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Dämmerlicht
Hinter einer Fensterscheibe im zweiten Stock hockte eine graue Katze und starrte zu mir herunter. Ein Güterzug rumpelte über die Eisenbahnbrücke, in deren Schatten ich stand, und es hörte sich an, als würden die Stahlbögen gleich bersten. Die Katze schien die Erschütterung wahrzunehmen. Sie wandte kurz den Kopf, dann machte sie einen Satz und verschwand hinter der Gardine. Ich kannte die Gegend nicht sehr gut, aber sie hatte mich immer fasziniert. Das Backsteinhochhaus, die Graffiti und die dunkle Unterführung mit den Konzertpostern, all das hatte einen Hauch von New York oder Chicago. Das gefiel mir.
Es dauerte bestimmt noch zehn Minuten, bis ich mir einen Ruck gab. Ich überquerte die Straße und suchte auf dem Klingelschild neben der alten Holztür nach ihrem Nachnamen. Dubois. Fräulein Dubois, hatten sie sie immer genannt. Es klang mir noch im Ohr. Sie war damals immer aus etwas herausgerissen worden, wenn sie ihren Namen sagten, hatte dann leise und kurz geantwortet, sich danach wieder in ihren Kampf verzogen.
Im Treppenhaus roch es nach kaltem Putz, auch wenn es allem Anschein nach seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert worden war. Ich zwang mich, die Stufen zügig hochzusteigen, den Moment nun nicht mehr hinauszuzögern. Sie lehnte im Türrahmen. Als sie mich erkannte, verschwand die markante Falte zwischen ihren Augenbrauen. Diese Falte kannte ich nur zu gut. Sie verwandelte ihr so offenes Antlitz mit einem Schlag in das eines störrischen Bocks oder Widders. Kannte man sie nicht, konnte man sie für tough halten, wenn sie in ihren Chucks und ihrer Lederjacke an irgendeiner Bushaltestelle stand und finster dreinblickend Selbstgedrehte rauchte. In diesen Momenten machte sie den Eindruck, alles und jeden zu durchschauen und selbst erhaben zu sein über die kleinen und großen Lästigkeiten der menschlichen Existenz.
“Du bist es!”
“Ja.”
“Warst du in der Gegend?”
“Sozusagen.”
Ich folgte ihr in die Wohnung. Sie war dunkel. Das kleine Fenster in der Dachschräge ließ nicht genug Licht hinein, um jede Ecke auszuleuchten.
“Setz dich!”
Ich warf einen Blick auf die Couch.
“Oh, warte! Ich räume das weg!”
Sie begann, die Sitzfläche freizuräumen.
“So, so, du liegst also den ganzen Tag im Bett.”
Ich meinte es scherzhaft, aber sie nahm es ernst.
“Im Moment habe ich Mühe aufzustehen.”
“Kenn ich.”
Ich ließ mich in die Polster fallen.
“Wie lange wohnst du schon hier?”
Sie packte etwas raschelnd in eine Tüte und überhörte meine Frage.
“Ich hab gar nichts da.”
“Macht nichts.”
“Oder sollen wir in ein Café gehen?”
“Lieber hierbleiben.”
“Ich kann Tee machen. Magst du Tee?”
“Sicher.”
Sie verschwand im Nebenraum.
“Ich hab Kamille und welchen mit Vanille und Erdbeer.”
“Süße Liebe?”
“Was?”
“So heißen diese Tees doch immer.”
“Ich weiß nicht.”
“Egal, den mit Erdbeer dann.”
Ich hörte das Wasser aus dem Hahn rauschen.
“Wie lange wohnst du schon hier?”
“Zwei Jahre.”
“Wo hast du vorher gewohnt?”
“In Dormagen.”
“Da ist das hier auf jeden Fall besser.”
“Warst du schon mal dort?”
“Nein.”
Nach ein paar Minuten kam sie mit zwei dampfenden Tassen wieder, die sie auf den Tisch vor der Couch stellte. Sie setzte sich neben mich. Ihre Schulter drückte sanft gegen meine. Ich nahm die Hand von meinem Knie, um den Arm um sie zu legen, griff dann aber nach einer DVD-Hülle auf dem Couchtisch.
“Control …”
“Ich liebe den Film. Kennst du ihn?”
“Ian Curtis.”
“Ich fühle mich ganz genauso wie er.”
Ich legte die Hülle zwischen unsere Teetassen. Dann küsste ich sie. Ich merkte, dass sie darauf gewartet hatte. Der Kuss dauerte lange. Sehr lange. Anschließend dampfte der Tee nicht mehr. Er hätte auch sonst scheußlich geschmeckt.
Sie sah mir in die Augen. “Warum bist du vorgestern gegangen?”
“Weil ich genug hatte?”
“Von mir?”
“Auch.”
“Aber jetzt bist du hier.”
“Störts dich?”
“Nein, ist gut.”
Ich küsste sie wieder. Als sie sich lösen wollte, hielt ich sie fest. Danach machte sie keine Bewegung mehr von mir weg. Wir zogen uns aus. Sie blieb auf der Couch sitzen und spreizte die Beine. Ich kniete mich vor sie. Sachte streichelte ich mit zwei Fingern über die kleinen, runden Narben an den Innenseiten ihrer Oberschenkel, die wie Flecken aussahen. Ich wollte ihr damit zeigen, dass sie mir egal waren, aber sie spürte, dass das nicht stimmte. Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihre Brust. Als ich langsam in sie eindrang, schloss sie die Augen. Sie stöhnte lauter, als ich es in Erinnerung hatte. Gerne hätte ich sie weiter angefasst, aber ich brauchte meine Hände, um mich abzustützen. Ich spürte, wie sich Schweiß auf meinem Rücken bildete. Plötzlich sprang eine Katze auf die Rückenlehne der Couch. Sie war grau und im ersten Moment dachte ich, es wäre die Katze von vorhin gewesen. Aber das konnte ja gar nicht sein. Ich starrte in ihre grünen Augen mit dem schwarzen Schlitz, bis mir bewusst wurde, wie seltsam das war. Sie sollte verschwinden, aber mein ruckartiges Kopfnicken beeindruckte sie nicht. Sie blieb sitzen und starrte mich weiter an, bis ich kam. Das Ganze kam mir jetzt sehr falsch vor.
Sie öffnete die Augen und schloss ihre Beine. Da bemerkte sie die Katze über ihrem Kopf.
“Oh, was machst du denn da?”
Sie zog sie in ihren Schoß herunter.
“Wusste gar nicht, dass du eine Katze hast.”
“Das ist Simenon!”
“Ein Kater?”
“Mhm.”
Das Tier starrte mich noch immer feindselig an. Sie griff nach einem gelben Päckchen auf dem Tisch und öffnete es. Ich roch den Tabak.
“Darf ich mir auch eine drehen?”
“In der Klinik hast du nicht geraucht.”
“Doch, manchmal.”
Sie rollte ein braunes Bündel zwischen den Fingern hin und her und reichte mir das Päckchen.
“Und du hast kein Bier getrunken. Weißt du noch? Wo wir in dieser Kneipe waren?”
Ich rupfte am Tabak herum, bis mir die Menge angemessen erschien.
“Du hast dich nicht getraut.“
“Wegen den Tabletten. Ist ja auch ungesund.”
“Alles ist ungesund.”
“Brokkoli nicht. Himbeeren auch nicht.”
“Sehr witzig.”
Es gelang mir, eine ansehnliche Zigarette zu drehen. Der erste Zug füllte mich bis in die Fingerspitzen aus. Danach wurden meine Züge flacher und flacher, bis es eklig schmeckte. Sie drückte ihre Zigarette aus. “Das war lange!”
“Ist das Zoloft. Das macht ihn taub.”
“Oh! Spürst du weniger davon?”
“Etwas weniger, ja. Bist du gekommen?”
“Ich komme immer.”
"Lucky you!"
Sie hielt die Katze mit einem Arm fest und beugte sich vor, um die Zigarette in einem quadratischen Aschenbecher aus Glas auszudrücken. Er war mit Rillen und geometrischen Formen verziert und wirkte aus der Zeit gefallen. “Ich will, dass du mich richtig fest packst!”
“Zu Befehl!”
“Kannst du schon wieder?”
Ich betrachtete kurz den Zigarettenstummel, bevor ich ihn in den Aschenbecher fallen ließ.
“Gib mir zwanzig Minuten, ok?”
“Warte, ich muss dir was zeigen.”
Sie hob die Katze auf die Couchlehne und stand auf. Im Bücherregal machte sich an einer Stereoanlage zu schaffen. Es dauerte eine Weile, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.
“Das?”
“Ja.”
“Warum?”
Im Dämmerlicht der Dachkammer wiegte sie ihre Hüften im Takt. Die bockige Widderfrau schien es nie gegeben zu haben.
“Das Lied hat mich immer an dich erinnert.”
Ich ließ meinen Blick auf ihrem Schamhaar ruhen, auf dem Mittelpunkt ihres Körpers. In diesem Körper ist mein Samen, dachte ich. Mit jeder Bewegung musste er ein wenig weiter absacken, bis er irgendwann aus ihr herauslaufen würde. Ich hoffte, dass es so weit kommen würde. Ich wollte es sehen.
“Was singt sie?”
“Le plus beau de quartier.”
“Der schönste im ganzen Viertel?”
“Oui.”
“Nehm ich!”
“Was?”
Ich stand auf und schlang die Arme um sie, nahm ihren Takt mit meinen Hüften auf.
“Das nehm ich!”, flüsterte ich in ihr Ohr. “Sagt man so.”
Als sie es nicht sehen konnte, schubste ich mit dem Fuß die Katze von der Lehne. Sie landete ohne jegliches Geräusch und schlich davon.
Wir tanzten, bis das Lied endete, dann legten wir uns ins Bett. Ich hatte jetzt noch größere Lust auf sie. Sanft schob ich ihre Beine auseinander, in dem dunklen Haar nach meinem Samen suchend. Er empfing mich so warm und aufnehmend, dass ich nicht in sie hinein, sondern durch sie hindurch glitt. Dieses Mal dauerte es endlos, bis in die Nacht hinein. Anfangs saß sie auf mir, bewegte geschmeidig ihr Becken vor und zurück. Ich fühlte mich dabei etwas in ihr verloren, aber ich mochte es, dass ihr ganzes Gewicht auf mir lastete. Bis ich es nicht mehr aushielt. Ich zog sie von mir herunter und neben mich, alles nun nur noch Geruch und Instinkt, eine Wanderung durch ein nächtliches Moor. Irgendwann fuhr draußen mit einem dumpfen Poltern ein weiterer Zug über die Brücke. Das Leuchten der Neonschrift auf dem Hochhaus war aus der Wohnung nicht zu sehen, aber es war da. Chicago und New York waren plötzlich ganz nah, so wie die Vergangenheit. Ich hätte bis zum Morgen weitermachen können. Allein ein großer Hunger veranlasste mich irgendwann zum Aufhören. Auch sie war in sich versunken und brauchte eine Weile, bis sie merkte, dass es zu Ende war. Ich bat sie erneut um eine Zigarette.
“Ich glaube, ich geh jetzt mal.”
“Du kannst auch hier bleiben.”
Ich erinnerte mich daran, dass es in der Gegend viele Restaurants und Imbisse gab. Dort wollte ich hin und alleine im Neonlicht etwas essen. Wenigstens einmal so einer sein. Ich setzte mich auf. “Besser, ich gehe.”
“Darf ich dich was fragen?”
“Immer.”
“Wolltest du mich damals nicht?”
“Es wäre nicht gut gewesen.”
“Hat dir das Dr. Stochowski gesagt?”
“Stochowski ist ein Arschloch.”
“Hat er?”
“Ja.”
Ich verfolgte den Rauch bis unter die Dachpaneele. “Sehen wir uns die Tage wieder?”
“Wenn du das möchtest.”
“Möchtest du?”
“Ja.”
“Ich auch.”
Draußen sah ich die Leuchtschrift auf dem Hochhaus. Ich ging zur Hauptstraße und über eine rote Ampel. Bevor ich das Lokal betrat, roch ich an meiner Hand. Sie roch nach ihr. Und nach Rauch. Ich hatte wirklich großen Hunger jetzt. Vielleicht gehe ich später einfach wieder zu ihr, dachte ich.