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Dämmerlicht

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Dämmerlicht

Hinter einer Fensterscheibe im zweiten Stock hockte eine graue Katze und starrte zu mir herunter. Ein Güterzug rumpelte über die Eisenbahnbrücke, in deren Schatten ich stand. Die Katze schien die Erschütterung wahrzunehmen. Sie wandte kurz den Kopf, dann machte sie einen Satz und verschwand hinter der Gardine, die ihr einen Augenblick zuvor noch eine Bühne geboten hatte. Es dauerte bestimmt noch zehn Minuten, bis ich mir einen Ruck gab. Ich überquerte die Straße und suchte auf dem Klingelschild neben der alten Holztür nach ihrem Nachnamen. Dubois. Fräulein Dubois, hatten sie sie immer genannt. Es klang mir noch im Ohr.

Im Treppenhaus roch es nach kaltem Putz, auch wenn es allem Anschein nach seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert worden war. Ich zwang mich, die Stufen zügig hochzusteigen, den Moment nun nicht mehr hinauszuzögern. Sie lehnte im Türrahmen. Als sie mich erkannte, verschwand die markante Falte zwischen ihren Augenbrauen. Diese Falte kannte ich nur zu gut. Sie verwandelte ihr eigentlich so offenes Antlitz in das eines störrischen Bocks oder Widders.
“Du bist es!”
“Ja.”
“Warst du in der Gegend?”
“Sozusagen.”

Ich folgte ihr in die Wohnung. Sie war dunkel. Das kleine Fenster in der Dachschräge ließ nicht genug Licht hinein, um jede Ecke auszuleuchten.
“Setz dich!”
Ich warf einen Blick auf die Couch.
“Oh, warte! Ich räume das weg!”
Sie begann, die Sitzfläche von Büchern, Kartons, Kleidungsstücken und anderem Kram zu befreien.
“So, so, du liegst also den ganzen Tag im Bett.”
Ich meinte es scherzhaft, aber sie nahm es ernst.
“Im Moment habe ich Mühe aufzustehen.”
“Kenn ich.”
Ich ließ mich in die Polster fallen.
“Wie lange wohnst du schon hier?”
Sie packte etwas raschelnd in eine Tüte und überhörte meine Frage.
“Ich hab gar nichts da.”
“Macht nichts.”
“Oder sollen wir in ein Café gehen?”
“Lieber hierbleiben.”
“Ich kann Tee machen. Magst du Tee?”
“Sicher.”
Sie verschwand im Nebenraum.
“Ich hab Kamille und welchen mit Vanille und Erdbeer.”
“Süße Liebe?”
“Was?”
“So heißen diese Tees doch immer.”
“Ich weiß nicht.”
“Egal, den mit Erdbeer dann.”
Ich hörte das Wasser aus dem Hahn rauschen.
“Wie lange wohnst du schon hier?”
“Zwei Jahre.”
“Gefällt’s dir?”
“Ja, ist gut.”
“Wo hast du vorher gewohnt?”
“In Dormagen.”
“Ok, da ist das hier auf jeden Fall besser.”
“Kennst du Dormagen?”
“Nein.”

Nach ein paar Minuten kam sie mit zwei dampfenden Tassen wieder, die sie auf den Tisch vor der Couch stellte. Sie setzte sich neben mich. Ihre Schulter drückte sanft gegen meine. Es gefiel mir, ihr so nah zu sein. Ich überlegte, den Arm um sie zu legen und sie zu küssen, tat es aber nicht. Stattdessen griff ich nach einer DVD-Hülle auf dem Couchtisch.
“Control!”
“Ich liebe den Film. Kennst du ihn?”
Ich drehte die Hülle um und las.
“Joy Division …”
“Über den Sänger, Ian Curtis. Ich fühle mich ganz genau so wie er.”
“Hat er sich nicht umgebracht?”
“Ja.”
Ich legte die Hülle zwischen unsere Teetassen.
“Musst du mir mal ausleihen.”
Dann küsste ich sie. Ich merkte, dass sie darauf gewartet hatte. Der Kuss dauerte lange. Sehr lange. Anschließend dampfte der Tee nicht mehr. Er schmeckte scheußlich.
Sie sah mir in die Augen. “Warum bist du vorgestern gegangen?”
“Weil ich genug hatte?”
“Von mir?”
“Auch.”
“Aber jetzt bist du hier.”
“Ja.”
“Bis du wieder genug hast?”
“Mal sehen.”
Ich lachte und küsste sie wieder. Als sie sich lösen wollte, hielt ich sie fest. Danach machte sie keine Bewegung mehr von mir weg. Wir zogen uns aus und schliefen miteinander. Sie blieb auf der Couch sitzen, mit gespreizten Beinen, ich kniete mich vor sie. Eines der Sofakissen machte es etwas bequemer für mich. Sie hielt die Augen die ganze Zeit geschlossen und stöhnte lauter, als ich es in Erinnerung hatte. Gerne hätte ich sie angefasst, aber ich brauchte meine Hände, um mich abzustützen. Ich spürte den Schweiß auf meinem Rücken. Ohne ihn abzuwischen, setzte ich mich wieder neben sie, nachdem ich in ihr gekommen war. Sie nahm ein gelbes Päckchen in die Hand und öffnete es. Ich roch den Tabak.
“Darf ich mir auch eine drehen?”
“In der Klinik hast du nicht geraucht.”
“Doch, manchmal.”
Sie rollte ein braunes Bündel zwischen den Fingern hin und her und reichte mir das Päckchen.
“Und du hast kein Bier getrunken. Weißt du noch? Wo wir in dieser Kneipe waren?”
Ich rupfte am Tabak herum, bis mir die Menge angemessen erschien.
“Du hast dich nicht getraut.“
“Wegen den Tabletten. Ist ja auch ungesund.”
“Alles ist ungesund.”
“Brokkoli nicht. Himbeeren auch nicht.”
“Sehr witzig.”
Es gelang mir, eine ansehnliche Zigarette zu drehen. Der erste Zug füllte mich bis in die Fingerspitzen aus. Danach wurden meine Züge flacher und flacher, bis es eklig schmeckte. Sie drückte ihre Zigarette aus. “Das war lange!”
“Ist das Zoloft. Das macht ihn taub.”
“Oh! Spürst du weniger davon?”
“Etwas weniger, ja. Bist du gekommen?”
“Ja.”
“Klingt nicht sehr überschwänglich.”
“Ich komme immer.”
“Sag ich ja.”
“Ich will, dass du mich richtig fest packst!”
“Dann müssen wir es wohl noch mal machen.”
“Kannst du schon wieder?”
Ich betrachtete kurz den Zigarettenstummel, bevor ich ihn in den Aschenbecher fallen ließ.
“Gib mir zwanzig Minuten, ok?”
Sie stand auf und machte sich an einer Stereoanlage im Bücherregal zu schaffen.
“Warte, ich muss dir was zeigen.”
Es dauerte eine Weile, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.
“Das?”
“Ja.”
“Warum?”
Im Dämmerlicht der Dachkammer wiegte sie ihre Hüften im Takt.
“Das Lied hat mich immer an dich erinnert.”
Ich ließ meinen Blick auf ihrem Schamhaar ruhen, auf dem Mittelpunkt ihres Körpers, eines ursprünglichen Körpers. Und in diesem Körper war mein Samen. Mit jeder Bewegung musste er ein wenig weiter absacken, bis er irgendwann aus ihr herauslaufen würde. Ich hoffte, dass es so kommen würde. Ich wollte es sehen.
“Was singt sie?”
“Le plus beau de quartier.”
“Der schönste im ganzen Viertel?”
“Oui.”
“Nehm ich!”
“Was?”
Ich stand auf und schlang die Arme um sie, nahm ihren Takt mit meinen Hüften auf.
“Das nehm ich!”, flüsterte ich in ihr Ohr. “Sagt man so.”

Wir tanzten, bis das Lied endete, dann legten wir uns ins Bett. Ich hatte jetzt noch größere Lust auf sie als zuvor. Sanft schob ich ihre Beine auseinander, nach dem Schimmer meines Samens suchend. Er empfing mich so warm und aufnehmend, dass ich nicht in sie hinein, sondern durch sie hindurch glitt. Dieses Mal dauerte es endlos, bis in die Nacht hinein. Und ich hätte noch bis zum Morgen weitermachen können. Allein ein großer Hunger veranlasste mich irgendwann zum Aufhören. Ich bat sie erneut um eine Zigarette.
“Ich glaube, ich geh jetzt mal.”
“Du kannst auch hier bleiben.”
“Besser, ich gehe.”
“Darf ich dich was fragen?”
“Immer.”
“Wolltest du mich damals nicht?”
“Es wäre nicht gut für unseren Therapieprozess gewesen.”
“Hat dir das Dr. Stochowski gesagt?”
“Stochowski ist ein Arschloch.”
“Hat er?”
“Ja.”
Ich verfolgte den Rauch bis unter die Dachpaneele. “Sehen wir uns die Tage wieder?”
“Wenn du das möchtest.”
“Möchtest du?”
“Ja.”
“Ich auch.”

 

Hallo @H. Kopper,
freut mich, wieder was von Dir zu lesen. Das ist vielleicht sogar Deine beste Geschichte. Eine sachliche Beziehung. Nur Sex. Keine Verliebtheit. Zwei, die sich bei einer Therapie in einer Klinik kennengelernt haben. Oder lässt Du da etwas durchscheinen? Das mit dem Tee ist eine gute Idee. Die Sorten haben wirklich total ausgeflippte Namen. Süße Liebe. Vielleicht ein Fingerzeig, dass da doch mehr ist. Mir geht gerade durch den Kopf, dass sowas, wie die hier geschilderte Beziehung eigentlich gar nicht geht. Jedenfalls nicht lange. Wenn die Beiden nicht irgendeine Bindung aufbauen, sind sie bald wieder da, wo sie sich kennengelernt haben. Der Text lässt Raum für Auslegungen.
Gruß Frieda

 

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