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Das Haff

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25.10.2005
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Das Haff

Es ist die Nacht vom 21. zum 22. Januar. Ich habe wieder Nachtdienst, zusammen mit Herrn von Hofmannsguth, dem alten Fahrdienstleiter. Zwölf Stunden lang Nachtdienst. Es ist eine sehr kalte, unruhige Winternacht. Die nur mit Knüppeln bewaffneten Volkssturmmänner gehen zu dritt oder viert an den vereisten Bahngleisen entlang, schweigend wie in den vorangegangenen Nächten, bis zum Bahnhof Dallwitz. Eine Strecke von rund drei Kilometern, die durch einen dichten Tannenwald führt. Sie sollen Wache halten, denn die Soldaten von der Wehrmacht sagen, Partisanen wären von Flugzeugen im Kranichbucher Forst abgesetzt worden. Nun werden vermehrte Anschläge auf den Bahnkörper befürchtet. Nach ihrer Rückkehr berichten uns die Männer vom Volkssturm, sie hätten von den Gleisen Schatten in den Wald hinein huschen sehen, so wie sie auch schon gestern davon berichtet haben. Nachdem sie sich in unserem Dienstraum aufgewärmt haben, gehen sie wieder in die Dunkelheit hinaus, zu dritte oder zu viert.

Gegen Mitternacht – es hat wieder zu schneien begonnen - funktioniert plötzlich unser Einfahrtsignal aus Richtung Insterburg nicht mehr. Es zeigt dauernd Rot. Das Signal wird durch einen Seilzug bedient und ist ungefähr hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Herr von Hofmannsguth flucht in das Telefon, als er die Meldung erhält. Für mich bedeutet das folglich, dass ich nun jedem Zug bis zum Signal entgegen laufen muss, um dem jeweiligen Lokführer einen schriftlichen Befehl vom Fahrdienstleiter Sebastian von Hofmannsguth zu überbringen. Darin steht, dass der Zug an dem Haltesignal vorbeifahren darf. Die verdunkelten Wehrmachtszüge fahren im Abstand von zehn Minuten. Ich laufe pausenlos. Hin, um den Befehl zu überbringen. Und natürlich zurück, um die Ausführung zu bestätigen. Angst, die vereisten, dunklen Gleisbette entlang zu laufen, lasse ich gar nicht erst aufkommen. Ich bin ein deutscher Junge, ich kenne keine Angst. Und schon gar nicht, wenn ich meine Heimat verteidige! Nur, zu dritt oder zu viert wäre das Laufen irgendwie interessanter. Oder mit meinem Vater, aber der hat noch Dienst beim Gauleiter.

Um sechs Uhr morgens werde ich abgelöst und ich gehe nach Hause, freue mich aufs Schlafen. Mutter kommt und bittet mich, doch bald wieder aufzustehen. Ich soll zu meiner Schwester Lotte fahren. Mutter sorgt sich natürlich um sie. Sie hat gehört, dass die Hebamme aus Jänichen schon geflüchtet ist. Auch die siebzehnjährige Cousine Lore, gerade mal drei Jahre älter als ich, die einige Tage bei Lotte bleiben sollte, ist nach Hause gelaufen. Nun ist meine Schwester mit ihrer Kinderschar allein. Ich bin noch ganz warm vom Laufen in der Nacht, nicke meiner Mutter zu und lege mich in das kalte Bett.

Zwei Stunden Schlaf gönne ich mir, dann stehe ich auf. Mutter hat die Lebensmittel schon auf den zweirädrigen Kastenwagen gepackt. Sie spannt unsere alte Schimmelstute Cora davor und ich steige auf und fahre los. Cora folgt aus Wort, eigentlich könnte ich sie ohne Leinen und Geschirr fahren. Die Fahrt ist schwierig, nicht nur, weil Cora seit Tagen keinen Hafer bekommen hat. Als ich die Chaussee erreiche, ist diese voller Flüchtlingswagen und Fahrzeugen mit flüchtenden Soldaten. Viele sind verletzt, tragen weissrote Verbände an Armen, Beinen oder auf dem Kopf. Ich komme nur sehr langsam vorwärts, denn ich muss ja in die entgegengesetzte Richtung. Und Cora geht auf dem eisigen, harten Boden ohnehin nur Schritt.

Meine Schwester hat ein kleines Mädchen geboren. Es ist erst zwei Tage alt. Albert, das älteste ihrer Kinder, selbst erst sechs Jahre alt, muss bereits mithelfen, die kleineren Geschwister zu versorgen, insbesondere die dreijährigen sehbehinderten Zwillinge. Sie haben eine seltene Erbkrankheit, sagt meine Mutter. Ich koche den Milchbrei für die Kinder und für meine Schwester, ihre Mutter. Helfe ihr beim Waschen, beim Putzen und beim Füttern der Hühner, Hasen und der alten Kuh, die nur noch jeden zweiten Tag Milch gibt. Von einem Bauern einige Häuser weiter bekomme ich Stroh, Heu und einen Eimer Hafer für Cora, die alles zurück fahren muss, dafür jedoch einen halben Eimer des Hafers bekommt. Selbst einen Topf mit Schmalz hat er mir für meine Schwester und die Kinder mit gegeben. Dann muss ich auch schon wieder weg von Lotte. Ich kann nicht bei ihr bleiben, obwohl sie wieder zu weinen beginnt, weil sie auch an diesem Tag keine Feldpost von Martin, ihrem Mann, bekommen hat, denn ich habe auch heute wieder Nachtdienst als Weichenwärter im Bahnhof Mattenau. Da darf und kann ich nicht einfach fehlen. "Wir müssen durchhalten bis zum Letzten, um den Betrieb dieser, für die Ostfront so wichtigen Bahnstrecke aufrecht zu erhalten, Der Krieg beginnt bereits in der Heimat!" sagt unser Bahnhofsvorsteher von Hofmannsguth immer wieder. Das ist auch meine Meinung! Von Hofmannsguth hat auch schon durchgehalten. An der Ostfront, als sie noch zweihundert Kilometer weiter im Osten lag. Sein Durchhalten begann mit einem Lungendurchschuss und endete mit einem erfrorenen Bein, das sie ihm dann abgenommen haben. Er ist stolz auf sein eisernes Kreuz. Als ich Cora nach Hause lenke, beginnt es zu schneien, mit dicken, weißen Flocken, die sogar auf dem Pferderücken liegen bleiben. Schade, dass sie bereits ein Schimmel ist. Sie schnaubt, als ob sie meinen Gedanken gehört hätte. Ihre Atemwölkchen vermischen sich mit den Schneeflocken, werden schnell dünner und verschwinden irgendwo dazwischen.

Pünktlich um achtzehn Uhr erscheine ich auch an diesem Tag wieder zum Dienst. Aber wie sieht es plötzlich am Bahnhof aus? Schweine und Kühe laufen ziellos umher. Blut im Schnee zeigt mir, wo in großer Eile Tiere geschlachtet worden sind. Manche dieser roten Flecken dampfen sogar noch. Menschen mit Koffern und Bündeln drängen in den Zug, der auf dem Gleis in Richtung Westen steht.

"+++ Das ist der letzte Flüchtlingszug +++ Die Russen kommen +++"

Diese Nachricht kommt aus dem tickenden Morseapparat im Büro. Die meisten Telefonanlagen und Signalleitungen der Reichsbahn sind schon zerstört. Von Hofmannsguth sitzt davor, sein Beinstumpf ist mit einer Hakenkreuzfahne umwickelt; die Kälte wird sie nicht abhalten können. Ich höre Hufschlag, lege ein Holzscheit in den Ofen und eile hinaus. Mit dem Pferdeschlitten bringt mein Vater unsere Großmutter, Mutter und meinen zehnjährigen Bruder Helmut, der auch schon seit Tagen Fieber hat, zum Zug. Gepäck haben sie kaum dabei. Vater muss wieder zum Gauleiter zurück, denn die Volkssturmmänner sollen im Treck fahren und das Vieh mittreiben. Es ist eine bitterkalte Nacht. Der Zug, in dem meine Lieben sitzen, steht vor dem Fenster meines Dienstraumes. Er kann nicht geheizt werden, weil der Lokführer die Kohlen für die Flucht aufsparen will. Der Zug kann auch nicht abfahren, weil die Bahnstrecke total verstopft ist. Über dem dunklen Himmel in Richtung Insterburg, wo wir im Sommer öfter hinfahren, steht jetzt ein blutroter Feuerschein. Immer noch gehen Volkssturmmänner, nur mit Knüppeln bewaffnet, die Bahngeleise entlang. Man befürchtet Anschläge durch Partisanen. Um zwei Uhr in der Nacht fährt der Lokführer den Zug, ohne durch Signale gesichert zu sein, ohne Fahrbefehl, nur auf Sicht und eigene Verantwortung in die Dunkelheit hinaus. Von Hofmannsguth hat sich alles unterschreiben lassen und wünscht ihm viel Glück.

"Heil Hitler!"

"Lieber Gott, hab Erbarmen", bete ich laut und mein Fahrdienstleiter blickt mich an, während er die Fahne enger um sein Bein wickelt.

Morgens um sechs Uhr, als mein Dienst zu Ende ist, löst mich Magdalena, die zwölfjährige mit den blonden Zöpfen vom Dienst ab. Auch sie ist der Ansicht, dass wir wie Soldaten auszuharren haben. Noch einmal gehe ich nach Hause. Kein Mensch ist zu sehen, nicht im Dorf Mattenau und in der abseits stehenden Mühle auch nicht. In meinem Elternhaus nehme ich den Koffer aus Sperrholz, den österreichische Panzergrenadiere angefertigt hatten, als sie Anfang einundvierzig wochenlang in den Dörfern Ostpreußens im Quartier lagen, bevor sie nach Russland ziehen mussten. In den Koffer lege ich ein großes Schwarzbrot und den geräucherten Schinken, den Mutter für mich dagelassen hat. Ich ziehe meinen grauen Wintermantel an, darüber den Eisenbahnermantel. Dann schreibe ich für meinen Vater, der nicht im Hause, aber auch noch nicht aufgebrochen ist, ein paar Zeilen zum Abschied, lege den Zettel auf den Tisch und mache mich wieder auf den Weg. Ich denke, ich habe alle Anweisungen ausgeführt und nichts vergessen.

Nun stehe ich hier auf der Straße nach Mattenau. Von dieser Stelle aus kann ich mein Elternhaus noch einmal sehen. Hellgrün mit rotem Dach und kleinen Fenstern steht es da im Sonnenschein. Unsere Tiere kann ich von hier aus nicht entdecken. Vater hat die Stalltüren geöffnet, damit sie ins Freie können. Sie müssen ihrem Schicksal überlassen bleiben. Still nehme ich Abschied von dem Ort meiner Kindheit. Vielleicht ist es ein Abschied für lange Zeit, vielleicht für immer. Es gibt einige Leute, auch in unserem Dorf, die behaupten, dass der Krieg verloren ist. Mein Fahrrad lehnt an der Latrine. Mit dem festgezurrten Holzkoffer darauf, schiebe ich es durch den frischgefallenen Schnee. In der Luft sind viele Flugzeuge, unmöglich zu sagen, woher sie kommen, wohin sie fliegen. Sind es deutsche oder feindliche? Ich weiß es nicht. Der Geschützdonner rollt über den Himmel und scheint sehr nahe zu sein. Ich werde zum Bahnhof gehen. Vielleicht gibt es dort noch eine Möglichkeit zur Flucht. Auf dem Bahnsteig sind fremde Eisenbahner. Sie sind zu Fuß die Gleise entlang gekommen. Überall ratlose, fragende Gesichter. Heute fahren keine Züge mehr. Wie soll es weitergehen? Wir müssen weg! Schnell! Das Grollen kommt näher. Nur fort, ehe die Russen hier sind! Aus dem Dienstraum kommt Magdalena. Der Bahnhofsvorsteher von Hofmannsguth fühlt sich noch immer zum Bleiben verpflichtet. Ich habe es nicht anders erwartet. Der Morseapparat funktioniert noch, und daraus kommt jetzt eine überraschende Meldung: "Von der kleinen Station Birkenfeld, die zwischen dem brennenden Insterburg und unserem Bahnhof Mattenau liegt, kommt eine Lokomotive mit einem angehängten, offenen Güterwagen."

Ist das die Rettung? "Komm mit mir, Magdalena, komm!", bitte ich meine Kollegin. Sie schwankt zwischen Pflichtgefühl und Angst, forscht in meinen Augen. Dann senkt sie den Kopf mit ihren blonden Zöpfen, holt immer noch schweigend ihre Aktentasche mit der leeren Kaffeekanne, zieht den Mantel über und ist zur Flucht bereit. Ich nehme ihre Hand in die meine. Sie ist eiskalt. Im Güterwagen sind fünf Eisenbahner. Wir klettern zu ihnen hinein. Auch das Fahrrad und mein Koffer kommen mit. Es wird noch kälter während der Fahrt. Schon nach kurzer Zeit zittere ich vor Kälte, meine Zähne schlagen aufeinander. Ich kann nichts dagegen tun. Zwar habe ich zwei Mäntel übereinander gezogen, aber nur Halbschuhe an den Füßen. Ich besitze keine Stiefel. Der Lokführer fährt langsam, vorsichtig. Kaum schneller als Schritttempo. Die Schienen könnten von Partisanen beschädigt worden sein. Die Eisenbahnbrücke über den Fluss mag längst eine Zündladung tragen. Wir kommen etwa dreißig Kilometer weit, bis zum zerbombten Bahnhof in Gerdauen. Weiter geht es nicht. Die russischen Truppen sind nun auch im Süden Ostpreußens durchgebrochen. Große Aufregung. Was nun? Vor Kälte zitternd steigen wir aus dem Güterwagen. Das Fahrrad bleibt drin. Ein anderer Zug steht auch da, überfüllt mit Frauen, Kindern, Alten und Soldaten. Es heißt, der Zug solle nach Königsberg fahren. Vielleicht können wir in Königsberg ein Schiff besteigen? Magdalena umklammert meine Hand, als habe sie Angst, mich zu verlieren. Wir drängen uns in den Zug, fahren jetzt in Richtung Nordwesten. Bisher fuhren wir nach Süden.

Die Feldpolizei sucht im Zug nach desertierten Soldaten. Ein verletzter Soldat, der sich nicht ausweisen kann, wird sofort an Ort und Stelle erschossen. Der Leichnam wird aus einem Abteilfenster geworfen; es riecht nach Schießpulver und die wenigen Gespräche der Menschen untereinander verstummen. Vor einem Bahnhof, dessen Dach nur noch aus schwelenden Holzbalken bestand, bleiben wir stehen. Tiefflieger sind über uns und schießen auf den Zug. Durch das Fenster kann ich die Mündungsblitze der automatischen Bordwaffe erkennen, gleich darauf das Prasseln der Geschosse auf dem Dach, neben dem Gleis und auf dem Bahnsteig. Ich drücke mich in die Ecke des Abteils. Ziehe Magdalena zu mir auf den Boden, halte die Hände über den Kopf. Magdalena beginnt zu weinen. Die Flugzeuge entfernen sich wieder, die Schüsse haben aufgehört.

Nach Königsberg können wir nicht mehr. In der Innenstadt sollen schwere Kämpfe sein. Ostpreußen ist eingeschlossen. Der Kessel ist nur noch zur Seeseite offen. Diese Nachrichten berühren mich nur noch wenig. Resignation oder Übermüdung lassen mich lethargisch werden. Magdalena ist an meiner Schulter eingeschlafen, aber sie lässt meine Hand nicht los. Weichen werden umgestellt, Befehle durchschneiden die kalte Winterluft. Dann rollt der Zug wieder vor dem Krieg her, zur Ostsee hin, bis zum Bahnhof Braunsberg, weiter geht es nicht. Dahinter liegt das Frische Haff. Nur ein schmaler Landstreifen trennt das Haff vom Meer.

Im Bahnhof Braunsberg liegen wir mit vielen Menschen im kalten Wartesaal, Körper an Körper auf der blanken Erde. Ich fühle meine Füße kaum noch vor Kälte. Ein Stück von mir entfernt liegt ein älterer Mann. Er hat sich mit einem alten Federbett bedeckt. Wie gerne würde ich - nur ein Weilchen - meine Füße darunter stecken! Neben mir sehe ich Magdalena und ein anderes junges Mädchen in Reichsbahnuniform miteinander reden. Sie heißt Gertrud, erklärt sie. Sie will sich uns anschließen. Ich zögere, Magdalena drückt meine Hand, ganz fest, als ob sie sagen wollte "Und was ist mit mir? Und dann, in diesen Moment stummer Zwiesprache hinein, plötzlich der Ruf, der alle aufschreckt: "Wir müssen weg! Die Russen kommen!"

Es gibt nur den einen Weg: über das Eis des Haffes. Viele Menschen strömen in dem fahlen Licht, das der Schnee gibt, zum Ufer. Links von uns, dort wo Frauenburg liegt, rollt Geschützdonner über unsere Köpfe. Aus einem Lazarett kommen Soldaten mit Kopfverband, mit Krücken, auf Kameraden gestützt, schweigend, mutlose Gesichter. Ein gespenstischer Zug aus verzweifelten Menschen. Jemand zupft mich an meinem Mantel Es ist Gertrud. Ich hatte meinen Holzkoffer im Bahnhof stehen lassen. Sie hat ihn auf einen Postschlitten geworfen und kommt hinter uns her.

"Das Brot", sagt sie. "Und der Schinken!"

Wie Menschen, die zusammen gehören, bleiben wir nun auch zusammen. Die vier Männer aus dem Güterwagen, einer davon mit einem Verband um Kopf und Auge, Gertrud, Magdalena und ich. Auf dem Eis des Haffes liegt eine dicke, unberührte Schneeschicht. Und östlich, dort wo Königsberg sein mag, heller Himmel. Und ein tiefes Grollen hinter uns. Es kommt näher, wird zunehmend lauter.

Es wird hell. Das Eis ist voller Menschen, mit Bündeln, mit Koffern, mit weinenden Kindern auf dem Rücken. Hinter uns auch Pferdewagen. Kleine Panjewagen. Sie kommen wohl schon von weit her, in Ostpreußen hat man solche Wagen nicht. Dicht neben mir quält sich eine Frau mit einem Kinderwagen durch den gefrorenen, zertretenen Schnee. Ich sehe in ein Gesicht mit weit geöffneten, blauen Augen. Schneeflocken bleiben auf dem bleichen Gesicht liegen. Über uns ist Sonnenschein und ein grauer Himmel, der immer noch vereinzelte Flocken verliert. Auf dem Eis verstreut liegt zurückgelassene Habe der flüchtenden Menschen, unnötiger Ballast, abgeworfen. Eine kleine Ruhepause. Wir öffnen den Koffer. Danke, Gertrud, dass du ihn gerettet hast. Wir müssen weiter. Gertrud legt einen eleganten Lederkoffer auf den Schlitten. Sein Inhalt besteht aus einer wertvollen Fotoausrüstung. Er stand herrenlos auf dem Eis. Mein Denken bäumt sich einen Augenblick dagegen auf und ich starre sie an. Das ist Kameradendiebstahl, oder etwas Ähnliches. Gestern hätte man sie deswegen vor ein Standgericht gestellt.

Ein Stück von uns entfernt fallen Bomben. Die Flugzeuge, aus denen sie abgeworfen werden, fliegen sehr hoch und der schwarze Tod fällt lautlos. Bis die Detonation Wasser, Schlamm und Eis krepieren lässt. Und alles, was sich in der Nähe befunden hat. Weiter! Weiter! Die Füße tragen mich ohne mein Zutun. Meine Gedanken sind wie in Watte gehüllt. Magdalena klagt. Ihre Füße sind so geschwollen. Sie kann nicht mehr laufen. Sie setzt sich auf den Schlitten und wird von uns gezogen. Plötzlich ein neuer Ton. Er läuft durch das Eis vor uns, verklingt, wie der Ton einer singenden Säge. Das Eis hat einen langen Riss bekommen. Nur weiter! Weiter! Darüber hinweg, ehe es bricht! Die Frau neben uns reißt ihr Kind aus dem Wagen, damit sie schneller laufen kann. Sie stolpert, fällt. Wir haben es geschafft, aber schauen nicht zurück. Noch immer ist um uns die unendliche Eisfläche. Warum staut sich da vorn die Menschenmenge? Eine Fahrrinne für die Schiffe ist ins Eis geschnitten. Vier oder fünf Meter breit. Unendlich breit. Was nun? Wieder Ratlosigkeit. Wir sehen ein Schiff kommen, es ist ein Eisbrecher, drohend hält sein hoher Bug genau auf uns zu und schwenkt dann langsam zur Seite. Er hält dort, wo wir am Rande des Eises stehen. Magdalena bricht in Tränen aus. Eine kleine Treppe, ein warmer Raum, ein traumloser Schlaf der Erschöpfung.

Der Eisbrecher bringt uns in einen Hafen. Wir müssen aussteigen. Der elegante Koffer bleibt auf dem Schiff zurück. Einer der Männer unserer Notgemeinschaft, Erich, nimmt meinen Holzkoffer an sich. In diesem Hafen liegt ein großer Dampfer. Aber Feldpolizei treibt uns zurück. Nur Mütter mit Kindern dürfen noch an Bord gehen. Wir entdecken einen Frachter. Vor seinem eisüberzogenen Aufgang drängen sich die Menschen. Die beiden Mädchen werden von ihnen abgedrängt. Auch dieses Schiff ist mit Flüchtlingen schwer überladen. Wir drängen uns hinauf Wo sind nur Magdalena und Gertrud geblieben? Unser Schiff legt ab. Das Deck ist eine einzige Eisfläche Immer wieder schwappt Wasser darüber und friert. Über uns kreisen Flugzeuge. Ein Mann der Besatzung ruft durch das Megaphon: "Wenn wir von Bomben getroffen werden und sinken, klammert euch an den Planken fest!"

Ich werde gleichgültig, gefühllos. Erich reibt meine Hände, die in löchrigen Fausthandschuhen stecken. "Du darfst jetzt nicht einschlafen", sagt er.

Er zieht seinen Mantel aus und umhüllt uns beide damit. Die Zeit bleibt stehen. Ich fühle nur noch Eiseskälte, Angst und zwei väterlich schützende Arme. Irgendwann sind wir wieder in einem Hafen. Wir steigen aus. Hier ist noch Frieden. Rote-Kreuz-Schwestern verteilen heiße Suppe. Unter den vielen Menschen entdecke ich sie wieder: Magdalena. Auch sie hat mich entdeckt und eilt zu mir. Einer ihrer Zöpfe hat sich aufgelöst, aber sie lächelt. Ich lege meinen Arm um sie und sie nimmt wieder meine Hand.

Alles wird gut werden.

Und wenn wir wieder in die Heimat kommen, werde ich Vater und Mutter bitten, dass sie bei uns wohnen kann.

Wir haben viel Platz in unserem Haus in Ostpreußen.

 

Hallo esea und willkommen auf kg.de,

Du sprichst mit deiner Geschichte eine sehr interessante Thematik an. Irgendwie hat mich die geschichte auch an das Ende des Films "der Untergang" erinnert.

Leider schaffst du es aber nicht, mit deinem Schreibstil Spannung in mir zu wecken. Du schreibst alles im selben Tempo, selbst, wenn es spannend werden soll, kommt es mir nicht so vor, als ob der Erzähler wirklich der Protagonist ist. Eher hatte ich das Gefühl, jemand würde das ganze von außen beobachten. Zudem bleiben die Gefühle des Protagonisten relativ auße vor. Gerader als "Ich-Erzähler" sollten die Gefühle mehr betont werden.

Anmerkung: Ich habe das folgende nicht persönlich miterlebt, aber erzählt bekommen. Trotzdem habe ich es aus der Sicht eines Betroffenen erzählt, weil es mir authentischer erschien...

Die Novelle wurde bereits mehrfach veröffentlicht. Wer mehr darüber und über mich erfahren möchte, findet dieses auf meiner Internetseite.


Das schreiben wir normalerweise in einen extra Post unter die Geschichte.

Viele Grüße
Christoph

 

Hallo esea,

auch von mir herzlich willkommen auf kg.de.

Ich muss sagen, dass der Stoff deiner Geschichte sehr interessant ist. Ohne Schleichwerbung zu machen: Ich habe auch eine Vertreibungsgeschichte aus dem Sudetenland geschrieben und ich weiß, dass es unheimlich schwer ist, einen spannenden Erzählstil zu entwickeln, wenn es sich um einen authentischen Fall handelt.
Ich habe bei dir den selben Fehler festgestellt, der auch bei meiner Geschichte kritisiert wurde. Du berichtest mehr als dass du eine Kurzgeschichte schreibst. Es hört sich eher nach einem Tatsachenbericht an. Einer schreibt seine Erinnerungen auf, eine Lebensgeschichte.
Doch wie schon @Christoph angeführt hat, es kommt für den Leser keine Spannung auf. Und es gibt Momente in deiner Geschichte, die dafür in Frage kommen, den Leser mitzureißen. Allerdings müsstest du da auch ein wenig dichterische Freiheit einsetzen und ggf. von den Tatsachen abweichen.
Es gibt oft eine Möglichkeit, wo du ein Beispiel, meinetwegen wie einer zu seiner Verletzung kam oder die Szene zum Schluss auf dem Eis, etwas weiter ausbauen könntest. Dafür, damit die Geschichte nicht zu lang erscheint, hättest du die Szene bei der Schwester kürzer schreiben können.

Es ist nicht ganz einfach, das richtige Quantum zwischen historischen Begebenheiten und der dichterischen Freiheit zu finden. Ich habe es in meinen Historik-Geschichten selbst erlebt. Man empfindet es immer als unwürdig, wenn man zu viel hineinfantasiert. Doch die Geschichte soll den Leser unterhalten und ihn nicht mit geschichtlichen Tatsachen konfrontieren, die er sich aus Büchern holen kann, die sich mit Lebensgeschichten über die Vertreibung befassen.

So, nun habe ich dir genau das geschrieben, was ich mir für solche Geschichten selbst hinter die Ohren schreiben muss. Vielleicht habe ich es mir beim Schreiben auch selbst noch mal vor Augen geführt.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass es sich um einen interessanten Stoff handelt, der aber zu sehr in einen Sachbericht abgedrifftet ist.

Viele Grüße
bambu

 
Zuletzt bearbeitet:

esea schrieb über den Text:

Anmerkung: Ich habe das folgende nicht persönlich miterlebt, aber erzählt bekommen. Trotzdem habe ich es aus der Sicht eines Betroffenen erzählt, weil es mir authentischer erschien...

Die Novelle wurde bereits mehrfach veröffentlicht. Wer mehr darüber und über mich erfahren möchte, findet dieses auf meiner Internetseite.


Solche Hinweise bitte immer unter den Text, am besten als separates Posting. Danke! (und sorry, dass ich das jetzt erst merke)

Zum Inhalt: Ich möchte jetzt die Anmerkungen meiner Vorredner nicht wiederholen, aber der indirekte Stil ist in der Tat das Problem des Textes. Ein Beispiel:

Sie sollen Wache halten, denn die Soldaten von der Wehrmacht sagen, Partisanen wären von Flugzeugen im Kranichbucher Forst abgesetzt worden. Nun werden vermehrte Anschläge auf den Bahnkörper befürchtet.

Ziemlich unschön ist da zum Beispiel die Passivkonstruktion. Du "lügst Dich drumherum", zu sagen, wer denn nun was befürchtet.
Sowas lässt sich alles viel lebendiger in einem Dialog schildern:

"Warum seid ihr hier?"
"Wir sollen Wache halten."
"An den Gleisen, mitten im Wald?"
"Ja", kommt die zerknirschte Antwort, "die Gauleitung befürchtet Anschläge."
Ich bin schockiert. "Anschläge?"
"Partisanen", sagt der Mann knapp, "sind von Flugzeugen im Forst abgesetzt worden."

Und so weiter. Versuch's mal.

 

Vielen Dank für eure kritischen Anmerrkungen.

Ich habe angesichts des Themas bewusst auf dramaturgische Elemente verzichtet, aber ihr habt natürlich Recht mit eurer Meinung. Eine "klassische" Kurzgeschichte sieht wohl anders aus.

Seid versichert: in meinen Romanen sieht das anders aus! Ich werde demnächst ein Kapitel nter "Spannung" einstellen, damit ihr euch davon überzeugen könnt...

 

Friedvolle Grüße

Ich habe die Geschichte gerne gelesen. Die Spannung ergibt sich allerdings einzig und allein daraus, das ich wissen will, was mit den Hauptcharakteren geschieht, und nicht, weil Du so spannend schreibst. Das haben die Kritiker vor mir ja schon erwähnt.

Versuche zudem, der Geschichte mehr Tiefe zu geben, indem Du die Charaktere deutlicher machst. Die politische Prägung des Hauptcharakters hast Du uns erklärt, aber warum handelt Magdalena so, wie sie handelt? Sie ist ein Mädchen, die war nicht bei den Hitlerjungen. Sie muste nicht als leztes Aufgebot an die Front.

Seid versichert: in meinen Romanen sieht das anders aus! Ich werde demnächst ein Kapitel nter "Spannung" einstellen, damit ihr euch davon überzeugen könnt...

Bitte nicht! Überzeuge uns lieber, indem Du die Kritiken zu dieser Geschichte ernst nimmst, und sie gemäß genau dieser Kritiken überarbeitest. Romanauszüge werden nämlich von uns Moderatoren rigeros gelöscht, gleich, in welcher Rubrik sie stehen.

Kane

 

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