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Das Geheimnis

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21.01.2002
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Das Geheimnis

Tina wartet, sagst du, ich muss gehen. Sie ist schon wieder sauer, weil du dauernd unterwegs bist. Du würdest dir gar keine Zeit mehr für die Kinder nehmen und so, dabei sei das totaler Quatsch. Aber das sei okay, glaubst du, eine Beziehung brauche auch Streit, brauche eine Reibungsfläche. In deinem Alter sei das so, dabei bist du nur acht Jahre älter als ich. Und du bedankst dich fürs Zuhören, ich nicke nur, dafür bin ich doch da. Du ziehst deine Jacke an, greifst nach deinem Rucksack. Nächste Woche müssen wir noch das Bioprojekt besprechen, ich hab da noch ein paar interessante Sachen gelesen, naja, du hast ja meine Nummer, alles klar, also dann. Dein Haar fällt dir ins Gesicht. Ich denke daran, wie ich dich zum ersten Mal gesehen habe, es war auf meiner Party, irgend jemand hatte dich mitgebracht. Die Wohnung war voller Leute, es war laut und verraucht. Da standest du dann plötzlich. Total betrunken. An den Türrahmen gelehnt, mit einer Flasche Bier in der Hand. Wer ist das denn, habe ich gedacht. Es war halb drei Uhr nachts. Kurz darauf hast du in die Dusche gekotzt, und ich hätte dich am liebsten vor die Tür gesetzt. Der Boden klebte und ich war müde. Drei Wochen später habe ich dich im Seminar wiedergesehen. Und mittlerweile arbeiten wir zusammen an dem Bioprojekt.
Ich sehe dich an und hoffe, dass du etwas sagst. Aber du kannst nur deinen Autoschlüssel nicht finden und wühlst in deinen Taschen. Insgeheim hoffe ich, dass du ihn gar nicht mehr findest. Du fährst wie ein Henker und dein Auto ist so alt, dass es fast auseinanderfällt. Du fährst rückwärts in Einbahnstraßen hinein und quetschst dich in winzige Parklücken, und ich muss dann aussteigen und schauen, wieviel Platz noch bleibt. Und wenn ich wild mit den Händen winke, grinst du nur und gibst noch einmal Gas, bis sich die Stoßstangen berühren. Es ist Herbst und unsere Haare leuchten rötlich in der Sonne, wir lachen und laufen in die Uni, aber die Zeit reicht nicht mehr für einen Kaffee. Du weißt nicht viel von mir. Du weißt nicht, dass ich Kaugummi nicht ausstehen kann und zum Einschlafen alte Kinderkassetten höre. Du weißt nicht, dass ich gern spazieren gehe, wenn es draußen windig ist und dass ich heimlich Gedichte schreibe. Du weißt nicht, dass ich oft an dich denke.
Als wir nach unserer Projektarbeit noch mit den anderen in der Kneipe waren, habe ich zu viel getrunken. Du hast neben mir gesessen und wir haben geredet und geredet. Es war, als ob es nur uns beide gäbe und niemanden sonst auf der Welt. Die anderen waren nur Dekoration. Ich habe nicht mehr gemerkt, wieviel Wein ich schon getrunken hatte. Dann wurde mir schlecht und ich bin raus in die Kälte, bin umhergelaufen zwischen graugelben Laternenlichtkreisen, verschwommen zwischen Autos und Kneipenlärm. Und ich habe gehofft, dass du nicht mitbekommen hast, wie ich mich hinter einem Mülleimer übergeben habe. Dann habe ich mir auf der Toilette die verschwommene Wimperntusche abgewischt und du bist gekommen, ich fahre jetzt nach Hause, soll ich dich ein Stück mitnehmen, nein danke, ich nehme den Bus. Du hast nur genickt und mich zum Abschied kurz umarmt, dann bist du in die Nacht hinaus verschwunden, mit großen schwingenden Schritten.
Manchmal ist es, als ob wir ein Geheimnis teilen. Niemand weiß von uns, niemand weiß, wie wir uns abends in deinem Auto plötzlich geküsst haben. Nicht einmal Maria habe ich es erzählt, dabei weiß Maria alles von mir, sie weiß, wie ich in der siebten Klasse so in Kai verliebt war, und sie war für mich da, als meine Mutter den Unfall hatte. Du streichst mir über mein Haar, wieder und wieder, ich verharre regungslos, wage nicht zu atmen. Ich spüre dich, spüre deine Nähe, weiß, was du denkst, Sekunden der Ewigkeit. Deine Lippen sind warm und weich, dein Haar kitzelt mich. Wir küssen uns, als ob wir nie etwas anderes getan hätten. Mir ist heiß, ich bin aufgeregt. Deine Hände streicheln meinen Rücken. Du siehst mir in die Augen. Plötzlich fährt ein anderes Auto vorbei, ich drehe den Kopf zur Seite und blinzle im Scheinwerferlicht. Dann ist alles schon vorbei. Du siehst aus dem Fenster und sagst nichts mehr. Ich höre der Musik zu, "Imagine" von John Lennon, ich kenne die Kassette, es ist das letzte Lied. Danach wird Stille folgen, und davor habe ich Angst. Die Stille ist bedrohlich. Wir werden sie überspielen, die Stille, du wirst Witze machen und ich werde lachen, aber nicht von innen. Ich werde noch oft daran denken, an diese Nacht im Auto, wenn ich dich mit Tina und den Kindern in der Stadt sehe, wenn wir mit unserer Projektgruppe an einem großen Tisch sitzen und nur unsere Blicke sich verstohlen treffen, über alle anderen hinweg. Und manchmal werde ich nicht mehr so genau wissen, ob das alles wirklich geschehen ist, oder ob mir meine Phantasie nur einen Streich gespielt hat.
Du hast deinen Autoschlüssel gefunden, er war natürlich doch in der Jackentasche, hab ich dir doch gleich gesagt. Das Bioprojekt besprechen wir nächste Woche. Rauchen wir noch eine, nein, ich kann nicht, Tina wartet. Okay, dann mach ´s mal gut, höre ich mich sagen. Du stehst in der Tür. Wir sehen uns, sagst du. Ja. Wir sehen uns.

 

Hi,
lese diese Geschichte nun zum zweiten Mal.
Ich kann Dir auch wirklich keine konstruktive Kritik liefern.
Nur soviel: Diese ist ganz anders als die Rhabarber-Geschichte, aber genau so gut. Trifft genau meinen Geschmack. Bitte weitermachen!

Lola

 

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