Was ist neu

Das Erbe

Mitglied
Beitritt
14.07.2001
Beiträge
3

Das Erbe

Das Erbe

Ich war gerade mitten in der wichtigsten Prüfung dieses Semesters, als plötzlich die Vorlesesaaltür aufging und unser Rektor, Mr. Stevens, hereintrat und auf meinen Lehrer, Mr. Montana, zuging. Mr. Stevens war ein älterer, aber gut gekleideter Herr mit einer Ausstrahlung, als könnte er die ganze Welt umarmen. Doch heute sah man in seinem Gesicht, dass etwas nicht stimmte. Ich beschloß die letzte Frage meines Prüfungsbogens kurz außer Acht zu lassen und ihm nachzusehen, wie er mit Mr. Montana etwas besprach. Ich konnte nur ein leises Flüstern vernehmen und Mr. Montana räusperte sich. Als ich bemerkte, dass er mich ansah, wanderte mein Blick sofort wieder auf das Blatt Papier und ich tat, als würde ich die letzte Frage durchlesen. Ich muss errötet sein, denn mir wurde plötzlich ganz heiß. Mr. Montana war etwa 35 Jahre und ein sehr attraktiver und liebenswerter Lehrer und leider hatte er sich erst letztes Jahr mit einer dieser Kaffeeklatsch-Tanten aus den „besseren Vierteln“ verheiratet. Er unterrichtete an unserem College Geschichte, Psychologie und Mathematik. Ich hatte schon immer großen Respekt vor seinem Wissen und er machte mir auch Mut, die heutige Geschichtsprüfung zu überstehen.

Ich habe wochenlang gelernt und mich auf diese Prüfung vorbereitet und war hochkonzentriert, bis eben Mr. Stevens hereinkam.

Ich erschrak, als Mr. Montana plötzlich vor sein Pult trat und mit ernster Miene auf mich zukam. Um die anderen Studenten nicht zu stören, beugte er sich zu mir herunter und ich konnte sein Aftershave riechen. Es roch sehr süß, aber es war kein aufdringlicher Duft. Er war eher angenehm. Ich sah ihm in seine wunderschönen, tiefblauen Augen und er flüsterte: „Miss Mountain, wären sie so nett und würden Mr. Stevens kurz nach draußen begleiten ?“ Ich nickte und stand auf. Leise folgte ich Mr. Stevens vor die Tür und wartete, bis er anfing zu sprechen. Er tupfte sich mit einem sehr alten Taschentuch die Stirn ab, bevor er endlich anfing zu sprechen: „Miss Mountain, ich habe eine schlechte Nachricht zu überbringen. Ihre Tante hat gerade bei uns angerufen. Ihr Vater ist...“, er holte Luft „verstorben.“ Es traf mich wie ein Blitz. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Mir liefen die Tränen über die Wangen und mein Herz fing an zu rasen. Ich konnte es kaum glauben. Ich hatte doch erst am Wochenende noch mit ihm telefoniert und es ging ihm nach seiner Mitteilung hervorragend; und heute war doch erst Mittwoch. „Wie konnte das passieren ?“, fragte ich, als ich mich wieder etwas gefangen hatte. Mr. Stevens zuckte mit den Schultern und legte mir seine Hand auf die Schulter. Er war scheinbar genau so sprachlos wie ich selbst und wusste nicht, wie er mir beistehen könnte.

Ich mußte in diesem Moment daran denken, dass das mein Vater immer getan hatte, wenn er mir etwas wichtiges mitteilen wollte und ich begann laut loszuweinen. Ich schluchzte und Mr. Stevens bot mir sein Taschentuch an. Ich lehnte dankend ab und Mr. Stevens meinte: „Du kannst von mir aus eine Woche freihaben. Die Prüfung kannst du aus besonderen Gründen wiederholen, wenn du möchtest. Du kannst gerne gleich losfahren. Soll ich jemanden für dich anrufen ?“ Ich schüttelte den Kopf und machte mich, ohne meine Unterlagen aus dem Vorlesungssaal zu holen, auf den Weg in mein Zimmer. Gut, dass ich direkt auf dem Campus neben den Vorlesesälen mein Zimmer gefunden hatte, denn sonst – glaube ich – hätte ich es nicht bis dort hin geschafft, ohne weiche Knie zu bekommen und vielleicht sogar in Ohnmacht zu fallen. Ich kannte dieses Gefühl gar nicht, denn ich war eigentlich immer sehr stabil gewesen, was meine Gesundheit anging.

Ich teilte mein Zimmer mit einem Mädchen namens Trisha Straight. Ich bekam sie nicht oft zu Gesicht, aber wenn sie mal da war, dann nicht ohne Begleitung. Sie war ein schrecklich naives Mädchen, das jeden Unsinn mitmachte, nur um „cool“ zu sein. Ich fand sie manchmal ziemlich schrecklich, weil sie nur immer „Ja“ und „Amen“ zu den Männern sagte. Sie sah zwar sehr hübsch aus und war auch nicht dumm, was die Schule betrifft, aber ich schätze, die ganze Schule wusste schon bei ihrer Ankunft, was sie „für eine“ sei. Ich war in diesem Moment froh, dass sie gerade eine Vorlesung hatte, denn ich wollte alleine sein. Ich legte mich auf mein Bett und sah zum Fenster hinaus. Ich konnte mitten auf den Pausenplatz des Colleges sehen und ich sah den Leuten zu, wie sie sich von einem Gebäude in das nächste begaben. Alle waren in dieser Hektik, die man nur in Großstädten kennt. Ich mochte Großstädte noch nie, deshalb bin ich auch hierher auf das College gegangen. Hier in Baffalo ist es immer ruhig und man kann das Leben genießen. Man kann zum Strand in ein paar Minuten mit dem Bus fahren und an jeder Ecke ist ein kleines Imbisslokal, in denen sich alle möglichen netten Leute treffen, die einfach nur ihren Spaß haben wollen. Es ist einfach wunderschön hier gewesen...bis jetzt. Jetzt konnte ich diese Stille einfach nicht mehr ertragen. Ich wollte nachhause zu meiner Mutter. Ich wollte endlich wissen, was passiert war und warum mir niemand zuvor etwas gesagt hatte. Ich war immerhin erst knapp ein Jahr auf diesem College und mein Vater hatte nie etwas von einer Krankheit verlauten lassen. Ich war enttäuscht über meine Eltern, dass sie mir etwas verschwiegen hatten.

Ich hatte immer eine tolle Beziehung zu meinen Eltern und ganz besonders zu meinem Vater. Ich war immer glücklich, wenn ich nachhause kam und so herzlich empfangen wurde. Das einzige, was meine Eltern mich immer wieder spüren ließen, war dass ich ein Einzelkind war. Ich wurde behütet wie ein junges Küken. Sogar heute noch, wo ich schon 21 bin. Alles in allem kann ich mich nicht beschweren und meinte auch bis heute, dass wir nie Geheimnisse voreinander hatten. Aber nun wusste ich einfach nicht mehr, was ich denken sollte. Hatte mich mein sonst so vertrauenswürdiger Vater belogen ?

Ich schleppte mich ins Bad, packte meine Sachen zusammen und versuchte noch einige Klamotten im Schrank meiner Zimmergenossin zu finden, die sie sich bei Zeiten einmal bei mir ausgeliehen hatte und hatte sogar Glück. Mein Lieblingspulli, den mir einmal meine Großmutter gestrickt hatte, als ich 16 war, war noch unbenutzt in ihrem Schrank. Ich wusste gar nicht, was der dort zu suchen hatte, denn ich hatte ihr nicht erlaubt, diesen anzuziehen. Aber in diesem Moment war es mir egal. Ich packte die nötigsten Sachen zusammen und rief mir ein Taxi. Ich wollte so schnell wie möglich nachhause. Ich wollte nicht erst warten, bis ein Flug nachhause geht. Ich nahm mir vor mit dem Zug zu fahren, da mir im Flugzeug sowieso immer übel wurde und mir diese engen Sitze einfach nicht gefielen. Ständig rempelt dich einer an oder will über dich rüber steigen. Das ist einfach nichts für mich. Da sitze ich lieber in einem Zug und sehe mir gemütlich die Landschaften an. Es mag zwar sein, dass Zugfahren wesentlich länger dauert als Fliegen, aber immerhin hat man dort auch „normale“ Menschen sitzen, nicht nur stinkreiche Leute, bei denen einer immer besser sein will, als der andere.

Bevor ich losfuhr, schrieb ich meiner Zimmergenossin noch einen Zettel, dass ich für ein paar Tage Sonderurlaub genehmigt bekommen hätte und mich wieder melden würde, wenn ich zurückkehre. Ich denke sie war froh, mich loszuhaben, denn jetzt konnte sie nachts heimlich Männerbesuch empfangen, ohne dass es jemanden störte. Also macht ich mich auf den Weg ohne noch einmal einen Blick zurückzuwerfen. Immerhin dachte ich, ich würde bald zurückkommen.

Als ich an der Bushaltestelle wartete, wandte sich mein Blick auf eine Telefonzelle. Mir kam der Gedanke, mich zuhause anzukündigen, aber als ich gerade den Versuch unternahm die Straße zu überqueren, sah ich auch schon den Bus heranfahren.

Ich machte kehrt, hob meine schwere Tasche auf und als der Bus hielt, zeigte ich dem Fahrer meinen Studentenausweis. Der Fahrer, ein schwarzer, sehr alt aussehender Mann etwa Mitte 60 mit einem Hundeblick nickte und so durfte ich kostenlos in der Innenstadt umherpendeln. Busfahren war schließlich auch nicht gerade billig und dieses System gefiel mir. Ich setzte mich in die hinterste Reihe, da der Bus vorne ziemlich voll war und setzte mich ans Fenster. Ich blickte während der Fahrt ständig hinaus und dachte über alles mögliche nach, nur nicht über das, was mit meinem Vater geschehen war. Ich hatte Angst daran zu denken und ich hatte auch angst dies alles zu hinterfragen, deshalb überlegte ich mir, was ich anziehen würde in zwei Wochen auf meinem Semesterabschlußball und wieviel Geld ich mir diesmal erlauben würde auszugeben für diese sündhaft teuren Kleider.

„Endstation, Lady.“ rief der Busfahrer durch die Lautsprecher und ich schrak hoch. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass bereits alle ausgestiegen waren und der Bus schon seit einiger Zeit stand. Ich schleppte mich mit meinem Gepäck zur Tür vor und bedankte mich beim Busfahrer für seine Aufmerksamkeit. Ich stieg aus und machte mich auf den Weg über die Straße zum Buffalo-Statebahnhof. Ich kaufte mir ein Ticket nach New York, da ich dort umsteigen mußte in einen anderen Zug und setzte mich in die Wartehalle.

Kapitel 1

Über den Gleisen hing eine riesige große Bahnhofsuhr, die Minuten sowie Sekunden anzeigte. Darunter hing eine Anzeigetafel, auf der gezeigt wurde, welcher Zug gerade ankam und welcher gerade abfuhr. Es gab hier zwar nur vier Gleise, aber trotzdem war es hier sehr laut und man konnte meinen, man stand mitten in New York auf der Straße. Die Menschen hetzten von einer Seite auf die andere, um ihren Zug zu erwischen. Andere wiederum schlenderten gemütlich die Schaufenster ab und es gab sogar Leute, die sitzen hier einfach nur herum. Einfach nur so, damit sie unter Menschen kommen.

Ein kleines Mädchen stand plötzlich vor mir und weinte. „Was hast du denn ?“ fragte ich sie. „Ich hab meine Mommy verloren und ich kann sie nicht wiederfinden.“ Sie begann zu schluchzen und ich sah mich um. Ich sah einen Informationsschalter und nahm das Mädchen an der Hand. „Wenn du mit mir mitkommst, dann helfe ich dir, deine Mutter zu suchen, okay ?“ fragte ich sie vorsichtig, weil ich Angst hatte, dass sie gleich in großes Geschrei ausbrechen könnte. Sie nickte nur und ihre verheulten kleinen braunen Rehaugen sahen mich verzweifelt an. Sie tat mir leid und ich hob sie hoch. „So ist es besser, dann kannst du auch sehen, wohin wir gehen.“, sagte ich vertrauenswürdig, lächelte sie kurz an und machte mich auf den Weg mit ihr zum Informationsschalter.

Mit dem Kind auf meinem Arm und meiner Reisetasche in der Hand stellte ich mich demonstrativ an den Schalter und blickte einer jungen Dame in die Augen, die mich zuerst gar nicht sah. „Entschuldigen Sie, bitte.“ sagte ich höflich, aber die Dame rührte ihre Blicke nicht von einer Postkarte, die sie sich gerade durchlas. Ich räusperte mich und die Dame schreckte hoch. Sie war sehr hübsch und hatte offenbar sehr langes Haar, das Sie zu einem Pferdeschwanz hochgesteckt trug. Sie sah mich verschämt an und fragte, was sie denn für uns tun könne. Das Mädchen hatte mittlerweile keine Heulkrämpfe mehr und ich deutete mit dem Kopf auf die Kleine. „Ich habe dieses Mädchen hier total verstört gefunden. Sie kann ihre Mutter nicht finden. Können sie sie vielleicht für sie ausrufen ?“ fragte ich höflich. „Och, die Arme.“ sagte die Dame, auf deren Namensschild „Mrs. Weather“ stand. Anstatt irgendwelche Anstalten zu machen, die Mutter des Mädchens auszurufen, kramte sie aus ihrer Jackentasche ein Bonbon und gab es dem Mädchen. „Nun ?“ fragte ich. „Können sie die Mutter bitte ausrufen. Ich muss gleich meinen Zug erwischen, bitte.“ Die Dame nickte und fragte das Mädchen nach ihrem Namen. „Marie.“ antwortete die Kleine. „Marie und weiter ?“ fragte die Dame nun etwas genervt. „Marie Smith.“ antwortete die Kleine und begann wieder etwas zu schluchzen. „Wie originell.“ sagte Mrs. Weather etwas forsch und begab sich zu ihrem Mikrophon. Sie betätigte den roten Schalter daneben und man konnte ihre Stimme über Lautsprecher hören. „Achtung ! Eine Durchsage. Die Mutter von der kleinen Marie Smith möchte ihre Tochter doch bitte an der Information abholen. Danke.“ Ich setzte Marie auf den Boden und kniete mich zu ihr. „Keine Angst, Marie. Deine Mutter ist bestimmt gleich hier. Sie wird dich hier abholen und alles ist wieder gut, okay ?“ Marie nickte nur kurz und atmete erleichtert auf. „Ich muss nun los, aber die Dame hier wird sicher ganz gut auf dich aufpassen, Marie.“ sagte ich und wollte gerade meine Tasche hochnehmen. „Kannst du nicht mit mir auf meine Mommy warten ?“ fragte sie mich mit ihrer süßen Stimme. Ich sah kurz auf die Uhr und sah, dass mein Zug in zehn Minuten fahren würde. Ich hatte nicht viel Zeit, aber ich konnte Marie doch nicht einfach hier alleine stehen lassen. „Also gut, Marie. Aber ich muss in zehn Minuten meinen Zug bekommen. Wenn deine Mutter bis dahin nicht hier ist, musst du bei der freundlichen Dame bleiben.“ Ich sah, dass Mrs. Weathers uns beobachtet und gar nicht darüber erfreut war, dass ich das gerade gesagt hatte. Sie hatte wohl meinen ironischen Ton mitbekommen, aber es war mir egal. Marie nickte erfreut und umklammerte mich. „Danke, danke.“ sagte sie erleichtert.

„Sie können sich mittlerweile hier an der Seite auf die Bank setzen, wenn sie möchten, Fräulein.“ sagte Mrs. Weathers. Ich sah mich um und erblickte eine kleine heruntergekommene Bank an der Seite des Informationsstandes und Mrs. Weathers mußte meinen Blick gesehen haben, als sie sagte: „Keine Angst, die Bank ist nicht so zerbrechlich, wie sie aussieht.“ Ich mußte lachen und setzte mich vorsichtig mit Marie auf die Bank.

„Sag mal, wie alt bist du eigentlich und was tust du hier ?“ fragte ich Marie, damit die Zeit schneller verging und sie sich nicht ständig nach ihrer Mutter umdrehte. „Ich bin schon fast sieben und ich war hier zu Besuch bei meiner Großmutter. Sie hat ihren 80. Geburtstag gefeiert und als wir heute wieder nachhause fahren wollten, war meine Mutter plötzlich verschwunden. Und wie heißt du überhaupt und was machst du hier ?“ „Ich heiße Shanice. Ich fahre nachhause. Ich gehe hier zur Schule und möchte meine Eltern besuchen.“ Als ich diesen Satz aus mir herauskommen hörte, erschrak ich, denn ich hatte schon fast vergessen, dass ich meinen Vater ja nie wieder sehen können würde. Ich wurde traurig und Marie fragte mich, was denn los sei. „Ich bin nur etwas müde.“ antwortete ich ihr schnell. „Ich bin auch müde.“ sie lächelte mich an und ich strich ihr durch ihr goldblondes Haar. Sie war ein sehr hübsches Mädchen und ich war froh, dass sie nicht mehr weinte, denn so konnte ich ihre strahlend blauen Augen erkennen. Wir warteten noch einige Minuten schweigend, als plötzlich Mrs. Weathers auf uns zukam.

„Entschuldigen sie...“ sagte sie „wir haben ein kleines Problem.“ Ich stand auf und bat Marie sitzen zu bleiben. Ich wusste ja nicht, was Mrs. Weathers nun zu sagen hatte. Es konnte ja immerhin auch eine schlechte Nachricht sein. Ich bat sie etwas leiser zu sprechen, damit Marie uns nicht auf Anhieb hören konnte. „Hören sie, wir haben gerade alle Züge durchgefunkt, weil Mrs. Smith sich scheinbar nicht in der Bahnhofshalle befand und es ja unsinnig wäre hier stundenlang völlig sinnlos herumzusitzen...“ „Kommen sie endlich auf den Punkt, Mrs. Weathers.“ sagte ich schroff. „Okay.“ sie schluckte. „Mrs. Smith sitzt im Zug D 356 nach New York. Der Zug ist vor 30 Minuten abgefahren und hält nirgendwo zwischendurch.“ Ich blickte hinüber zu Marie und ich merkte, dass sie einen Teil unserer Unterhaltung mitbekommen hatte. Sie blickte verstört auf ihre kleinen Schuhe und zupfte an ihrem kleinen blauen Kleidchen. „Mrs. Weathers, ich bin ihnen ja sehr dankbar für ihre Hilfe, aber in zwei Minuten fährt mein Zug und ich...Moment...“ sagte ich. „Ich fahre ja auch nach New York. Vielleicht kann ich sie mitnehmen und zu ihrer Mutter bringen, die auf die Kleine am Bahnsteig warten kann, oder ?“ „Ich weiß nicht, ob das der Mutter recht wäre.“ sagte Mrs. Weathers. „Wieso sollte es ihr nicht recht sein ? Immerhin sitzt ihre Tochter hier in Buffalo, etwa 800 Meilen entfernt von New York und ich denke kaum, dass sie diese ganze Reise noch einmal machen möchte, nur um ihre Tochter zurückzuholen, wenn das alles auch viel schneller gehen könnte. Oder was meinen sie ?“ ich sah sie fragend an. „Sie haben Recht.“ antwortete sie verlegen und gab mir einen Zettel, auf dem der Name und die Zugnummer der Mutter stand und wünschte uns viel Glück. Ich drehte mich zu Marie um und wollte ihr gerade erklärten, was passiert sei, als ich plötzlich die Durchsage für meinen bzw. unseren Zug hörte. „Komm Marie, ich bringe dich zu deiner Mutter.“ Marie lächelte und nahm meine Hand. Ich packte meine Tasche und ging in schnellen Schritten mit Marie an der Hand zu unserem Zug.

Wir konnten noch gerade rechtzeitig einsteigen, bevor sich die Türen schlossen und der Zug auch schon loszufahren begann. Ich suchte mir mit Marie ein leeres Abteil und wir machten es uns gemütlich. „Warum ist meine Mommy denn schon losgefahren ohne mich ?“ fragte mich Marie. „Ich weiß es nicht meine Kleine, aber sie hat es bestimmt nicht mit Absicht gemacht. Immerhin hat sie dich ja im Zug auch gesucht.“ Marie sah aus dem Fenster und genoss den Ausblick. Ich lehnte mich in die orangefarbenen Sitze zurück, stützte meine Beine auf der anderen Seite der Tür ab und schloss meine Augen. Es war eine lange Fahrt bis nach New York und wir waren immerhin nicht im Intercity, deshalb schätzte ich unsere Reisezeit auf ca. zwei bis drei Stunden. Ich versuchte ein wenig zu schlafen und bemerkte, dass Marie sehr still geworden war. Ich sah kurz zu ihr hinüber und sie lehnte mit ihrem kleinen Kopf an meiner Reisetasche. Scheinbar hatte sie Angst, dass ich sie auch im Stich lassen würde. Ich zog meine dunkelbraune Lederjacke aus und legte sie ihr um, damit sie nicht fror. Sie sah so glücklich aus in diesem Moment und ich musste wieder einmal an meinen Vater denken. Der Gedanke an meinen Vater machte mich sehr traurig und ich beschloss so schnell wie möglich zu schlafen. New York war die Endstation dieses Zuges, also konnten wir uns nicht verfahren. Während ich mir noch Gedanken darüber machte, wie ich Maries Mutter erkennen würde, schlief ich ein.

Ich hatte einen schrecklichen Traum. Ich träumte von einer Floßfahrt mit meinem Vater, die wir jedes Jahr kurz vor Thanksgiving machten. Mein Vater liebte es den eiskalten Fluss, der zum Moosenead Lake führte mit seinem Floss hinunterzufahren. Jedes Jahr fuhren wir dorthin, seit ich mich erinnern kann und es war jedes Jahr wunderschön und vor allem kalt. Wir feierten Thanksgiving immer in einer Waldhütte bei Bangor gleich neben dem Moosenead Lake. Es war eine schöne Gegend, aber in meinem Traum war alles nur dunkel und grau. Ich konnte die Kälte spüren und ich hörte schreckliche Laute aus dem Wald. Ich rannte zu meinem Vater, doch dort, wo er stand lag nur sein Hut, den er vor über zwanzig Jahren von seinem Vater geschenkt bekommen hatte und ich rief nach ihm. Ich ging an den Rand des Sees und dort fand ich im Wasser ganz in der Nähe des Ufers einen seiner Schuhe. Ich sah Luftblasen auf der Oberfläche und schrie laut nach ihm und als gerade etwas aus dem Wasser auftauchte, das einen ziemlichen Gestank auf der Oberfläche verbreitete, wachte ich schreiend auf.

„Shanice, Shanice, wach auf !” schrie Marie total erschrocken. Ich setzte mich auf und bemerkte, dass alles nur ein böser Traum gewesen sein musste. „Was ist passiert ?“ fragte ich Marie. „Wir sind durch einen Tunnel gefahren und plötzlich hast du angefangen zu schreien. Du hast mir Angst gemacht.“ Ich sah aus dem Fenster und bemerkte, dass wir bereits aus den Bergen heraus waren und sicher bald in New York ankommen würden. „Es ist alles in Ordnung, Marie. Ich hatte nur einen Albtraum.“ „Ich habe Hunger und muss mal, Shanice.“ sagte Marie leise. Ich lächelte, nahm ihre Hand und führte sie aus dem Wagon.

Ich suchte eine Toilette und fand sie auch gleich am Ende des Wagons, ich deutete auf die Toilettentür. „Hier siehst du, Marie. Geh hinein und ich warte hier auf dich, in Ordnung ? Und danach holen wir uns was zu essen.“ Ich öffnete ihr die Tür und sie verschwand auch schleunigst darin. Während sie auf der Toilette saß, blickte ich mich um, ob ich einen Schaffner oder jemanden sehen konnte, der sich hier möglicherweise auskennen könnte.

Ich wartete bis Marie wieder herauskam und wir suchten einen besetzten Wagon. Als ich endlich einen Wagon mit einem scheinbar freundlichen Herren sah, klopfte ich höflich und fragte: „Entschuldigung. Wir suchen hier den Speisewagen, können sie uns helfen ?“ Der Her legte seine Börsenzeitung zur Seite und lächelte Marie an. „Tut mir leid, Misses“, sagte er. „Hier gibt es keinen Speisewagon. Das ist ein Pendelzug. Aber sie können sie ja in Allentown am Bahnhof etwas zu essen holen. Wir müssten in 45 Minuten dort ankommen.“ „Hält dieser Zug dort ?“ fragte ich verwundert. „Aber natürlich, würde mich wundern, wenn nicht. Ich muss dort jeden Tag ein- und aussteigen.“ Der Herr lächelte. Er sah sehr gepflegt und intelligent aus. Ich sah zu Marie hinab und sie grinste. „Also gut,“ sagte ich. „Vielen Dank noch mal für ihre Hilfe.“ „Äh...einen Moment.“ sagte der Herr. „Wollen sie mir nicht mit ihrer Tochter Gesellschaft leisten bis dorthin ?“ Ich sah ihn misstrauisch an und Marie zupfte an meinem Pullover. „Bitte, bitte.“ Sagte sie und ich konnte ihrem Betteln nicht wiederstehen. „Also gut meine Kleine, ich hole nur schnell unsere Tasche und bin gleich zurück. Könnten sie mittlerweile auf sie aufpassen ?“ Der Herr stand auf und gab Marie die Hand. „Aber natürlich Madame. Ich werde ein würdiger Babysitter sein, bis sie zurück sind. Gehen sie nur.“ Ich nickte, sagte kurz „Danke.“ und strich Marie noch einmal über das wunderschöne goldblonde Haar und schloss dann die Tür.

Ich ging zu unserem Abteil und wollte meine Tasche holen, doch alles was ich vorfand, war meine Lederjacke, die ich mir erst vor sechs Monaten gekauft hatte. Ich blieb erstarrt stehen und stierte auf das leere Abteil. Eine Dame kam aus dem Nebenabteil und fragte: „Geht es Ihnen gut, Kind.“ Ich nickte und antwortete total verstört: „Mein Gepäck wurde mir geklaut, als ich auf der Toilette war.“ Die alte Dame war sehr hilfsbereit und rief sofort einen Schaffner her. Dieser kam auch gleich zu uns und untersuchte das Abteil, nachdem ich ihm erklärt hatte, was passiert war. „Tut mir leid, Madam. Ich kann nichts finden. Nicht einmal einen Hinweis auf ein Verbrechen.“ „Was mache ich denn nun ?“ fragte ich total verwirrt. „In meiner Tasche war alles, was mir wichtig war.“ „Waren ihre Papiere denn auch dort drin ?“ fragte die alte Dame. Ich kramte in meiner Jackentasche und fand meinen Pass und meinen Geldbeutel unberührt vor. „Nein, das ist alles in meiner Jacke gewesen. Aber warum hat derjenige denn nicht diese wertvolle Jacke mitgehen lassen ?“ „Es ist auch sehr leichtsinnig seine Sachen alleine im Abteil liegen zu lassen.“ sagte der Schaffner. „Ja, ich weiß. Ich hätte nicht gedacht, dass in fünf Minuten Abwesenheit jemand meine Tasche klaut.“ antwortete ich verärgert. „Am besten, sie geben eine Anzeige gegen Unbekannt auf.“ sagte die Dame. „Ja...“ stotterte ich. „Vielen Dank trotzdem.“ Ich wollte gerade umkehren und zu Marie gehen, als der Schaffner mich festhielt und fragte: „Wollen sie nicht, dass wir den Zug durchsuchen oder wenigstens gleich die Polizei informieren ?“ „Nein, ich denke, das ich nicht nötig. Wenn der Dieb die Tasche aus dem Fenster geworfen hat, dann findet sie auch die Polizei nicht so schnell wieder.“ Ich machte kehrt und ging zu dem Abteil, in dem der nette Herr mit Marie saß und beide spielten „Ich sehe was, was du nicht siehst.“ „Shanice !“ rief Marie und machte einen Satz. Sie umarmte mich und sagte: „Victor hat mit mir gerade ein tolles Spiel gespielt.“ „Victor ?“ fragte ich. Der freundliche Herr im dunkelgrauen Jackett stand auf, reichte mir seine Hand und meinte: „Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Victor Rimes.“ Ich schüttelte seine Hand und sagte: „Ja stimmt. Ich bin Shanice Mountain und sie werden mir sicher nicht glauben, was mir gerade passiert ist.“ Ich setzte mich und Marie nahm auf meinem Schoß platz. „Was ist los ?“ fragte sie mich. „Meine Reisetasche wurde gestohlen, aber der Täter hat mir wenigstens meine Jacke mit meinem Pass und meinem Geld dagelassen.“ antwortete ich ihr. Marie seufzte und der Herr sah mich fragend an. „Und dann sitzen sie hier so ruhig ? Also ich würde an ihrer Stelle sofort die Polizei rufen lassen und bei der nächsten Haltestelle den ganzen Zug durchsuchen lassen.“ „Ja, nur bis wir in Allentown ankommen,“ sagte ich „ist der Dieb längst über alle Berge. Ich werde in Allentown Anzeige erstatten.“ Victor nickte und lächelte zu Marie. „Willst du ein paar Kekse, Marie ? Ich hab noch welche für den Notfall aufgehoben und wie es aussieht, ist das hier ein Notfall.“ Marie nickte und er gab ihr eine Packung Schokoladenkekse in die Hand. Gierig riss sie die Schachtel auf und schlang einen nach dem anderen hinunter. Ich musste lachen und Victor lachte mit, während Marie´s Gesicht immer mehr einer Schokoladenfabrik ähnelte. „Danke.“ sagte ich und lehnte mich zurück. Ich bemerkte, wie Victor mich beobachtete, aber ich fand dieses Gefühl plötzlich aufregend. Von einem fremden Mann beobachtet zu werden, mit dem man alleine in einem Wagon sitzt. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, war ich wieder einmal eingeschlafen.

Ich wurde wach, als Marie plötzlich von meinem eingeschlafenen Bein sprang. „Wir sind da.“ rief sie und sprang zum Fenster. Ich schrak hoch und konnte nirgendwo Victor entdecken. „Wo ist Victor hin, Marie ?“ Sie lächelte und sagte: „Er hat dir einen Brief dagelassen. Du sollst ihn mal anrufen, wenn du Zeit hast und er meinte, du schläfst so schön, dass er es einfach nicht über das Herz brächte, dich zu wecken.“ Ich musste grinsen und nahm den Zettel.

„Wir sind in New York ?“ fragte ich, bevor ich den Brief öffnen konnte und den Schaffner rufen hörte, dass wir aussteigen sollten, weil der Zug bald wieder umkehren würde. „Ja !“ sagte Marie. „Ich hab doch gesagt, du hast zu schön geschlafen, als dass wir dich hätten wecken können.“ Marie grinste und gab mir meine Jacke. Wir stiegen aus dem Zug und ich versuchte einen Informationsschalter zu erblicken.

Marie zog mich hinter sich her und rannte plötzlich weg. „Marie !“ schrie ich auf und rannte hinter ihr her. Dann sah ich, dass sie auf eine wunderhübsche große, schlanke Frau zulief und mit einem Satz in ihren Armen landete. Die Frau musste Marie´s Mutter sein, deshalb blieb ich stehen. Ich hatte mich gerade so an die Kleine gewöhnt, dass ich total vergessen hatte, dass ich eigentlich nur ihre Zugbegleiterin gewesen war. Ich blickte mich um, ob ich irgendwo eine Telefonzelle finden konnte und plötzlich hörte ich Marie rufen: „Shanice !“ Ich sah zu ihr hinüber und sie winkte mir zu. Sie und ihre Mutter kamen auf mich zu und Marie klammerte sich an mich. „Meine Name ist Veronique van de Smith. Vielen Dank, dass sie das für mich und meine Tochter getan haben. Wie kann ich mich bei ihnen revangieren ?“ Ich strich Marie über den Kopf. „Ach, das hab ich doch gern getan. Sie ist ja auch ein ganz liebes Mädchen gewesen.“ Mrs. Smith nickte mir zu und schüttelte meine Hand. „Vielen Dank noch mal und wenn sie jemals etwas brauchen sollten, dann melden sie sich bei uns.“ Sie kramte in ihrer winzigen Handtasche und gab mir ein Kärtchen auf der ihr Name und ihre Adresse in New York stand. „Danke ihnen.“ sagte ich und umarmte Marie zum Abschied. „Mach´s gut, meine Kleine und pass auf dich auf.“ flüsterte ich in ihr Ohr und sie und ihre Mutter machten sie auf den Weg zu den Taxis.

Ich war den Tränen nahe, denn ich hatte Marie in dieser kurzen Zeit sehr lieb gewonnen. Sie war so offen und ehrlich und sie war ein wunderhübsches Mädchen. Wahrscheinlich würde sie in zehn Jahren schon irgendwo auf einem Modelshooting zu sehen sein, weil ihre Mutter sicherlich darauf achtete, dass sie auch groß herauskommen würde und auch viel Geld verdienen würde. Sie machte den Anschein, als wäre sie selbst einmal Model gewesen, aber ihr Name kam mich nicht bekannt vor und deshalb ließ ich meine Gedanken wieder zu meiner gestohlenen Reisetasche schweifen. Ich suchte den nächstbesten Bahnhofs-Polizisten und schilderte ihm den Vorfall. „Gut, dann müssen wir ihre Aussage schriftlich aufnehmen, Misses. Würden sie bitte mitkommen.“ sagte er und ich folge ihm in eine große Panzertür am Ende der Schalterhalle. „Keine Angst.“ sagte er, als ich ihm durch die Tür folgte. „Hier hinten muss es sicher sein, damit keine ungebetenen Gäste hereinspazieren können.“ Ich folgte ihm in ein kleines schäbiges Bahnhofszimmerchen mit einem großen Schreibtisch und zwei alten Stühlen. „Bitte setzen sie sich.“ bot er mir an und ich machte es mir, so gut es ging, gemütlich. „So und nun erzählen sie mir die ganze Geschichte noch einmal von vorne und lassen dabei kein Detail aus.“ Ich begann also mein Erlebnis noch einmal von vorne zu erzählen und der freundliche Bahnhofs-Polizist mit dem Namensschild „Station-Officer Brown“ tippte fleißig auf seiner alten Schreibmaschine mit. Nach etwa einer Stunde hatte er alles zu Papier gebracht und ich unterschrieb die Aussage. „Gut, vielen Dank und ich drücke ihnen die Daumen, Miss Mountain. Ich werde das sofort an die Hauptpolizeidienststelle weiterleiten.“ sagte er und brachte mich wieder hinaus zur Tür.

Ich verabschiedete mich und setzte mich in das kleine Bahnhofscafé direkt an den Gleisen. Ich bestellte mir ein Croissant und eine heiße Schokolade. Ich war froh, dass ich bereits in New York war. Ein unnötiger Zwischenstop in Allentown hätte mich bestimmt einige Zeit gekostet. Jetzt waren es nur noch ca. 200 Meilen nachhause. Nachdem ich bezahlt hatte, kaufte ich mir am Schalter ein Ticket nach Boston. Mein Zug fuhr erst in drei Stunden, also beschloss ich noch ein bisschen Bummeln zu gehen.

wie soll die Geschichte weitergehen ? Schreibt mir ...

 

Tja...so schlecht finde ich meine Geschichte gar nicht...so langweilig mein ich ...

 

Original erstellt von Coxy:
Tja...so schlecht finde ich meine Geschichte gar nicht...so langweilig mein ich ...

Ich verstehe dich - meine eigenen Geschichten zählen auch zum besten, was die Gegenwartsliteratur zu bieten hat. Trotzdem sind sie noch unveröffentlicht. Verrückte Welt! :D

Gerne würde ich dir bei deiner Geschichte weiterhelfen, aber ich fürchte, der Schluss ist an Spannung einfach nicht mehr zu toppen:

Nachdem ich bezahlt hatte, kaufte ich mir am Schalter ein Ticket nach Boston. Mein Zug fuhr erst in drei Stunden, also beschloss ich noch ein bisschen Bummeln zu gehen.

Höchstens könnten wir noch was mit Aliens und Todesstrahlen des Dr. Marbuse einbauen, um den Spannungsfaden straff zu halten!
Interessant finde ich übrigens, dass man erst bezahlt und sich dann ein Ticket kauft.
Heißt das, man muss sich das Recht, ein Ticket zu kaufen, erst erwerben? :cool:

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom