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Christnacht

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02.11.2001
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Christnacht

Als draußen der Hund anschlug, so früh am Morgen, da bekamen wir drinnen im Haus eine Ahnung davon, was in den Wäldern und den Bergen rundum so plötzlich losbrach. Es hatte die letzten beiden Tage ohne Unterlass geschneit. Das Weiß einer schier unbesiegbaren Wand stand um uns. Der Schnee türmte sich um die Bohlenwände unseres Hauses. Der Frost nahm zu. Es war so kalt, dass es klirrte. Im Keller waren die letzten Bestände unserer Kartoffeln erfroren. Sie waren mit einem Pilz überzogen, waren ungenießbar geworden. Der Pilz hatte etwas Grünes in seiner Farbe. Aber auch das Schwarz darin stieß ab.
Wir hatten Sauerkraut, das in hölzernen Bottichen eingelegt war. Darüber hatte sich der Frost nicht hergemacht. Darüber nicht. Wir hatten eine Unmenge Salz mit hinein getan. Den Frost hatten wir damit besiegt. Nicht aber den Hunger, der gegen die Magenwände polterte.
Vater meinte, dass wir uns die Hühner langen sollten. Er hätte es nie getan. Aber dieser Winter, der nicht zu Ende gehen wollte, der schaffte auch Vater. Er brachte das zur Sprache, was jeder von uns insgeheim hoffte, dass er es sagen würde. Wir sahen es ihm an, dass er dabei litt. Aber an diesem Morgen, eben als der Hund zu winseln begann, war es klar, dass Vater über seinen Schatten springen würde. Wir tranken den heißen Tee in der Stube und dann sagte Vater etwas Eigenartiges zu uns.
Es sind unsere Hühner, sagte er. Sein Atem wabberte vor seinem Mund, jedes Wort ergab eine kleine Wolke. Die Kälte war bereits hier bei uns in der Stube. Die Eisenplatte des einzigen Herds glühte und nur unsere Gesichter glühten mit. Der Hunger machte das Fehlen warmer Füße schlimmer, als wir jemals zuvor erlebt hatten.

Es sind unsere Hühner, sagte er.
Ich kann rausgehen in den Stall. Ich kann zwei oder drei von denen runterholen von den Stangen. Wenn ich das tue, werde ich die Axt mitnehmen. Dann haben wir was für ein paar Tage. Wenn der Frost nicht schlimmer wird. Es liegt an euch. Wer es so will, der hebt die Hand. Ich will nur noch dazu eines sagen. Es ging bis jetzt ohne dem, über das wir hier abstimmen. Und wir werden weniger Eier haben, wenn wir morgens unter unseren Decken hervorkriechen. Zeigt mir, was ihr wollt. Jetzt. Zeigt es mir ganz einfach.
Es wird, so wie es kommt, schon richtig sein.

Es war diese Stille in der Stube.
Keiner sagte was. Keiner hob die Hand.
Wir starrten die schmutzigen Bretter des Bodens und die vom Ruß geschwärzten Bohlen der Decke an. Wir hörten unsere Mägen, spürten die Revolution, die von dort ausging, empfingen die Faustschläge, die der Hunger dort hineingrub. Wir hatten Hunger, alle, ohne Ausnahme. Aber wir hatten nur dieses eine Dutzend Hühner draußen, das wir hierher mitnahmen, als wir meinten, in diesem Tal den Ort gefunden zu haben, an dem wir glücklich werden könnten.
Es kam uns vor, als würden wir die wichtigste Entscheidung unseres Lebens treffen müssen. Hier und jetzt.
Ein, zwei Leben im Tausch gegen ein sattes Gefühl.
Mutter hatte Vater machen lassen, hatte nichts dazu gesagt.
Sie beobachtete uns und konnte damals wahrscheinlich erkennen, wie sich die Rädchen in den Köpfen von uns Kindern drehten. Wir hatten für jedes Huhn einen Namen gefunden. Wenn der Sommer seine Hitze gegen das Tal drosch, hatten wir unseren Hühnern von den immer feuchten Bachwiesen Würmer geholt. Wir kannten alle und sie hatten Namen.
Wir hatten aber auch Sauerkraut in den Bottichen.
Vater starrte in das Feuer. Die Herdtür hatte Mutter offen gelassen. Durch die Stube tanzten Schatten, tanzten mit ihren Flammenzungen, warfen das Licht des Morgens mit all seiner Schwäche gegen die ächzenden Wände.

Es mochte lange gedauert haben.
Wir saßen da und wussten, dass wir es so nicht wollten. Wir wussten, dass wir nicht wollten, dass Vater rausging, rüber zu den Ställen. Wir wussten die da draußen beim Namen zu rufen. Sie gehörten hierher. Zu uns.
Irgendwann begann sich Vater zu räuspern, strich uns über das in allen Richtungen wegstehende Haar und hatte hart wirkende Lippen. Lippen, die sonst weich waren und voll. Meine Kinder, sagte er nur.
Dann ging er zum Herd, wo Mutter saß, gab ihr einen kurzen Kuss auf die Wange.
In den tiefen Falten seiner Augenwinkel blitzte es auf.
Vater war nicht der, der Gefühle zeigte. Sein Handrücken wischte darüber.
Wir sahen es trotzdem. Vater hätte besser mit der Axt gekonnt. Das hatten wir bis zu diesem Moment gedacht. Als er Mutter küsste, wussten wir, dass wir morgens Eier zum Frühstück bekommen würden.
Morgen war Christnacht.
Wir würden die Hühner, das ganze Dutzend, in ihrem Stall sprechen hören. Alle Tiere sprechen in dieser Nacht. Das geht so seit Jahrtausenden.
Wir würden wieder Sauerkraut essen.
Aber es würde mehr dahinterstecken.
Es würde schmecken wie sonst nie.

 

Aqua, ein wunderbarer Text!

Man kann die Kälte, den Hunger so deutlich vor sich sehen... und die Entscheidung für das Leben der Hühner, für das Sauerkraut, muss hart gewesen sein... aber dennoch mit einem guten Gefühl verbunden. Irgenwie ein text, der auf mich natürlich wirkt, Aqua, und hart und ehrlich... ich weiß nicht, wie ich es besser beschreiben soll. Mir hat er sehr, sehr gut gefallen!
Schöne Grüße, Anne

 

Schließe mich Maus an, aber - muss der letzte Satz sein? Wirkt ein bisschen moralisierend oder erklärend. Ich finde ihn eigentlich überflüssig, weil er dem Leser quasi die Intention aufs Auge drückt.

 

Danke, Maus.
Danke, Ginny-Rose. Du hattest recht.

Liebe Grüße - Aqua

 

Hallo Aqualung!

Eine wunderschön traurige Geschichte, und weil ich grad keine Zeit hab, sag ich nur: unverkennbar Marke Aqua ;)

Nur die eine Frage: Warum hast Du sie nicht unter "Weihnachten" gepostet?

Und:

"Es war so kalt, das es klirrte. Im Keller waren die letzten Bestände unserer Kartoffel erfroren."
- so kalt, daß es klirrte
- Kartoffeln (eigentlich für Dich ja "Erdäpfel"...)

"Es kam uns vor als würden wir"
- kam uns vor, als

Alles liebe,
Susi

 

Hallo Aq, "Vor dem Advent?" oder spielt das schon alles im Jänner? (so sagt man doch). Welche Hausnr. in welcher Gasse? Diese Kälte! Sie schneidet, schneidet in das Leben!


Genialer Stil, für den einfachsten Inhalt der Welt. Genial

Liebe Grüsse Stefan

 

Ich sollte mich vielleicht noch einmal äußern und sagen was mir an der Geschichte so gefällt: Der Stil sagt mir hier mehr zu als bei manchen deiner anderen Geschichten. Nicht zu abgehackt (ich bin da ziemlich heikel), sondern schön flüssig. Die Atmosphäre entfaltet sich gut, trotz der Kürze, die hier angemessen ist.

Ich bin ja der Meinung, dass die Zeit um Weihnachten etwas Besonderes ist, unabhängig vom religiösen Empfinden. Es ist vielleicht etwas ketzerisch, aber wenn jemand es einafch als "Fest der Liebe" betrachtet, ohne dabei an Christus zu denken, finde ich das auch gut. Ursprünglich war es ja wohl gar kein christliches Fest.
Ich denke, in dieser Nacht, um Heiligabend, liegt einfach ein besonderer Zauber in der Luft. Der Winter, die Kälte, und das sich zuende neigende Jahr - das lässt sicher kaum jemanden unberührt und beschwört eine ganz spezielle Stimmung herauf.
Und hier in der Geschichte wird dieser Zauber offenbar, werden die Gefühle lebendig, schlägt das Gewissen, regiert die Barmherzigkeit. Das alles geschieht aber sehr dezent. Es ist keine Geschichte um ein großes Wunder, keine aufgewärmte Story von der Geburt Jesu, sondern hier zeigt sich das Wunder der Weihnacht im ganz kleinen Rahmen. Nicht aufdringlich und mit viel Tamtam, sondern eher still und rustikal.

Ich kanns nicht so gut beschreiben, aber ich hoffe es kommt rüber, was ich meine. :sad:

@Arche ...

Vor dem Advent?" oder spielt das schon alles im Jänner?
Das war jetzt aber keine ernste Frage, oder? :confused:
(Manchmal versteh ich Deinen Humor nicht. :D)

Ginny :xmas:

 

Ginny, ich empfehle dir eine Geschichte von Aq,
"Vor dem Advent" Dann gehen die Licher auf!
Ich nehme mir raus, du wirst es verstehen, ganz persönlich zu antworten, ohne dafür zu sorgen, andere in gemeinten Kontext zu involvieren!

Klar verstehest du das Ginny-Maus!

Danke

Arche

 

Arche, Ginny-Rose,

ich umarme euch beide und danke für eure sehr herzlichen Worte. Ja, die Tage um das Weihnachtsfest haben etwas besonderes.
Sie haben die Melancholie, die Trauer und die Hoffnung des gesamten vergehenden Jahres in ihren Stunden verpackt.
Alles klar, Arche. Ich weiß deine Worte zu verstehen.

Liebe Grüße an euch beide - Aqua

 

Lieber Aqua,
schön, dass die Hühner mit den Kindern wieder sprechen können im Sommer, wenn der Schnee mit dem Bach das Tal verlassen hat.
Ich war in der Küche, wie du im Stall, die Ofenplatte leuchtete Orange und die Ringe erinnerten an die um Jupiter und Saturn.
Ein schöner Text, warm.
Merlinwolf*********************

 

Vor den Tagen, die das Fest der Liebe umschließen, kommen und gehen Gedanken wie die in meiner Geschichte.
Ich habe tatsächlich an Hühner gedacht, Merlinwolf, daraus entstand der eigenartige Zugang zum Thema Weihnacht.
Es freut mich sehr, dass du dabei bist.

Liebe Grüße an dich - Aqua

 

Hab jetzt erst diese drei Jahre alte Geschichte gelesen und muss sagen: Ich verstehe nicht, warum alle so von diesem Text schwärmen. Sorry.
Die Geschichte zwar "schön" sein, enthält aber einige Ungereimtheiten.
Wenn die Familie ein Dutzend Hühner hat und zwei davon tötet, bleiben immer noch zehn. Und die können mehr Eier legen, als die Familie ohne gesundheitliche Schäden auf Dauer essen kann. Also gehen die Eier der beiden zu tötenden Hühner keineswegs ab. Der Satz am Ende, "... wussten wir, dass wir morgens Eier zum Frühstück bekommen würden" ist also ziemlich sinnlos. Denn die Eier gäb's auch mit nur zehn Hühnern weiterhin.
Der Erzähler beschwört die Kälte des Winters so beharrlich und wiederholt, dass dies ziemlich nervend wirkt. Viele der Kälte invozierenden Sätze könnte man streichen. So bereits zu Beginn: "Der Frost nahm zu. Es war so kalt, dass es klirrte." Der zweite Satz bringt weder neue Information noch zusätzliche Atmosphäre. (Kann man überhaupt sagen "er / sie / es klirrt"?, oder gibt's das nur als Phrase "klirrende Kälte"?). Was mich stört, ist auch, dass einerseits die Kälte so oft herbeizitiert wird (das Wort "Frost" fällt dreimal innerhalb von sechs Zeilen), andererseits aber der Effekt zunichte gemacht wird, indem der Erzähler seine Prots Tee trinken lässt.
Außerdem: Von einem Winter zu sprechen, der "nicht zu Ende gehen wollte", passt nicht: Es ist ja erst Dezember, und wie kann man da schon über einen langen Winter klagen?? Über einen harten Winter meinetwegen.
Die Beschreibung des Pilzes auf den Kartoffeln ist in Relation zur Gesamtlänge der Geschichte mE zu lang geraten, weil irrelevant. Dass man die DInger nicht mehr essen kann, hat man schon nach dem ersten Satz kapiert.
Darüber hinaus enthält die Geschichte grammatikalische Fehler: "Es ging bis jetzt ohne dem, über das wir hier abstimmen" muss wohl "...ohne das, worüber..." heißen. Und dass der Vater einen Satz sagt wie "Wir werden weniger Eier haben, wenn wir morgens unter unseren Decken hervorkriechen", scheint mir unwahrscheinlich. Das ist wohl eher der Stil des Erzählers als der seiner Figur.
Hätte noch mehr anzumerken, doch die Geschichte ist ja schon alt. Aber loswerden wollt ich's doch...

 

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