man es sich zumindest später, mit der Rechten den Speer und mit der Linken das Banner des Fürsten und streckte es so lange in die Höhe, bis es – so sang später einmal ein Troubadour – das Banner eines Königs wurde.
Es blieb das Banner eines Fürsten und blieb es noch, als sich eine Truppe zu ihnen durchgeschlagen hatte. Das Banner eines Königs wurde es erst Jahre später, als eine größere Streitmacht eine kleinere Gegnerschar an einem Ort niedermetzelte, der keinen anderen Namen danach trug. Aber nachts flüsterten die jungen Männer von dem Moment auf den purpurnen Feldern und sahen zum Mann an der rechten Seite des Königs empor und sie träumten.
Ein Fürst kann gewiss Momente aus dem Gedächtnis der Welt tilgen, wenn alle, die daran beteiligt waren, entweder erschlagen wurden oder so treue Seelen sind wie Brass.
Aber mehr noch kann ein König einen Augenblick in das Gedächtnis der Welt brennen.
Zu Beginn war es nur ein Troubadour, der des nachts im Lager die Geschichte von den purpurnen Feldern sang. Später, als man Städte mit Kultur erobert hatte, ließ man es von einigen Schaustellern aufführen. Dort der edle König, hier der wilde Kriegshetzer, der ihm an Leib und Leben will, schon nahte der unbedarfte Dorfjunge, der sich vor seinen König wirft, den tödlichen Streich abzuwehren. Eine Drei-Personen-Sache, so lang wie es dauert, zwei volle Krüge zu leeren.
Doch mit dem Reich des Königs wuchs auch die Darbietung, und bald, als endlich Frieden herrschte oder, wie man flüstern könnte, als die Kunde von Krieg nicht mehr bis an den Hof drang, hieß man es Festspiele, verbot den Menschen an jenem Tag zu arbeiten, ließ Brot an die Armen und Versehrten verteilen und schließlich feierte man sie zum dreißigsten Mal und beschloss, es sollten besondere werden.
Und der Fürst von einst war schon lang nicht mehr jung und seit zwanzig Sommern war er der Rüstung des Vaters entwachsen und zwei Söhne hatte er. Und man könnte sagen, es waren prächtige Burschen.
Brass aber schlief gern bis zum frühen Mittag, dann ließ er sich kalten Braten kommen und setzte sich in den Hof, auf seinen Lieblingsplatz. Manchmal ging er in jene dunkle Ecke des Stalls, in der die alten Kriegsrösser des Königs ihr Gnadenbrot bekamen und er fasste ihnen an die Nasen und schnüffelte nach dem Geruch des Heus. Überall schnüffelte Brass herum. Die Mägde in der Küche wagten es nicht, ihn zu verscheuchen, auch die Knechte im Stall nicht, nicht die Pagen der Königin und nicht die Waffenknechte des Königs. Überall war geschäftiges Treiben, jeder schien mit etwas beschäftigt zu sein, auf dem Weg irgendwohin oder von irgendwoher. Nur Brass nicht.
Brass schlich durch die Gänge, suchte nach einem Platz am Feuer, nach Branntwein und nach jemandem zum Würfeln. Manchmal sah er den König noch, aus weiter Ferne. Und sobald er wen traf, der ihn erkannte, klopfte der ihm auf die Schultern und fragte, ob sich die Schlacht auf den purpurnen Feldern so zugetragen hatte, wie man es sich erzählte. Aber Brass redete lieber über Pferdenasen und über das Würfelspiel.
Manchmal konnte Brass nachts nicht schlafen, dann trank er.
Als die dreißigsten Festspiele zum Jahrestag der Schlacht auf den purpurnen Feldern anstanden, schickte man nach ihm, kleidete ihn an, setzte ihn auf ein Pferd und ließ ihn mit den anderen ausreiten. Es war ein Spektakel, der Tross brauchte acht Tage, das Feld zu erreichen. Zeltstangen wurden aufgestellt und eine Tribüne aus Holz, Akrobaten tanzten und schlugen Räder, Trosshuren und Marketenderinnen waren zu sehen, zu hören und zu riechen und der König thronte auf einem Podest auf einer Empore.
Natürlich war Brass viel zu alt, um Brass zu spielen, das übernahm ein einfacher Junge aus dem alten Weiler, der sich zu einem Marktflecken gemausert hatte. Und natürlich war auch der König viel zu alt, um den Fürsten zu spielen. Die Rolle fiel an seinen Erstgeborenen, einen strammen, blonden Mann. Und da der Mann, der beim ersten Mal den Feind gegeben hatte, schon vor dreißig Jahren gestorben war, fiel die Rolle nun an den Zweitgeborenen des Königs, der sich mit seinen feinen Händen schwer daran tat, den Hammer zu heben.
„Diese Rüstung“, sagte der Erstgeborene, während sie auf den Pferden saßen und mit offenen Visieren auf ihren Einsatz warteten, „dieses klobige Ding, es ist kein Wunder, dass mein Vater damals fast verreckt ist. Und dieses Schwert? Es ist stumpf und schlampig tariert, wie soll man damit zuschlagen können?“ Der Erstgeborene hieb mit dem Schwert durch die Luft. „Wir werden leichtere Rüstungen brauchen und schärfere Schwerter.“
„Euer Gnaden“, sagte Brass und der junge Mann drehte seinen Kopf zu Brass und nickte ihm zu.
„Wartet hier“, sagte er, „Ihr seht nicht gut aus, wir wollen doch meine Feier nicht durch einen alten, toten Helden verderben.“
„Schaff das schon, Euer Gnaden.“
„Ist schon Recht. Es ist ja auch Euer Tag“, wieder lächelte der Erstgeborene. „Passt auf, dass sie Euch nicht die Knochen brechen, wenn sie Euch aus dem Sattel heben. Der Waffenmeister hat gesagt, da geht es manchmal etwas rau zu.“
„War beim ersten Mal dabei. Ging auch rau zu.“
Eine Fanfare ertönte, der Erstgeborene klappte sein Visier herunter, gab dem Pferd die Sporen und sie preschten dahin.
Brass hatte man eine Sonderposition zugedacht: Er würde das Banner halten.
Die Schar der Getreuen lichtete sich um den falschen Fürsten. Links und rechts neben Brass wurden die Männer aus den Satteln gestoßen unter Juchei und Juchee, die schwarz verkleideten Soldaten mit ihren angeklebten Bärten setzten sich auf die gefallenen Pagen und Waffenknechte in ihren Blechrüstungen. Schon konnte Brass das Rudel der gefährlich aussehenden Kerle ausmachen, dort war der Zweitgeborene mit dem großen Hammer und auch einige andere Leute, die er vor dreißig Jahren getötet hatte, fand er vor sich versammelt. Nun rannten sie auf ihn zu. Und dort, schließlich, sah er auch sich selbst. Dort sah Brass Brass, mit roter Farbe verschmiert, den abgebrochenen Speer hielt er nach oben, als wolle er ihn werfen, der Mann hatte die Statur eines Ringkämpfers und das gebräunte Gesicht eines Bauern.
Fast zärtlich nahmen sie den echten Brass nun vom Gaul. Die Schergen hoben ihn aus dem Sattel, setzten ihn auf das Gras der purpurnen Felder und fielen dann unter den falschen Schlägen des Fürsten zusammen, bevor der selbst vom Pferd gezogen und von dem Barbar mit dem riesigen Hammer unter dem Gejohle des Publikums auf den Boden geworfen wurde.
Der Erstgeborene lag zu Füßen des Zweitgeborenen, der hatte den Hammer erhoben und zum Schlag angesetzt und wurde von Brass zu Fall gebracht, der zum echten Brass ging, ihm das Banner aus der Hand entriss, sich nun vor den Fürsten stellte und mit getäuschten Schlägen Barbar um Barbar zu Fall brachte. So ein Spektakel war's, dass niemand sah, wie Brass im Gras der purpurnen Felder verschied.
So ein Spektakel war's, dass niemand, nicht einmal der junge Brass, vernehmen konnte, was der alte Brass noch zu sagen hatte, als ihm das Banner aus der Hand gerissen wurde: „Nicht.“