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Das ganz besondere Schicksal des P.
Das ganz besondere Schicksal des P.
...niemand behütete ihn im Schlaf, als er träumte.
Da stand eine Frau in der Küche und rührte mit einem viel zu großen hölzernen Löffel eine breiige Masse in einem Kochtopf um. Ein kleines Kind saß etwas abseits davon und spielte mit einer Quietschente. Es sah auf.
Du? Mama?
Ja, mein Sohn. Ich koche deinen Reis, mein Kind, deinen Milchreis, den du doch so sehr liebst.
Ja, Mama.
Siehst Du das denn nicht?
Ja, Mama.
Wirklich nicht?
Ja, Mama.
Brauchst Du denn jetzt schon eine Brille? Mein Gott, ich dachte, Du wärest ein anständiges Kind!
Ja, Mama. Brille?
Für Deine Augen, Sohn! Für Deine runden, runden Augen! Damit Du etwas sehen kannst!
Ja, Mama.
Mein Gott, was soll nur aus Dir werden? Willst Du mit den Fischen schwimmen? Immer nur mit den Fischen?
Ja, Mama.
Was soll nur aus Dir werden? Einer von denen, die mir schon mit Achtzehn davon sterben? Mit Achtzehn! Mein Gott!
Ja, Mama.
Kind! Kannst Du denn nichts anderes sagen als Ja und Mama? Mein Gott!
Das Kind zögerte.
Gott? Wer ist Gott?
Mit diesen Worten erwachte Pisc immer schweißgebadet aus diesem Traum. Er träumte ihn fast täglich, als er noch jung war. Er hatte ihn nie verstanden. Jetzt wo er alt genug war und seine Mutter tot, war er das einzige, woran er sich aus seiner Jugend erinnerte. Nur verstanden hatte er ihn immer noch nicht.
Aber er dachte lange darüber nach.
Als das Leben seiner Mutter dann endete, schien seines gerade erst zu beginnen. Die Schule war in den letzten Tagen ausgefallen, denn es herrschte Krieg. Gegen Unbekannt. Es sah schlecht aus für die Menschheit, was auch immer das war. Für ihn waren es Fische.
Deshalb war das erste, was er eines Tages im Briefkasten vorfand, ein Brief, der maschinell an ihn verfasst war. Eine Vorladung zur Musterung. Er nickte nur und ging nicht hin. Zwei Tage später holte man ihn ab. Er wehrte sich nicht.
Der Feldwebel trug eine blaue Uniform, so blau wie das Meer einmal gewesen sein musste, und erwartete ihn bereits. Ein Formular in seiner Hand wartete begierig darauf, ausgefüllt zu werden. Pisc ging hin, in der bitteren Gewissheit, sein Testament zu unterschreiben. Er lächelte.
Alter?
Siebzehn. Siebzehneinhalb.
Name?
Pisc. P-I-S-C.
Was soll das sein, eine Krankheit oder ein Name?
Das ist mein Name. Pisc musterte die Augen des Mannes: Groß und rund und blau wie blaue Ballons, wie Fischaugen, glubschige Fischaugen.
Ach so, aha, na also. Das sind mir Sitten heutzutage! Pah! Wo kämen wir hin, wenn wir alle solche Namen hätten!
Das wäre mal etwas Neues, Rosthirn, dachte Pisc, sprach es aber nicht aus.
Also Pisc. Einfach nur Pisc. Ganz banal. Sind Sie Lungenatmer?
Pisc schaute verdutzt. Wie bitte?
Hatte er das gerade richtig verstanden? Grübelnd stand er vor dem Feldwebel, seinem strengen Blick so gut es ging standhaltend, bis es ihm wieder einfiel. Sind Sie Asthmatiker? hatte er gefragt. Er hatte sich wohl verhört.
Ja, das bin ich. Er hustete demonstrativ.
Der Feldwebel seufzte und machte ein Häkchen auf seinem Zettel. Nun, eigentlich wäre das ein Problem, mein junger Freund. Aber wir sind im Krieg und brauchen jeden Mann, den wir bekommen können, ob er nun hustet oder blutet. Was macht das schon. Ab, nach rechts.
Und wenn ich Blut huste, dachte Pisc, dann bist du der erste, der es schmecken wird. Er ging nach rechts, ein mechanisches Grinsen auf seinem Gesicht.
Dort, in dem kalten, weißen Raum, erwarteten ihn bereits die anderen Fische, große wie kleine, dicke und schlanke, alte und junge. Man hatte keinen Unterschied gemacht. Dann kam der Mann mit den Fischaugen zurück, der kein Fisch sein wollte.
Wir haben einen neuen Feind. Einen neuen Feind, hört Ihr! Und keinen irdischen, nein! Wenn ihr alle Nachrichten hören würdet, wüsstet Ihr, wovon ich spreche.
Hörst Du Nachrichten? fragte er den ersten in der Reihe. Elfmal war ein Ja zu hören, bevor Pisc ganz entschieden hustete und Nein log. Der Feldwebel grinste hämisch.
Keine Ahnung, hm? Keinen blassen Schimmer? Vielleicht sollten wir das ändern, hm? Was meint Ihr?
Alle nickten. Pisc schwitzte Wasser.
Nun. Ein neuer Feind ist vom Himmel gestiegen. Ein neuer Feind, und wir wissen nicht, wer oder was er ist. Noch hat ihn niemand zu Gesicht bekommen. Niemand, aber er ist da!
Er machte eine Sprechpause und ließ seinen unangenehmen Blick über Piscs markantes Gesicht gleiten.
Vielleicht ist er sogar unter uns!
Seine Augen verengten sich zu bösartigen Schlitzen und er blickte sie der Reihe nach durchdringend an, dass ihnen kalt wurde.
Aber nein. Er entspannte sich. Soweit kommt es nicht. Nicht in unseren Reihen. Nein, noch nicht. Seid Euch sicher.
Pisc schaute sich um. Aus den Gesichtern der anderen las er, dass sie sich unwohl fühlten. Wer war dieser Feind?
Ihr fragt Euch nun sicher, wer unser Feind ist. Wir wissen es nicht, das sagte ich Euch bereits. Wir wissen nur, wie er vorgeht. Er setzt sich in die Köpfe unserer Mitmenschen und lenkt sie. Ja, genauso geht er vor! Hinterlistig und gemein. Rücksichtslos. Lasst euch das durch den Kopf gehen und denkt darüber nach! Ich komme gleich zurück, dann will ich, dass jeder sich darüber Gedanken gemacht hat! Zackzack!
Er ließ sie allein und nachdenklich zurück. Auf dem Tisch des Feldwebels bemerkte Pisc einige schwarzweiße Zeichnungen. Es waren Menschen, lebend und sterbend, aufrecht und danieder liegend. Und der schwimmende Mensch, der ewig treibende, wo ist der? fragte er sich, konnte ihn aber nicht finden. Dieser Krieg würde ihm nicht gefallen.
Schneller als erwartet kehrte der fischige Feldwebel ohne Namen zurück. Namen sind Schall und Rauch, sagte er, als er eintrat. Setzen!
Unser Feind bedroht uns jetzt seit 2 Wochen. Er war auf einmal da und jetzt muss die zivilisierte Welt zum Krieg ausrufen, denn mehr und mehr Städte fallen in seine Hände, versteht Ihr das? Mehr und mehr. Und Ihr müsst dagegen ankämpfen. Und dazu braucht Ihr Training. Ich habe hier eine Anleitung zum Töten für Euch, dort könnt ihr nachlesen, wie Ihr Menschen umbringt, ganz schmerzlos und ohne Gewissenskonflikte für Euch selbst. Die Technologie macht es möglich. Dieser Krieg ist überzeichnet, aber dann müsst Ihr es auch sein!
Pisc hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl aus. Er stand auf und sprach mit zittriger Stimme.
Und wenn man das alles nicht will? Bleibt dann nur noch Selbstmord?
Der Feldwebel starrte ihn unberührt an. Seine harte Antwort hallte Pisc noch während der gesamten Ausbildung in den Ohren nach. Dann schwimmst Du gegen den Strom. Das ist verboten.
Eine Woche dauerte sie, die Ausbildung. Dann war Pisc bereit zu töten. Er hatte mit der Zeit immer mehr das Gefühl, eine Maske aufgesetzt zu haben. Wenn er töten würde, würde es nicht mehr er sein. Das verschaffte ihm Frieden. Und diese Maske lächelte bitter.
Eine Stadt im Norden war ihr Einsatzort. Zerfressen von den Ideologien des Feindes. Menschen waren ihr Ziel, wo es doch eigentlich der Feind sein sollte. Pisc freute sich darauf, mit seiner Maske gegen Gesichtslose zu kämpfen. Sie würde ihm nichts nützen. Deshalb erdachte er sich einen anderen Plan.
Fasst! schrie der blaugekleidete Mann, der kein Fisch sein wollte, oder hatte er Greift an! gesagt? Was machte das noch für einen Unterschied, dachte Pisc und lud sein Gewehr. Mit Wasser. Hunde! Man machte sich bereit für die Schlacht. Auf, auf!
Auf der Hälfte des Weges fiel jemandem auf, dass einer von ihnen fehlte. Es war Pisc. Er war zurückgegangen und stand vor dem Feldwebel, der wutentbrannt dreinblickte und fast zu platzen drohte. Seine blauen, runden Augen drohten zu platzen. Pisc versteckte etwas hinter seinem Rücken, als der Feldwebel ihn anbrüllte, um den Kampfeslärm zu übertönen.
Worauf warten Sie, Mann! Es ist Krieg! Ihre Freunde bluten, während Sie hier husten! So etwas nutzloses! Was starren Sie denn so?
Pisc zögerte zuerst, dann sprach er mit fester, überzeugter Stimme. Die Schlacht war bereits in vollem Gange, ihr Verlauf nicht anders als die vielen Gemetzel zuvor. Ich will Ihnen etwas sagen. Und Sie etwas fragen. Versuchen Sie, sich zu erinnern. Haben Sie immer brav Ihren Milchreis gegessen? Ja? Mussten Sie eine Brille tragen, als sie noch jung waren? Ich sage Ihnen, sie hätten heute noch eine nötig! Jawohl! Und haben Sie sich schon einmal gefragt, welche Brille Gott tragen würde heutzutage? Ich ja. Schwarzweiß. Er sieht nur noch schwarzweiß heutzutage, deshalb müssen seine Brillengläser schwarzweiß sein, ja! Denn er ist wütend, er hat ja allen Grund dazu! Ich bin auch wütend - aber ich bin nicht Gott. Deshalb will ich Dir etwas geben, Dir, denn im Tod sind wir alle per Du, Du glucksender gaffender Goldfisch!
Es war ein Eimer Wasser, der den Feldwebel im Gesicht traf und ihn benommen machte. Pisc lachte über seinen Triumph. Wasser! Einfaches Wasser! Mit lauter Stimme rief er gen Schlachtgetümmel, sich fast vor Enthusiasmus verschluckend.
Wie Ihr alle nach Luft schnappt! Seht nur, wie Ihr alle nach Luft schnappt! Es regnet, regnet Blut, auch Euer eigenes, und Ihr schnappt nach Luft! Die Fische, die Fische, sie ertrinken! Ertrinken in ihrem eigenen Wasser! Die Antwort ist: NEIN!
Für die letzten Worte hatte er sich ein Megaphon gegriffen und seine Stimme über den Kampflärm hinweg erschallen lassen, so laut er konnte, dann traf ihn eine Kugel von hinten in den Kopf und er war tot. Endgültig tot.
Doch seine letzten Worte fluteten noch das Schlachtfeld, erreichten die Soldaten, die Feldwebel, die Verantwortlichen. Den Feind. Einige wandten ihren Blick dem Ursprung des Ausrufs zu, aber dort stand niemand mehr.
Und warum fragt mich niemand?
Niemand?
Warum denn fragt mich...
(C) by Sternenfluter (SCS), 20.11. AD 2001
[Beitrag editiert von: Sternenfluter am 21.11.2001 um 23:27]