- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Das ausgeschlossene Dritte
In einem Dorf am Fluss machte der Lange Mann halt. Dort erhielt er die Kunde, dass sich der Streit in Cad Arras zu einem Krieg der Stadt gegen die umliegenden Ländereien ausgeweitet habe. Auch hieß es, der Eiserne Riese sei im Norden aus dem Meer erschienen und bewege sich nun nach Süden, eine Spur der Zerstörung hinter sich herziehend. Ein großer Strom von Flüchtlingen bewegte sich aus dem Nordosten in diese Lande. Er hörte Gerüchte, dass Verbrecher und Betrüger aller Art mit diesen Menschen reisten. Die Dörfler lebten in Angst, weniger vor dem Eisernen Riesen, denn es wurde allgemein angenommen, dass er wie üblich alsbald ins Nordmeer zurückkehren würde, als vielmehr vor dem Heer der Hungrigen und Heimatlosen.
Es ging dem Langen Mann selbst zu dieser Zeit schlecht; während seiner ganzen Reise war er verlacht, verfolgt und gejagt worden, zuletzt hatte man gar versucht, ihn zu töten, und alles nur für seine Versuche, den Menschen mit den Weisheiten, die er auf seiner Reise in den Osten gelernt hatte, zu helfen.
So zog er weiter am Fluss entlang und gelangte so in die Stadt an der Furt. Es war keine große Stadt, doch sie war reich, denn mit der günstigen Lage an der Flussquerung hatten sich hier viele Kaufleute niedergelassen. Mit ihnen waren die Geldverleiher gekommen, die den Reichtum der Stadt rasch mehrten.
Schon aus der Entfernung schien es ihm, dass die Stadt gewachsen war, vor den Toren breitete sich eine neue Siedlung niedriger Hütten aus. An der Stadtgrenze fand der Lange Mann einen hohen Palisadenzaun vor, desweiteren erkannte er nun, dass die Hütten lediglich Zelte waren, armselige Behausungen, mehr notdürftig aus alten Decken und Lumpen zusammengesteckt. Der Zaun selbst wurde von Bewaffneten bewacht. Grimmige Gesichter trugen sie zu ihren Gewehren und ließen keinen der zerlumpten Zeltbewohner in die Stadt ein, trotzdem sich eine große Menge an den Toren drängte.
»Was geht hier vor?«, verlangte der Lange Mann zu wissen.
»Wer will das wissen?«, entgegnete eine Wache, ein vierschrötiger Mann mit Holzperlen im schwarzen Bart.
»Man nennt mich den Langen Mann, und ich bin kein Flüchtling, falls es das ist, was Ihr zu wissen begehrt. Und nun sagt mir, warum Ihr diesen armen Menschen nicht helft?«
»Oh, wir helfen ihnen. Wir gaben ihnen diese Zelte zur Unterkunft, und auch Essen wird täglich herausgebracht, so viel wir gerade selbst entbehren können. Aber es kommen täglich mehr von ihnen aus dem Norden, sie fliehen in blinder Panik vor der eingebildeten Gefahr des Eisernen Riesen, lassen Haus und Hof zurück, ohne auch nur das Nötigste an sich zu raffen. Und nicht nur das: Der Streit in Cad Arras treibt weitere Unglückliche zu uns.« Der Schwarzbärtige hielt inne, als besinne er sich eines Gerüchts. »Sagt, seid ihr der, der den Leuten Rat und Hilfe verspricht? Den sie den irren Wanderer nennen, dessen wunderlicher Ratschlag stets das Versprochene bringt, doch in einer Weise, die keinem nützt?«
Dem Langen Mann ward klamm ums Herz, als der Fremde so hartherzig und abfällig von seiner freundlichen Mission sprach, doch er musste sich eingestehen, dass viel Wahres daran war, so antwortete er: »Ebendieser bin ich wohl. Ich bemühe mich stets, mein Wissen zum Nutzen einzusetzen.«
»So tritt denn ein! Der Bürgermeister wird einen guten Rat zu schätzen wissen, denn wir wissen weder ein noch aus in dieser sichtlosen Lage.«
So brachte eine Wache den Langen Mann zum Rathaus, und dort in der Amtsstube traf er nicht nur auf den Bürgermeister, einen respektablen Mann mit schütterem grauen Haar und ausladendem Backenbart, sondern auch einen hochgewachsenen Fremden im weiten Filzgewand, das schwarz von Fett und Staub war. Er wurde ihm als ein Sprecher der Flüchtlinge vorgestellt, ein Mann aus Cad Arras, der sich im Notlager einen gewissen diplomatischen Ruf erworben hatte.
»Nun«, begann der Bürgermeister nach einer kurzen gegenseitigen Vorstellung, »Ihr habt einen Ruf als Ratgeber von großer Weisheit, wenn auch von zweifelhaftem Nutzen. Indes, es ist gleich, denn unsere Lage ist ohne Hoffnung. Unsere Stadt kann die Flüchtlinge nicht ernähren, ohne selbst zugrunde zu gehen, doch weiter nach Süden können sie kaum ziehen, denn der Winter kommt bald und viele sind dem Tode bereits jetzt nah. Und beständig kommen weitere aus dem Norden und dem Nordosten nach. Ich bitte Euch: Ratet uns! Egal, was es sein mag, wir haben keine andere Wahl, als zu befolgen, was immer Euch einfällt.«
Der Sprecher der Flüchlinge hatte kein Wort gesprochen, doch nun nickte er dem Langen Mann in einer Weise zu, die besagte, dass er mit dem Bürgermeister zutiefst uneins war, und doch leider jedes Wort bestätigen musste, das jener gesprochen hatte.
Da nickte auch der Lange Mann. »Ich will bei Euch keine zu großen Hoffnungen wecken, doch gebt mir eine Unterkunft und eine Woche Bedenkzeit, und ich werde Euch helfen.«
Es glomm etwas wie ein Funke der Hoffnung in den Augen des Bürgermeisters auf, und auch der Sprecher der Flüchtlinge sah auf, als wolle er dem Langen Mann bereits jetzt danken.
Doch der Lange Mann selbst war nicht so voller Hoffnung. Er bezog Quartier in einer kleinen Pension und verließ die kommenden drei Tage selten sein Zimmer.
Als der Bürgermeister schon befürchtete, ihn nicht wieder zu sehen, schickte der Lange Mann nach gewissen Büchern aus der Stadtbibliothek; nicht alle waren dort verfügbar, denn er verlangte nach exotischen Schriften östlicher Philosophen und gelehrter aus dem fernen Norden.
Nach einer Woche schließlich ließ der Lange Mann ankündigen, dass er den Bürgermeister in seiner Amtsstube aufzusuchen gedenke. Der Bürgermeister schickte eine Nachricht an den Sprecher der Flüchtlinge, und der Bote machte kein Geheimnis aus der Nachricht, so ging schnell das Gerücht um, dass der Lange Mann sie aus dem unseligen Zwispalt erlösen würde durch seinen Ratschlag.
Es sammelte sich eine große Menschenmenge auf dem Platz vor dem Rathaus, unter den Menschen viele Flüchtlinge, denn es war den Wachen diesmal nicht gelungen, die Elenden an den Toren alle zurückzuhalten.
Der Lange Mann schritt zwischen ihnen auf das Rathaus zu, und die Leute wichen zurück und bildeten ihm eine Gasse, aus großem Respekt.
Ein hohles Grauen befiel ihn, denn er wusste, dass er die Hoffnung, die die Leute in ihn setzten, enttäuschen würde.
»Nun«, wandte sich der Bürgermeister auf der Treppe des Rathauses an ihn, »ich sehe, dass Ihr uns einen Rat geben wollt. Zu welchem Ergebnis seid Ihr durch Eure Überlegungen gekommen?«
»Bürger dieser Stadt«, begann der Lange Mann mit stockender, dennoch lauter Stimme. »Ihr seht Euch einer Masse von elenden Flüchtlingen gegenüber. Wie ein Schwarm Heuschrecken müssen sie Euch erscheinen, denn sie zehren in Wochen auf, wofür Ihr das Jahr über gearbeitet habt. Aus heiterem Himmel kamen sie zu Eurer Stadt, aus einem Grund, der weder in Eurer Verantwortung liegt, noch überhaupt glaubwürdig sein muss. Ist es nicht Euer Recht, zu verlangen, dass die Flüchtlinge, nachdem Ihr sie nun mit dem Notwendigen versorgt habt, weiterziehen?«
Zustimmendes Gemurmel erhob sich aus den Reihen der Bürger, aber die Flüchtlinge protestierten. Hier und da begannen Geschiebe und Rangeleien in der Menge.
Der Lange Mann hob die Hand. »Auch die Flüchtlinge haben Recht! Seid Ihr denn keine Menschen, und habt Ihr nicht ein Anrecht auf Hilfe und Mitgefühl? Land und Vermögen wurden Euch genommen durch den Krieg und diese unbegreifliche Naturgewalt des Eisernen Riesen, ist es da nicht das Mindeste, dass man Euch Nahrung und Obdach gewährt, bis Ihr Kraft genug habt, um weiterzuziehen in die unerschlossenen Lande des fernen Südens?«
Nun waren Zustimmung und Schmährufe anders herum verteilt, wieder begannen kleinere Rempeleien.
Irritiert wandte sich der Bürgermeister dem Langen Mann zu. »Herr, was tut Ihr? Ihr hetzt sie nur gegeneinander auf!«
»Ich sage nur die Wahrheit«, sprach der Lange Mann laut weiter. »In dieser Lage gibt es zwei Seiten, wie in den Lehren der alten Philosophen ist ein Drittes unmöglich, ja undenkbar, denn der Vorteil der einen Seite führt unmittelbar zum Nachteil der anderen. So kann mein Rat nur lauten, dass sich ein jeder nach seinem eigenen Gewissen entscheiden muss. Ihr alle seid Euch selbst wie Euren Mitmenschen verantwortlich. Handelt danach, was Ihr ...« Er unterbrach sich, denn ein leichtes Beben erschütterte die Rathaustreppe. Murmeln wurde in der Menge lauter, als sich das Beben, stärker diesmal, wiederholte. Dann tönten Hörnersignale von den Palisaden, am Rand stehende Leute begannen zu fliehen.
»Was bedeutet dies?«, verlangte der Bürgermeister von einem Stadtangestellten zu wissen, doch ängstliche Rufe aus der Menge beantworteten seine Frage: »Der Riese kommt!«
Nun verwandelte sich die Menge in das kopflose Tier der Panik. Wie ein Wesen brandete die Masse in alle Richtungen zugleich, riss dabei Mensch und Material gleichfalls mit sich, zermalmte, was Widerstand leistete. Da zerbrach unter Krachen der Zaun und der Eiserne Riese schritt wie ein wandelnder Berg durch die Stadt, unterschiedslos Mensch, Vieh und Häuser unter sich zermalmend. Er erschien dem Langen Mann höher als der höchste Kirchturm. Rost fraß an seinen Seiten, beeinträchtigte aber nicht den Ausdruck von Kraft und Gewalt, die von dem metallenen Ungetüm ausging. Nur grob menschenförmig war er, Kopf und Rumpf in einem allen Ausmaßen spottenden Quader verschweißt. Nach dieser monatelangen Wanderung von der Küste südwärts hafteten noch immer Muscheln und vertrocknete Reste von anderen Meerestieren an ihm. Der Lange Mann stand erstarrt, während um ihn herum ein Sturm der Zerstörung raste, die Stadt in wenigen Augenblicken schleifte.
Nach endlos erscheinender Zeit hielt der Riese inne, drehte sich auf der Stelle, das Pflaster des Marktplatzes aufreißend, und schritt endlich in Richtung Westen davon.
Schließlich war der Lange Mann unter den Wenigen, die entkamen. Orientierungslos irrten die Menschen durch die Ruinen, die das anschließende Feuer zurückgelassen hatte. Eine verkohlende Sonne sank hinter den Horizont, als er die Stadt südwärts verließ.