Brave New State
Liebe Anna,
tut mir leid, dass ich dir solange nicht geschrieben habe, aber du musst wissen, dass hier inzwischen das Porto durch Erhöhung der Mehrwert- und der Kommunikationssteuer Dimensionen angenommen hat, die eine Reduzierung des Schriftwechsels dringend geboten erscheinen lassen. So werde ich dir zukünftig stets nur einmal jährlich einen längeren Brief schreiben und hoffe, dass du dich nicht an der gewählten Schriftgröße vier störst, dadurch kann ich Kosten sparend beim Postkartenformat bleiben.
Aber nun zurück zu meinem Brief. Ich fühle mich hervorragend, mir geht es super. Muss sogar sagen, Allen hier in Deutschland geht es gut. Man besinnt sich inzwischen wieder mehr auf die elementaren Dinge des Lebens und verzichtet auf den Schnickschnack. Was ich damit meine? Will ich dir gern erzählen, bin ich doch stolz, meinen Beitrag hierzu geleistet zu haben.
Du entsinnst dich, dass zu Zeiten, als du noch hier wohntest, die Verhältnisse immer erschreckendere Ausmaße annahmen und endlich die Zeit für Taten gekommen war? Als du fortzogst, bekamen wir das Mandat und endlich konnten wir Maßnahmen ergreifen, die in unserem Sinne Wirkung entfalten würden.
Nur ein kleines Beispiel: Wir haben die bereits oben erwähnte Kommunikationssteuer, wir nennen sie auch Informationssteuer, eingeführt. Zuerst beschränkt auf durch elektronische Medien übertragene Inhalte, d.h. Radio, TV, Telefon, PC. Aus Datenschutzgründen gab es Widerspruch, aber wir gewährleisteten den Einsatz vereidigter Datenschützer, die für eine Anonymisierung der Inhalte zu sorgen haben. Dadurch konnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Wir erzielten sehr hohe Steuereinnahmen und reduzierten durch die Schaffung der Datenschützerarbeitsplätze deutlich die Arbeitslosenquote. Im Moment sind wir, um es mal betriebswirtschaftlich auszudrücken, noch nicht am Break-Even-Point, d.h. noch kosten die Datenschützer mehr, als wir durch die Steuereinnahmen gewinnen. Aber jetzt haben wir die Kommunikationssteuer auch auf andere Bereiche ausgedehnt, nämlich die Informationsübermittlung im Privatgespräch. Ist ja auch eine Dienstleistung. Kannst du dir vorstellen, zwischen wem die informationsträchtigsten Gespräche stattfinden? Zwischen weiblichen Teenagern. Unglaublich, was die sich gegenseitig erzählen. Aber ich schweife ab, glaube es einfach, es ist so, und das bedeutet, dass wir eine Zielgruppe antreffen, die durch Besteuerung der üppigen Taschengeldzahlungen in der Lage ist, die Defizite durch die Datenschützer auszugleichen.
Aber das ist ja nur ein kleines Beispiel unserer vielseitigen Initiativen, ich sollte es dir lieber chronologisch aufzeigen, was wir geschaffen haben. Weitere Dinge, die gleich zu Beginn unserer Regierungsperiode durchgesetzt wurden, sind:
- Rente erst ab 70, dadurch bleiben die alten Menschen, die viel Rente bekommen müssten, länger in Arbeit und zahlen statt zu kosten. Stattdessen bleiben junge Leute arbeitslos, die zum großen Teil noch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, und wenn ja ist das dann auch genau die Zielgruppe, die die Zeit richtig zum Feiern nutzen kann, die vor lauter Langeweile ihr Arbeitslosengeld sofort wieder ausgibt.
- Privatisierung der Kirchen, mit der Folge, dass sie nun für ihre Einnahmen –die Kirchensteuer- selbst Steuer bezahlen müssen, die Kollekte (wir haben Kollektenbetragsermittler eingestellt) unterliegt natürlich auch der Besteuerung,
- Arbeitslosengeld, -hilfe und Sozialhilfe wurden um 50% der bisherigen Leistung reduziert, zur Deckung der staatlichen Verwaltungskosten. Ohne Arbeit zu sein wurde Existenz bedrohend, ein gutes Motiv zur Eigeninitiative.
- Aufstockung der Bundeswehr um weitere 150.000 Soldaten (es wurden nur Arbeitslose genommen – mit einem beispiellosen Soforteffekt am Arbeitsmarkt, das muss uns erst mal jemand nachmachen),
- Dann wurde der UNO zugesagt, dass wir uns mit 150.000 Mann an Auslandsaufgaben beteiligen – Einsatzort egal (im worst-case lebt unser Soldat ab, wir brauchen kein Arbeitslosengeld mehr zahlen, bzw. kein Sold, sondern erhalten die vereinbarten, hohen Entschädigungen von der UNO),
- auf die bisherigen Lohn-/EST-Sätze wurden pauschal noch mal zehn Prozent aufgeschlagen, aber dadurch passierte unvorhergesehenermaßen etwas, was zuerst so aussah, als sei die Entscheidung nicht richtig gewesen: Die Leute hatten weniger Geld, kauften weniger, die Unternehmen hatten keine Produktionsauslastung mehr und entließen ihre Mitarbeiter, die Arbeitslosenquote stieg wieder, weniger Beschäftigte zahlten weniger Sozialbeiträge, wir mussten wieder die Steuern erhöhen, und das Ganze fing von vorn an. Ultima Ratio zwang einem unserer Genies einen genialen Schachzug auf, da er erkannte, dass Schuld am Beginn der gesamten Arbeitsmarktmisere vor langen Jahren die Ersetzung des Menschen durch Maschinen war. Die einzig logische Folgerung war die Umkehrung: Ersatz der Maschine durch den Menschen! Mit dieser Idee war der Weg klar vorgegeben. Sämtliche Maschinen produzierender Unternehmen wurden mit einer Maschinensteuer belegt (zugegeben, die Höhe war etwas überzogen), die Abschreibungsmöglichkeit um 50% reduziert. Zuerst hatten wir erhebliche Steuereinnahmen durch die Maschinensteuer und größere Gewinne durch geringere Abschreibung, dann wurden die Einnahmen geringer, aber die Arbeitslosenquote sank, weil statt teurer Maschinen nunmehr billiges Menschenmaterial eingesetzt wurde. Es war wie die Entdeckung des Perpetuum Mobile: Steuern hoch, Arbeitslose runter.
Die Leute verdienten immer weniger, aber es war immer noch lukrativer für ein paar Cent zu arbeiten, als sich mit den Leistungen des Staates zu begnügen. Die Arbeitgeber stellten die Gehaltszahlungen auf „quartalsweise“ um, damit die Überweisungsgebührungen nicht den Betrag der Überweisung übersteigen.
Ich bin davon nicht so betroffen, denn ein Großteil dieser neuen Ideen kommt von mir und ich bin inzwischen Politiker geworden. Man hat ein Kreativ-Ministerium geschaffen und ich habe die Ehre als Minister berufen worden zu sein. Du siehst Anna, es hat sich viel getan. Anna, es ist richtig schön, das Leben ist beschaulich geworden. Der Einfluss der Maschinen ist verschwunden. Sie waren es, die die Maxime „immer mehr, immer schneller, immer größer, immer kleiner, und so weiter“ in die Gehirne der Menschen pflanzten. Heute leben wir hier, fast wie im Mittelalter, aber wir wissen warum. Die Menschen sind zufrieden, wenn sie abends ins Bett gehen und die Sicherheit haben, am nächsten Morgen wieder für ein paar Euro arbeiten gehen zu dürfen.
Selbstverständlich gibt es noch immer die ewig Gestrigen, die die Zeichen der Zeit nicht erkennen wollen. Nächsten Monat sind Wahlen und ich bin guter Dinge, dass wir für weitere vier Jahre im Amt bestätigt werden. Die CDU spricht zwar davon, sie sei überzeugt, diesmal mindestens 70 % zu bekommen, aber vertrau meiner Einschätzung: Wir bleiben dran!
Wenn nicht, hätte ich schon ein paar Ideen, wie alles rückgängig gemacht werden könnte. Die würde ich dann mit der CDU besprechen.
So long, liebe Anna, grüße Osama und dank ihm noch mal für die freundliche Unterstützung.
Dein Karl