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Das heilige Kind von La Guardia
(Überarbeitete Version weiter hinten!)
Astorga (Provinz von Toledo) im Jahre des Herrn 1490
Es dämmerte bereits, als der Wollweber Benito Garcia aus La Guardia die Herberge in Astorga betrat. Er befand sich auf dem Rückweg von Santiago de Compostela wohin er, wie es sich für einen guten Katholiken gehörte, eine Pilgerreise unternommen hatte. Benito war noch nicht lange Christ. Erst vor zwei Jahren hatte er sich von seinem jüdischen Glauben abgewandt und war zum Christentum konvertiert.
Müde ließ sich der Wollweber an einem der Tische nieder und bestellte etwas zu essen und einen Krug Wein. Er hatte den ganzen Tag noch nichts zu sich genommen, und so zeigte der Wein auch sofort seine Wirkung.
Hastig schlang er den Eintopf hinunter und legte sich danach in einer Schlafkammer nieder. Er war so müde, dass er nicht einmal bemerkte, dass er seinen Reisesack in der Gaststube vergaß.
Während Benito Garcia den erschöpften Schlaf der Gerechten schlief, durchwühlten einige neugierigen Gäste in der Wirtsstube sein Gepäck. Sie hofften, ein paar Maravedis oder sonstige Wertsachen zu finden.
„Was mag hier drin sein?“, rief einer der Männer und hielt eine kleine Schachtel in die Luft.
Er nahm den Deckel ab, schaute hinein und erblasste. Sobald auch die anderen Umstehenden den Inhalt inspiziert hatten, brach ein Tumult los.
„Dieser jüdische Bastard!“
„Ein Hostienschänder!“
„Ich wusste gleich, dass dieser Kerl keiner von uns ist. Das muss sofort der Inquisition gemeldet werden“, riefen sie durcheinander.
Mittlerweile waren auch der Wirt und die übrigen Gäste auf das Geschrei aufmerksam geworden und wollten wissen, was passiert sei.
„Wir haben einen von diesen elenden Konvertierten entlarvt“, rief Enrique Ortega, ein Tuchhändler aus Segovia. „Diese scheinheiligen Schweine! Nach außen hin wirken sie wer weiß wie fromm, und in ihren Häusern praktizieren sie weiterhin ihren heidnischen Glauben.“
„Und dieser hier ist außerdem ein Verbrecher, ein Hostiendieb und –schänder!“, bemerkte ein anderer. „Seht her, was wir in seinem Reisesack entdeckt haben.“ Sie hielten dem Wirt die Schachtel entgegen. Dieser schüttelte fassungslos den Kopf.
„Die jüdischen Hunde benutzen die Hostien, um schwarze Magie zu betreiben, damit wir ehrlichen Christenleute elendig zugrunde gehen.“
„Lasst uns den Kerl sofort beseitigen! Das Judenschwein verdient den Tod!“
Die Wirtshausgäste stachelten sich gegenseitig immer mehr auf in ihrem religiösen Wahn. Der Wirt hatte alle Mühe, sie davon abzuhalten, den Wollweber auf der Stelle zu erschlagen.
So zogen sie am frühen Morgen einen völlig ahnungslosen, schlaftrunkenen Benito von seiner Strohpritsche und zerrten ihn vor den für die Region zuständigen Vertreter der Inquisition.
„Benito Garcia! Du willst dich also nicht zu den Freveln bekennen, die du verbrochen hast?“, erklang wenig später die tiefe Stimme des Inquisitionsvertreters Pedro de Villega. Der Dominikanermönch war eine furchteinflößende Erscheinung in seiner langen schwarzen Kutte. Auf seiner Brust ruhte an einer Kette, unübersehbar das Zeichen des christlichen Glaubens – ein hölzernes Kreuz. Außer de Villega befanden sich noch zwei weitere Mönche und ein Sekretär im Raum. An der Wand hinter de Villega prangte das Wappen der heiligen Inquisition: Kreuz, Olivenzweig und Schwert.
Mit strengem Blick musterte der Inquisitor den vor ihm stehenden Angeklagten.
„Wir bringen dich schon zum Reden, Benito Garcia. Brüder, waltet Eures Amtes!“, forderte de Villega die beiden ihm zur Seite stehenden Dominikanermönche auf.
Die Angesprochenen ergriffen Benito und führten ihn eine Steintreppe hinab in einen düsteren Raum. Dort erwartete sie bereits ein Folterknecht, der den Wollweber mit dem Gesicht zur Wand an zwei Eisenringen fest kettete. Ehe dieser wusste wie ihm geschah, prasselten die ersten Stockhiebe auf seinem Rücken nieder. Immer und immer wieder schlug der Folterknecht auf ihn ein. Zunächst presste Benito die Lippen aufeinander und kein Schmerzenslaut entwich seinem gequälten Körper. Als jedoch seine Haut aufplatzte und das Blut zu fließen begann, da schrie er seine Pein heraus. Nach etwa hundert Schlägen hatte sich sein Rücken in eine rohe Fleischmasse verwandelt, doch noch immer folgte Hieb um Hieb.
„Benito Garcia!“, erklang erneut die Stimme des Inquisitors. „Bekennst du dich nun schuldig, den mosaischen Glauben weiterhin im Verborgenen praktiziert zu haben, sowie in böser Absicht eine Hostie geraubt und geschändet zu haben?“ De Villega wies den Inquisitionshelfer an, mit den Schlägen innezuhalten. Ein Wimmern war aus Benitos Mund zu vernehmen.
„Rede deutlich, Jude! Ich kann dich nicht verstehen.“
„Ja, ich gestehe alles, nur hört in Gottes Namen mit den Schlägen auf!“, brachte Benito mit Mühe hervor.
„Nimm den Namen Gottes nicht in deinen dreckigen Mund, Jude!“, donnerte Pedro de Villega.
Ein Geständnis – das war es, was er hatte hören wollen. Ein Lächeln umspielte die schmalen Lippen des Inquisitors. Und doch – so ganz konnte er noch nicht zufrieden sein. Er brauchte weitere Namen von anderen Schein-Christen, mit denen Benito Garcia seine Verbrechen gegen Gott und den wahren Glauben verübt hatte. Also forderte er den Wollweber auf, auch diese preiszugeben.
Benito war jedoch in eine gnädige Ohnmacht gefallen und so brachte der Inquisitor nichts mehr aus ihm heraus. Er wies die Mönche an, Benitos Wunden notdürftig zu versorgen und ihn in eine der Kerkerzelle zu schaffen.
Ein paar Tage später wurde Benito erneut vor Pedro de Villega geführt. Er hatte eine scheußliche Zeit verbracht, in dem nach jeglichen menschlichen Ausdünstungen stinkenden Gefängnis. Die Wunden auf seinem Rücken wollten nicht heilen und hatten zu eitern begonnen.
„Nun Benito“, begann der Inquisitor. „Ich will, dass du mir die Namen der Personen nennst, von denen du weißt, dass sie ebenfalls noch dem jüdischen Irrglauben nachgehen.“
„Ich kenne niemanden, der dies tut. Alle meine Freunde und Bekannten sind schon lange Christen. Sie verehren Jesus und Unsere Liebe Frau und besuchen regelmäßig die heilige Messe“, erklärte Benito mit Bestimmtheit. Er konnte sich kaum aufrecht halten, so sehr schmerzte ihn sein Rücken.
„Du kennst also niemanden. Nun gut, wir werden dir helfen, dein Gedächtnis ein wenig aufzufrischen“, erwiderte Pedro de Villega.
Erneut schleppten sie Benito in den Folterraum. Diesmal wurde er jedoch nicht stehend an der Wand fest gekettet, sondern liegend auf einer Holzbank festgebunden. Der Knecht, der ihm beim letzten Mal die Schläge verpasst hatte, stopfte nun ein Stück Linnen in Benitos Mund und Nase. Dann begann der Inquisitionshelfer Wasser auf das Linnen zu gießen, bis dieses sich langsam voll sog und Benito keine Luft mehr bekam. Der Wollweber wandte sich hin und her in seiner Qual, sodass die Fesseln tief in das Fleisch seiner Hand- und Fußknöchel einschnitten. Als sein Gesicht bereits eine blaue Verfärbung annahm und er zu ersticken drohte, wies de Villega den Folterknecht an, das Stück Stoff aus Benitos Mund zu entfernen. Röchelnd und hustend schnappte der Gequälte nach Luft. Als de Villega ihn erneut aufforderte, weitere Namen preiszugeben, schrie Benito alles heraus, was seine Peiniger hören wollten. Um nichts in der Welt konnte er diese bestialischen Quälereien noch länger ertragen.
Er gab zu, seinen Freund Ca Franco und dessen beiden Söhne Moses und Yucé bei der Praktizierung der jüdischen Rituale beobachtet und auch selbst daran teilgenommen zu haben, ebenso wie seine eigenen Brüder, die Getreidehändler Franco und Alonso Garcia aus La Guardia.
Pedro de Villega war äußerst zufrieden mit dem Ergebnis der peinlichen Befragung. Er hatte unverzüglich die zuständigen Inquisitoren benachrichtigt, welche wiederum die sofortige Verhaftung und Einlieferung von Ca Franco, seinen beiden Söhnen, sowie den Brüdern von Benito in das Inquisitionsgefängnis von Segovia veranlasst hatten. Dies schien eine größere Sache zu werden und so entschied de Villega, den Generalinquisitor von Kastilien und Aragón, Tomás de Torquemada, über den Vorfall zu unterrichten.
Torquemada, der eigentlich vorgehabt hatte, die königlichen Majestäten Isabel und Fernando zum Kriegszug gegen die Mauren nach Granada zu begleiten, zog es vor in Avila zu bleiben und den Fall selbst unter die Lupe zu nehmen. Er ließ die Angeklagten in das Dominikanerkloster Santo Tomás bringen, welchem er als Prior vorstand.
Einer nach dem anderen wurde vor Torquemada geführt.
Dieser saß in einem thronartigen Sessel am Ende eines langen Tisches und begann mit strenger Stimme, die Angeklagten zu verhören. Doch weder die erhabene Autorität, die der Großinquisitor ausstrahlte, noch die Aussicht auf die Errettung ihrer fehlgeleiteten Seelen, die den Juden zu teil kommen würde, sollten sie ein Geständnis ihrer Schandtaten ablegen, vermochte, ihnen ein solches zu entlocken.
Ohne ein Geständnis konnten jedoch keine ordentliche Gerichtsverhandlung und die abschließende Verurteilung erfolgen, sodass Torquemada zunächst eine List anwendete.
Er ließ die Angeklagten in eine Gefängniszelle schaffen, welche mit einer Abhörmöglichkeit versehen war. Mehrere Tage belauschten Inquisitionshelfer die Insassen der Zelle, in der Hoffnung, belastendes Beweißmaterial zu erlangen. Doch nicht ein falsches Wort kam über die Lippen der Angeklagten.
So gab es nur eine Lösung – die peinliche Befragung. Als erstes brachten die Helfer Torquemadas Yucé Franco in die tiefen Kellergewölbe des Inquisitionsgefängnisses.
Neben dem Generalinquisitor, der den Folterakt selbst überwachte, waren noch etliche Mönche, sowie der Sekretär Torquemadas zugegen. Die Talglichter, die an den Felswänden befestigt waren, tauchten den Raum in ein dämmeriges Licht, und ließen die weiße Kutte Torquemadas geradezu gespenstig leuchten.
„Hast du uns noch etwas mitzuteilen, Jude, bevor die Folterknechte mit ihrer Arbeit beginnen?“, fragte der Inquisitor.
„Alles ist bereits gesagt worden“, entgegnete Yucé mit belegter Stimme. Die Angst vor dem, was ihn erwartete, ließ ihn würgen. Er hatte schon einige Schauergeschichten über die Folterkeller des Inquisitionsgefängnisses von Avila gehört und betete im Stillen, Gott möge ihm die Kraft geben, die kommenden Qualen durchzustehen.
Die Folterknechte banden ihn auf einer Holzpritsche fest und legten ihm eiserne Beinschrauben an, die so genannten „Spanischen Stiefel“. Schweiß bildete sich auf Yucés Stirn und die Angst ließ seine Blase schwach werden. Die Inquisitionshelfer begannen, die Schrauben anzuziehen, immer fester und fester, und als Yucés Schienbeine bereits zu einer blutigen Masse zerquetscht waren, da schrie er aus Leibeskräften: „Haltet ein, ich gestehe alles!“
Torquemada wies die Folterknechte an, die Schrauben zu lockern und forderte Yucé auf, mit seinem Geständnis zu beginnen.
„Im letzten Jahr traf ich den Getreidehändler Alonso Garcia“, begann der Gepeinigte mit zitternder Stimme. „Er erzählte mir, dass er seinen Übertritt vom jüdischen zum christlichen Glauben sehr bereut hatte und etwas zu seiner eigenen Rehabilitierung unternehmen wollte. So hatte er sich am damaligen Osterfest an der Kreuzigung eines Christenkindes beteiligt.“
Ein Raunen ging durch die anwesenden Inquisitoren. Dies war das schlimmste Verbrechen, welches ein Ungläubiger gegen das Christentum verüben konnte.
„Und warum hast du diesen infamen Vorfall nicht, wie es deine christliche Pflicht gewesen wäre, sofort der zuständigen Inquisition gemeldet?“, herrschte Torquemada Yucé an.
„Somit hast du dich dieser grausamen Tat ebenso schuldig gemacht. Du wirst bis zu deiner Verurteilung in diesem Gefängnis bleiben.“
Der Generalinquisitor veranlasste sofort die peinliche Befragung Alonso Garcias.
Die Aufklärung dieses unglaublichen Vorfalls und die Verurteilung aller daran Beteiligten duldeten keinerlei Aufschub. Nach einer zweistündigen Foltertortur hatten die Inquisitoren das ganze Ausmaß dieser tragischen Geschichte aus Alonso Garcia herausgebracht.
Am Osterfest vor zwei Jahren entführten ein paar Juden und Conversos, unter anderem Alonso Garcia, auf dem Jahrmarkt von La Guardia den dreijährigen Sohn eines Fassbinders. Sie trieben den Jungen, auf einem Esel reitend, in eine Höhle ganz in der Nähe und vollzogen an ihm den Leidensweg Christi. Sie geißelten ihn, setzten ihm die Dornenkrone auf, und schlugen ihn schließlich ans Kreuz. Dann schnitt Alonso dem toten Christenkind das Herz aus der Brust und bewahrte es in einer Schachtel auf.
Ein paar Monate später trafen sich die an der Kreuzigung Beteiligten mit dem jüdischen Arzt Tarazé, der Familie Franco und einem Bettler in La Guardia. Der Arzt hatte den Anwesenden versichert, dass er mit Hilfe der Schachtel bewirken könnte, dass alle Inquisitoren von der Tollwut befallen und somit elendig zu Grunde gehen würden, wenn sie nicht aufhören würden, die Juden und Conversos zu verfolgen. Jucé und die anderen waren jedoch der Ansicht, dass die Zaubersprüche des Arztes nicht stark genug seien und so hatten sie einstimmig beschlossen, einen mächtigeren Magier in Zamora aufzusuchen.
Aus diesem Grund war Benito Garcia mit der Schachtel auf Reisen gegangen und in der Herberge von Astorga hatte schließlich das Dilemma seinen Anfang genommen.
Alonsos erzwungenes Geständnis besiegelte das Schicksal der elf beteiligten Juden und Conversos. Sie wurden allesamt verurteilt und am 16. November im Jahre des Herrn 1491 in Avila öffentlich verbrannt, obwohl zu besagtem Zeitpunkt weder verzweifelte Eltern das Verschwinden ihres Sohnes angezeigt hatten, noch jemals der Körper des toten Jungen gefunden worden war.
Der Mythos des gekreuzigten Kindes verbreitete sich schon bald im ganzen Land, und jedermann sprach von dem „Heiligen Kind von La Guardia“.
Für Tomás de Torquemada bedeutete dieser Fall und seine Aufklärung mehr als nur die Beseitigung weiterer Glaubensabtrünniger. Vielmehr konnte er nun dem katholischen Königspaar beweißkräftig vor Augen führen, dass eine dauerhafte Lösung gefunden werden musste, die Conversos dem schädlichen Einfluss ihrer ehemaligen Glaubensbrüder zu entziehen.
Am 31.März im Jahre des Herrn 1492 unterzeichneten Isabel und Fernando ein Edikt, welches besagte, dass sämtliche Juden, die sich nicht taufen lassen wollten, Spanien binnen drei Monate zu verlassen hatten und das Land nie wieder betreten durften.
Conversos: zum Christentum übergetretene Juden
Peinliche Befragung: Anwendung der Folter