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Christnacht
Als draußen der Hund anschlug, so früh am Morgen, da bekamen wir drinnen im Haus eine Ahnung davon, was in den Wäldern und den Bergen rundum so plötzlich losbrach. Es hatte die letzten beiden Tage ohne Unterlass geschneit. Das Weiß einer schier unbesiegbaren Wand stand um uns. Der Schnee türmte sich um die Bohlenwände unseres Hauses. Der Frost nahm zu. Es war so kalt, dass es klirrte. Im Keller waren die letzten Bestände unserer Kartoffeln erfroren. Sie waren mit einem Pilz überzogen, waren ungenießbar geworden. Der Pilz hatte etwas Grünes in seiner Farbe. Aber auch das Schwarz darin stieß ab.
Wir hatten Sauerkraut, das in hölzernen Bottichen eingelegt war. Darüber hatte sich der Frost nicht hergemacht. Darüber nicht. Wir hatten eine Unmenge Salz mit hinein getan. Den Frost hatten wir damit besiegt. Nicht aber den Hunger, der gegen die Magenwände polterte.
Vater meinte, dass wir uns die Hühner langen sollten. Er hätte es nie getan. Aber dieser Winter, der nicht zu Ende gehen wollte, der schaffte auch Vater. Er brachte das zur Sprache, was jeder von uns insgeheim hoffte, dass er es sagen würde. Wir sahen es ihm an, dass er dabei litt. Aber an diesem Morgen, eben als der Hund zu winseln begann, war es klar, dass Vater über seinen Schatten springen würde. Wir tranken den heißen Tee in der Stube und dann sagte Vater etwas Eigenartiges zu uns.
Es sind unsere Hühner, sagte er. Sein Atem wabberte vor seinem Mund, jedes Wort ergab eine kleine Wolke. Die Kälte war bereits hier bei uns in der Stube. Die Eisenplatte des einzigen Herds glühte und nur unsere Gesichter glühten mit. Der Hunger machte das Fehlen warmer Füße schlimmer, als wir jemals zuvor erlebt hatten.
Es sind unsere Hühner, sagte er.
Ich kann rausgehen in den Stall. Ich kann zwei oder drei von denen runterholen von den Stangen. Wenn ich das tue, werde ich die Axt mitnehmen. Dann haben wir was für ein paar Tage. Wenn der Frost nicht schlimmer wird. Es liegt an euch. Wer es so will, der hebt die Hand. Ich will nur noch dazu eines sagen. Es ging bis jetzt ohne dem, über das wir hier abstimmen. Und wir werden weniger Eier haben, wenn wir morgens unter unseren Decken hervorkriechen. Zeigt mir, was ihr wollt. Jetzt. Zeigt es mir ganz einfach.
Es wird, so wie es kommt, schon richtig sein.
Es war diese Stille in der Stube.
Keiner sagte was. Keiner hob die Hand.
Wir starrten die schmutzigen Bretter des Bodens und die vom Ruß geschwärzten Bohlen der Decke an. Wir hörten unsere Mägen, spürten die Revolution, die von dort ausging, empfingen die Faustschläge, die der Hunger dort hineingrub. Wir hatten Hunger, alle, ohne Ausnahme. Aber wir hatten nur dieses eine Dutzend Hühner draußen, das wir hierher mitnahmen, als wir meinten, in diesem Tal den Ort gefunden zu haben, an dem wir glücklich werden könnten.
Es kam uns vor, als würden wir die wichtigste Entscheidung unseres Lebens treffen müssen. Hier und jetzt.
Ein, zwei Leben im Tausch gegen ein sattes Gefühl.
Mutter hatte Vater machen lassen, hatte nichts dazu gesagt.
Sie beobachtete uns und konnte damals wahrscheinlich erkennen, wie sich die Rädchen in den Köpfen von uns Kindern drehten. Wir hatten für jedes Huhn einen Namen gefunden. Wenn der Sommer seine Hitze gegen das Tal drosch, hatten wir unseren Hühnern von den immer feuchten Bachwiesen Würmer geholt. Wir kannten alle und sie hatten Namen.
Wir hatten aber auch Sauerkraut in den Bottichen.
Vater starrte in das Feuer. Die Herdtür hatte Mutter offen gelassen. Durch die Stube tanzten Schatten, tanzten mit ihren Flammenzungen, warfen das Licht des Morgens mit all seiner Schwäche gegen die ächzenden Wände.
Es mochte lange gedauert haben.
Wir saßen da und wussten, dass wir es so nicht wollten. Wir wussten, dass wir nicht wollten, dass Vater rausging, rüber zu den Ställen. Wir wussten die da draußen beim Namen zu rufen. Sie gehörten hierher. Zu uns.
Irgendwann begann sich Vater zu räuspern, strich uns über das in allen Richtungen wegstehende Haar und hatte hart wirkende Lippen. Lippen, die sonst weich waren und voll. Meine Kinder, sagte er nur.
Dann ging er zum Herd, wo Mutter saß, gab ihr einen kurzen Kuss auf die Wange.
In den tiefen Falten seiner Augenwinkel blitzte es auf.
Vater war nicht der, der Gefühle zeigte. Sein Handrücken wischte darüber.
Wir sahen es trotzdem. Vater hätte besser mit der Axt gekonnt. Das hatten wir bis zu diesem Moment gedacht. Als er Mutter küsste, wussten wir, dass wir morgens Eier zum Frühstück bekommen würden.
Morgen war Christnacht.
Wir würden die Hühner, das ganze Dutzend, in ihrem Stall sprechen hören. Alle Tiere sprechen in dieser Nacht. Das geht so seit Jahrtausenden.
Wir würden wieder Sauerkraut essen.
Aber es würde mehr dahinterstecken.
Es würde schmecken wie sonst nie.