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09.07.: Text in dritte Person gesetzt und erweitert – alte Kommentare dadurch tw. nicht mehr passend.
Dämmerlicht
Hinter einer Fensterscheibe im zweiten Stock hockte eine graue Katze und starrte zu ihm herunter. Ein Güterzug rumpelte über die Eisenbahnbrücke, in deren Schatten er stand, und es hörte sich an, als würden die Stahlbögen gleich bersten. Die Katze schien die Erschütterung wahrzunehmen. Sie wandte kurz den Kopf, dann machte sie einen Satz und verschwand hinter der Gardine. Anstatt sich ebenfalls in Bewegung zu setzen, blieb er stehen. Er konnte sich einfach nicht dazu bringen, die Straßenseite zu wechseln und zu klingeln. Verlegen sah er sich um. Er kannte die Gegend nicht sehr gut, aber sie hatte ihn schon als Kind fasziniert. Das Backsteinhochhaus hinter dem Häuserblock, die Graffiti und die dunkle Unterführung mit den Konzertpostern, all das hatte einen Hauch von New York oder Chicago. Er mochte dreckige Städte; unbefleckte Straßen und Fassaden waren ihm suspekt. Wenn er in Filmen Szenen aus der Bronx oder Brooklyn sah, brennende Mülltonnen, Penner mit Handschuhen, deren Finger abgeschnitten waren, solche Sachen, dann kam in ihm immer ein warmes Gefühl von Zugehörigkeit auf. Dasselbe Gefühl hatte ihn einmal beschlichen, als er mit seiner Mutter über Ostern in Norditalien gewesen war. Sie waren zu einem Palazzo gefahren und nachdem sie die prunkvollen Säle besichtigt hatten, war er im Park vor dem Palazzo mit seinen Inline Skates herumgefahren. Dabei war er an einer Bank vorbeigekommen, auf der ein Mädchen saß, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Sie hatte dunkle, schulterlange Haare und Sommersprossen gehabt und ihn mit einem tieftraurigen Blick angesehen. Diesen Blick hatte er nie wieder vergessen können. Er bot ihm eine Heimat an, von der er damals eine erste Ahnung bekam.
Es dauerte bestimmt noch zehn Minuten, bis er sich einen Ruck gab. Er überquerte die Straße und suchte auf dem Klingelschild neben der schweren Holztür nach ihrem Nachnamen. Dubois. Fräulein Dubois, hatten sie sie in den Gruppensitzungen immer genannt. Es klang ihm noch im Ohr. Sie war damals immer aus etwas herausgerissen worden, wenn man ihren Namen sagte, hatte dann leise und kurz geantwortet, sich danach wieder in ihren Kampf verzogen. Niemals hatte sie sich von sich aus zu Wort gemeldet. Sie war ein scheues Geschöpf gewesen, ein Reh, das bei der kleinsten Irritation die Flucht ergriffen hatte. Er hatte ihr leise nachstellen müssen wie ein geübter Jäger, hatte jede ihrer Regungen lesen lernen müssen, bis sie ihm so vertraut geworden war, dass er ihre Reaktionen antizipieren und sie an seine Anwesenheit gewöhnen konnte. So hatte sie irgendwann genug Vertrauen gefasst, um zu ihm zu kommen, plötzlich nicht mehr tastend, sondern geradezu forsch, sodass es nun wiederum er gewesen war, der von ihr überrascht wurde.
Im Treppenhaus roch es nach kaltem Putz, auch wenn es allem Anschein nach seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert worden war. Er zwang sich, die Stufen zügig hochzusteigen, den Moment nun nicht mehr hinauszuzögern. Sie lehnte im Türrahmen. Als sie ihn erkannte, lächelte sie und die markante Falte zwischen ihren Augenbrauen verschwand. Diese Falte kannte er nur zu gut. Sie verwandelte ihr so offenes Rehantlitz mit einem Schlag in das eines störrischen Bocks oder Widders. Kannte man sie nicht, konnte man sie für tough halten, wenn sie in ihren Chucks und ihrer Lederjacke an irgendeiner Bushaltestelle stand und finster dreinblickend Selbstgedrehte rauchte. In diesen Momenten machte sie den Eindruck, gegen alles und jeden gewappnet zu sein.
„Du bist es!“
“Ja.”
Er umarmte sie und folgte ihr in die Wohnung. Sie war dunkel. Das kleine Fenster in der Dachschräge ließ nicht genug Licht hinein, um jede Ecke auszuleuchten.
„Setz dich!“
Er warf einen Blick auf die Couch.
„Oh, warte! Ich räume das weg!“
Sie begann, die Sitzfläche freizuräumen, und als er Platz hatte, ließ er sich in die Polster fallen.
„Wie lange wohnst du jetzt hier?“
Sie packte etwas raschelnd in eine Tüte und überhörte die Frage.
„Ich hab gar nichts da. Sollen wir nicht in ein Café gehen?“
„Lieber hierbleiben.“
„Ich kann Tee machen. Magst du Tee?“
„Sicher.“
Sie verschwand im Nebenraum.
„Ich hab Kamille und welchen mit Vanille und Erdbeer.“
„Süße Liebe?“
„Was?“
„So heißen diese Tees doch immer.“
„Ich weiß nicht.“
„Egal, den mit Erdbeer dann.“
Er hörte das Wasser aus dem Hahn rauschen und das Klicken vom Schalter des Wasserkochers. Er sich im Raum um. Sie hatte ein Hochbett, das einen kleinen Schreibtisch überspannte. An die Wand hatte sie einige ihrer Blumenzeichnungen gepinnt. Er erkannte eine wieder, die sie damals im Essbereich gezeichnet hatte, während er ihr gegenüber gesessen und sie gezeichnet hatte. Die anderen fanden, dass er sie wirklich gut getroffen hatte, aber sie erkannte sich nicht richtig wieder, wie das immer so ist. Nach ein paar Minuten kam sie mit zwei dampfenden Tassen wieder, die sie auf den Tisch vor der Couch stellte. Sie setzte sich neben ihn. Ihre Schulter drückte sanft gegen seine. Er überlegte, den Arm um sie zu legen, griff dann aber nach einer DVD-Hülle.
„Control …“
„Ich liebe den Film. Kennst du ihn?“
„Ian Curtis.“
„Ich fühle mich ganz genauso wie er.“
„Wie meinst du das?”
„Kann ich nicht beschreiben.”
Er legte die Hülle zwischen ihre Teetassen.
„Kann ich ihn mir ausleihen?”
„Klar.”
Dann küsste er sie. Er merkte, dass sie darauf gewartet hatte. Der Kuss dauerte lange. Sehr lange. Anschließend dampfte der Tee nicht mehr. Er hätte auch sonst scheußlich geschmeckt.
„Ich bin überrascht, dass du gekommen bist.”
„Warum?”
„Weil du vorgestern einfach gegangen bist.”
„Ich war sauer.”
„Auf mich?”
„Nein.”
Sie sah ihm in die Augen, wie um zu prüfen, ob er die Wahrheit sagte. Er beugte sich zu ihr und küsste sie wieder. Als sie sich lösen wollte, hielt er sie fest. Danach machte sie keine Bewegung mehr von ihm weg. Er zog ihr das Top über den Kopf und nach einer Weile öffnete er ihren BH. Sie hatte schöne Brüste, solche, wie es sie nur selten gibt. Sie hingen ein wenig und die Spitzen zeigten leicht nach oben. Sie passten gut zu ihrer Figur mit dem ausladenden Becken und der schmalen Taille. Sie war eine echte Femme, eine Frau, deren robuster Unterkörper das ganze Gewicht trug, während ihr Oberkörper zart und verletzlich wirkte. Langsam streifte er ihr langsam die Hose über die Schenkel. Sie spreizte die Beine und kleine, runde Narben kamen zum Vorschein. Er strich sanft mit zwei Fingern darüber. Zu seiner Überraschung trug sie einen eleganten schwarzen Slip mit Spitze, der ihm bereits eine Ahnung von dem gab, was darunter lag. Bisher hatte er sich selbst zur Zurückhaltung verpflichtet, zu einem maßvollen Vortasten. Aber jetzt zersprang die Kette. Er kniete sich vor sie und riss ihr den Slip unsachte herunter. Sie erwiderte seine Geste mit einem Stöhnen und schloß die Augen. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß. Als er sich wieder aufrichten wollte, legte sie mit bestimmte Druck ihre Hände auf sein Haupt.
„Warum bin eigentlich nur ich nackt?”, fragte sie irgendwann.
Er zog sich aus und ohne dass sie ein weiteres Wort sprachen, drang er langsam und tief in sie ein. Als er seine Stöße beschleunigte, stöhnte sie lauter, als er es in Erinnerung hatte. Gerne hätte er sie angefasst, aber er brauchte seine Hände, um sich abzustützen. Er spürte, wie sich Schweiß auf seinem Rücken bildete. Plötzlich sprang eine Katze auf die Rückenlehne der Couch. Sie war grau und im ersten Moment dachte er, es wäre die Katze von vorhin gewesen. Aber das konnte nicht sein. Er starrte in ihre grünen Augen mit den schwarzen Schlitzen, bis ihm bewusst wurde, wie seltsam das war. Sie sollte verschwinden, aber sein ruckartiges Kopfnicken beeindruckte sie nicht. Sie blieb sitzen und starrte ihn weiter an, bis er kam. Sie öffnete die Augen und schloss ihre Beine. Da bemerkte sie die Katze über ihrem Kopf.
„Oh, was machst du denn da?“
Sie zog sie in ihren Schoß herunter.
„Wusste gar nicht, dass du eine Katze hast.“
„Das ist Simenon!“
„Ein Kater?“
„Mhm.“
Das Tier starrte ihn noch immer feindselig an. Sie griff nach einem gelben Päckchen auf dem Tisch und öffnete es.
„Darf ich mir auch eine drehen?“
„In der Klinik hast du nicht geraucht.“
„Doch, manchmal.“
Sie rollte ein braunes Bündel zwischen den Fingern hin und her und reichte ihm das Päckchen.
„Und du hast kein Bier getrunken. Weißt du noch? Wo wir in dieser Kneipe waren?“
Er rupfte am Tabak herum, bis ihm die Menge angemessen erschien.
„Du hast dich nicht getraut.“
„Wegen den Tabletten. Ist ungesund.“
„Alles ist ungesund.“
„Brokkoli nicht. Himbeeren auch nicht.“
Es gelang ihm, eine ansehnliche Zigarette zu drehen. Der erste Zug füllte ihn bis in die Fingerspitzen aus. Danach wurden seine Züge flacher und flacher, bis es eklig schmeckte.
„Das war lange!“
„Ist das Zoloft. Das macht ihn taub.“
„Oh! Spürst du weniger davon?“
„Etwas weniger, ja.“
Sie hielt die Katze mit einem Arm fest und beugte sich vor, um die Zigarette in einem quadratischen Aschenbecher aus Glas auszudrücken. Er war mit Rillen und geometrischen Formen verziert und wirkte aus der Zeit gefallen. Sie lächelte. Ihre Zahnlücke machte ihr Lächeln einmalig verschmitzt und wieder konnte er nicht glauben, dass dieses Gesicht einmal so viel Düsternis zur Schau gestellt hatte.
„Warte, ich muss dir was zeigen.“
Sie hob die Katze auf die Couchlehne und stand auf. Seine Augen folgten ihrem nackten Körper zum Bücherregal, wo sie sich an einer Stereoanlage zu schaffen machte. Es dauerte eine Weile, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.
„Das?“
„Ja!“
„Warum?“
Im Dämmerlicht der Dachkammer begann sie ihre Hüften im Takt zu wiegen.
„Das Lied hat mich immer an dich erinnert.“
Er ließ seinen Blick auf ihrem Schamhaar ruhen, auf dem Mittelpunkt ihres Körpers. In diesem Körper ist jetzt mein Samen, dachte er. Er hoffte, dass er gleich aus ihr herauslaufen würde. Er wollte es sehen.
„Was singt sie?“
„Le plus beau du quartier.“
„Der schönste im ganzen Viertel?“
„Oui.“
„Nehm ich!“
„Was?“
Er stand auf und schlang die Arme um sie, nahm ihren Takt mit seinen Hüften auf.
„Das nehm ich!“, flüsterte er in ihr Ohr. „Sagt man so.“
Als sie es nicht sehen konnte, schubste er mit dem Fuß die Katze von der Lehne. Sie landete geräuschlos auf dem Dielenboden und schlich davon. Sie tanzten, bis das Lied endete, dann legten sie sich ins Bett. Er hatte wieder Lust auf sie. Sanft schob er ihre Beine auseinander, in dem dunklen Haar nach seinem Samen suchend. Er empfing ihn so warm und aufnehmend, dass er nicht in sie hinein, sondern durch sie hindurch glitt. Dieses Mal dauerte es endlos, bis in die Nacht hinein. Anfangs saß sie auf ihm, bewegte geschmeidig ihr Becken vor und zurück. Er fühlte sich dabei etwas verloren, aber er mochte es, dass ihr ganzes Gewicht auf ihm lastete. Bis er es nicht mehr aushielt. Er zog sie neben sich und es war wie eine Wanderung durch ein nächtliches Moor, alles nur noch Geruch und Instinkt. Irgendwann fuhr draußen mit einem dumpfen Poltern ein weiterer Zug über die Brücke. Auf dem Hochhaus leuchtet jetzt die rote Neonschrift, dachte er und hätte bis zum Morgen weitermachen können. Allein ein großer Hunger veranlasste ihn irgendwann zum Aufhören. Sie war in sich versunken und brauchte eine Weile, bis sie merkte, dass es zu Ende war. Er bat sie erneut um eine Zigarette.
„Ich glaube, ich geh jetzt mal.“
Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und streichelte seinen Bauch.
„Ich habe mich darüber gefreut, dass du einfach vorbeigekommen bist. “
Er überlegte, ob er dort bleiben sollte. Aber das war nicht gut. Er wollte in eine der vielen Imbisse in der Nähe und dort alleine etwas essen. Im kalten, künstlichen Licht etwas essen und dann durch die nächtliche Stadt nach Hause gehen. Sie sah zu ihm hoch.
„Darf ich dich was fragen?“
„Immer.“
„Wolltest du mich damals nicht?“
„Es wäre nicht gut gewesen.“
„Hat dir das Dr. Stochowski gesagt?“
„Stochowski ist ein Arschloch.“
„Hat er?“
„Ja.“
Draußen sah er die Leuchtschrift auf dem Hochhaus. Er ging zur Hauptstraße und über eine rote Ampel. Bevor er das Lokal betrat, roch er an seiner Hand. Sie roch nach Rauch. Und nach ihr. Vielleicht gehe ich gleich doch wieder zu ihr, dachte er.