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Das Kerzenlicht

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22.01.2005
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Das Kerzenlicht

Burgund, um 1820.
Die viereckige Lampe ist fest neben dem Kutschbock montiert. Das Kerzenlicht flackert schwach hinter den verrußten Glasscheiben. Bei jedem Strassenloch knarren und stöhnen die zwei Holzachsen der Postkutsche, das Wachs schwappt über den Kerzenrand, spritzt gegen eine der vier Scheiben, und einen Moment lang wird das gelbe Licht des Dochtes heller.
Der Kutscher auf seinem Bock, ein grauhaariger Mann von fast sechzig Jahren, ist in einen schweren Mantel gehüllt. Es ist kalt, sehr feucht, und Graupeln haben eine weiße Decke auf die winterlich grauen Äcker und Weinberge gelegt. Die Sonne bleibt hinter der bleichen Wolkenwand verborgen.

Die zwei Fahrgäste im Kutscheninnern ertragen das Rütteln stumm. Es sitzen sich zwei junge Menschen gegenüber, fast selben Alters, aber sehr unterschiedlicher Herkunft.
Sie ist eine bürgerliche Frau, jung, um die Zwanzig, hübsch, aber unauffällig. Das Haar streng nach hinten gekämmt und zu einem Knoten hochgebunden. Über dem teuren Rüschenrock hat sie zwei feine Decken gebreitet. Ihre schmalen Füße stecken in gefütterten Winterstiefeln, doch die feuchte Kälte dringt auch hier hinein.
Ihr gegenüber sitzt ein Mann, kaum zehn Jahre älter, hoch gewachsen. Sein Reiserock ist verschlissen, die Hemdsärmel verdreckt; er versucht sich, die Kälte durch den Tabakrauch seiner langen Pfeife zu vertreiben.
Trotz der Tageszeit – es ist 10 Uhr morgens – ist es halbdunkel in der Kutsche.
„Fahren Sie oft diese Strecke, Mademoiselle?“, fragt der Mann und setzt seine Pfeife ab.
Sie antwortet nicht.
„Entschuldigen Sie, kennen Sie diese Strecke?“, wiederholt er nach einer kurzen Weile.
„Ja… nein, nicht besonders“, antwortet die junge Frau unentschlossen.
„Entschuldigen Sie, ich hätte mich zuerst vorstellen müssen“, erklärt der Mann eilig, „Pierre Althof aus Strassburg.“
„Ich hatte Ihren leichten Akzent schon bemerkt.“
„Ja, das lässt sich wohl nicht vermeiden“, antwortet der Mann halb verlegen, halb geschmeichelt. „Und Sie sind aus Burgund?“
„Ja, mein Herr.“
Die beiden verfallen wieder in tiefes Schweigen.
Der Mann aus Strassburg lässt wohl eine halbe Stunde verstreichen und stopft sich eine neue Pfeife, bevor er einen neuen Versuch unternimmt.
„Sie fahren zu Ihrer Familie nach Dijon?“
„Oui, Monsieur“, antwortet die Frau kurz angebunden. Es ist wahr, sie hasst diese Art von Reisegesprächen. Doch schließlich siegt ihr Sinn für Höflichkeit und Takt: „Sie sind geschäftlich unterwegs, Herr…?“
„Althof. Nein, eigentlich nicht. Ich bin Student an der Medizinischen Fakultät in Strassburg.“
„So…“
Der Student gibt auf. Die nackten Äste der winterlichen Weinstöcke liegen wie Skelette auf den Weinbergen. Die triste Landschaft fliegt an dem kleinen Fenster der Kutsche vorbei. Man hört die Pferde schnauben, als der Kutscher sie mit der Peitsche antreibt. Sie fahren an Nuits Saint Georges vorbei und sind kurz vor Chambertin.
Ein schweres Schlagloch.
Die Achsen der Kutsche knarren. Die vordere kracht, birst. Das Kerzenlicht verlöscht. Die Kutsche bremst. Die Pferde wiehern auf. Der Kutscher flucht. „Merde!“ Der elsässische Student öffnet die Kutschentür: „Was ist, Kutscher?“
„Habt Ihr’s nicht vernommen? Die Achse ist gebrochen!“
„Wie ist das möglich!“
„Das ist wohl eine sehr studentische Frage“, macht der Kutscher seinem Ärger Luft.
Der Student springt vom Wagen. Seine Stiefel schmatzen im Schlamm der lehmigen Strasse: „Wie weit ist es noch nach Dijon?“
„Noch mehr als zwei Wegstunden.“
„Kutscher“, meldet sich die Frau jetzt beunruhigt, „was gedenkt Ihr zu tun?“
„Und wo ist die nächste Poststation?“, fügt der Student an.
„In Chambertin. Ihr seht das Dorf da vorne“, antwortet der Kutscher.
„Gut. Soll ich Hilfe holen?“
Der Kutscher überlegt: „Nun gut, dann geh er und bestell dem Jean Marie Grüsse von François Albignolles. Er soll sich beeilen und mit einem Pferd für die Dame kommen.“

Der Student läuft zu Fuß los. Das Dorf ist kaum eine halbe Stunde Fußmarsch vom Unfallort entfernt. Und das Laufen wärmt ihn auf.

Der Schmied schüttelt den Kopf: „So ein Holz bricht nur einmal alle hundert Jahre.“
„Nun gut, nun gut“, unterbricht ihn der Kutscher ungeduldig. „Das wissen wir, das wissen wir. Er soll uns sagen, wie lange er braucht, um eine neue Achse einzubauen.“
Der Student stößt nachdenklich den Rauch seiner Pfeife aus; die junge Frau trippelt auf ihren schmalen Füssen, die ihr wie erfroren vorkommen.
Der Schmied reckt seine breiten Hände gen Himmel: „Mann, du hast keine Ahnung davon, wie lang so was dauert. Alleine das Holz, das ist in Wasser gehärtet, so was bekommt man nicht von heute auf morgen…“
Jean Marie, der Chef der Poststation, kratzt sich am Kopf, dann wendet er sich um und ruft seinem Pferdeknecht zu: „Spann die Kutsche von morgen zum Ersatz an…“

Der Student sitzt wieder der Frau gegenüber. Es ist fast ganz dunkel. Durch das schmale Fensterchen scheint das flackernde Licht der Kerzenlampe. Der alte Kutscher hat sie wieder neben dem Bock aufgehängt. Es bricht die Nacht herein, und die beiden Insassen merken es kaum. Die winterliche Dunkelheit umhüllt sie wie ein dicker Mantel.
„Und wie lange bleiben Sie in Dijon?“, fragt der Student.
Sie antwortet einen Moment lang nicht, dann entschließt sie sich zu einer Erklärung: „Ich fahre zu der Familie meines künftigen Manns nach Troyes weiter.“
Der Student nickt anerkennend, auch um seine Enttäuschung etwas zu verbergen, und fährt ungerührt weiter: „Und Ihr Verlobter ist nicht da.“
„Er ist auf Reisen, er ist Beamter der königlichen Verwaltung.“
Anerkennendes Nicken. „Also ist es auch etwas Arbeit für Sie, alleine mit Ihren Schwiegereltern.“
Über diesen gewagten Witz kichert die junge Frau dann doch. Das Eis ist gebrochen; der Student ergreift die Gelegenheit: „Sie verstehen sich nicht so gut mit Ihnen?“
„Es sind meine Schwiegereltern“, entgegnet die Bürgersfrau jetzt wieder ernst, so als ob diese Tatsache Erklärung genug wäre. „Und Sie? Sind Sie ein studentischer Revoluzzer?" Der Mann schaut sie an, erstaunt über die Provokation, fast etwas erschrocken. Doch in diesen Zeiten…
„Madame, in diesen Zeiten der politischen Agitation zwischen monarchistischer Restauration und republikanischer Untergrundarbeit erlaube ich mir bescheiden anzumerken, dass ich weder zu den einen noch zu anderen gehöre.“
"Kein Republikaner? Kein Königsmörder?“ Die Bürgersfrau lächelt ironisch, doch bevor sie den Satz ausspricht, der ihr auf den Lippen liegt: „Das soll ich Ihnen glauben?“, holt ihr Gegenüber zur Gegenattacke aus: „Und Sie, Madame, in Ihren Kreisen ist man sicher hoch erfreut über den König und seine neue Administration…“
Sie sagt nichts, er hat ins Schwarze getroffen…

Die Kutsche hält an; die beiden Pferde trappeln unruhig auf dem vereisten Boden.
„Wer da?“, ruft eine Wache.
„François Albignolles, königliche Postkutsche aus Chalon sur Saone.“
„Wenn du der Albignolles bist“, hören die beiden eine Stimme, die hoch von einer Mauer zu kommen scheint, „dann erkläre mir, warum du nach Einbruch der Dunkelheit erst ankommst.“
„Achsbruch in Chambertin, ich habe die Erklärung des Vorstehers der Poststation in Chambertin, auch können die beiden Reisenden meinen Bericht bestätigen!“, ruft der Kutscher vom Bock den Stadtwachen zu.
Es vergeht einen Moment, dann wird eine Holzklappe aufgeschoben, und eine Stimme, viel tiefer und näher an der Kutsche, sagt ruhig: „So reiche er den Briefbogen des Vorstehers von Chambertin.“
Der Alte springt vom Bock, geht ein Paar Schritte zum Stadttor und überreicht den Briefbogen von Jean Marie.

„Nun gut, dies soll eine Ausnahme sein“, grummelt die Nachtwache. Der Keil wird zurückgeschoben. Die Eisenscharniere quietschen, und es geht der erste Torflügel auf, dann der andere.
Der Alte besteigt wieder seinen Bock.
„Ware zu verzollen?“, fragt eine zweite, schneidende Soldatenstimme.
„Nein, was sollte ich auch… ich komme doch nicht von den Eidgenossen oder den Deutschen.“
„Sei es“, gibt sich der Mann zufrieden.
„Doch gebt acht“, flüstert der Kutscher, nachdem sich die Kutsche langsam in Bewegung gesetzt hat, „eine hübsche Frau muss ich wohl nicht verzollen…“ Er lacht heiser; die Soldaten antworten nicht. Die Kutschentür wird aber aufgerissen, die Kerzenleuchte vom Kutschbock ins Dunkle hineingehalten, und die schneidende Stimme befiehlt: „Passierscheine.“
Die beiden Kutscheninsassen halten offizielle Papiere in den Schein der Kerzenlampe.
„So, du bist der Pierre Althof, hast keinen Beruf, sondern bist Studiosus der Medizin in Strasbourg.“
„Reicht Euch das nicht?“, will Althof keck wissen.
Die Stadtwache geht nicht darauf ein. Die Papiere werden grußlos zurückgegeben. Die Tür schlägt zu.
„Kutscher, ho, fahr er schnell zu.“
Die Kutsche setzt sich wieder in Bewegung.
Die Hufeisen der beiden Pferde hallen laut auf dem Kopfsteinpflaster. Die beschlagenen Kutschenräder bewegen sich auf und ab. Jetzt biegt die Kutsche nach links ab, bleibt ganz stehen.

Der viereckige Hof der Poststation ist ruhig zu dieser Abendzeit. Hier kommen und gehen die Fahrgäste der Postkutsche schon seit 300 Jahren. Die fahrenden Gäste sind an diesem Abend, bis auf die Ausnahme von François und seiner Kutsche, schon alle angekommen. Die Pferdeknechte nehmen die beiden Gäule in Gewahrsam, spannen sie ab. Der alte Kutscher nimmt seine Leuchte und sagt zu der Frau: „Folgen Sie mir, Mademoiselle.“ Sie nimmt ihr Handgepäck und steigt aus der Kutsche.
Eine Holztreppe führt in das Obergeschoss des Fachwerkhauses. François kennt die Schlafräume der Fahrgäste genau. Er führt die junge Frau in eine Kammer, die immer für seine besseren Kunden freigehalten wird. Er drückt die Holztür auf. Die kleine Kammer besitzt ein einfaches Bett, das bezogen ist, einen Schemel, einen kleinen runden Holztisch und ein Wandbrett, auf dem eine Wasserschüssel zur Verrichtung der Toilette steht. Die ausgetretenen Bohlen knirschen unter jedem Schritt.
Der Kutscher stellt seine Lampe auf dem Tisch ab, weil er sonst kein Licht im Zimmer sieht.
„Das Abendessen beginnt in einer halben Stunde.“
Sie nickt.
Der Alte verlässt die Kammer; sie packt das Handgepäck aus. Fehlt da noch etwas? Sie besinnt sich und will noch einmal zur Kutsche zurückgehen. Hat man ihr nicht gesagt, dass in diesen Poststationen dunkle Gestalten ihr Unwesen treiben? Da sollte man keine Dinge in der Kutsche lassen.
Sie steigt die Treppe herunter, nimmt die Lampe mit. Die Knechte haben die Kutsche schon in eine der Garagen geschoben. Sie hört die Pferde in den Ställen schnauben und traben. Ein Knecht striegelt noch eins der letzten Pferde. Aus der Küche dringt das alberne Geschnatter der Mägde; der Hof selbst ist menschenleer. Woher soll sie jetzt erfahren, wo ihre Kutsche ist? Wie zu den Abstellplätzen der Karossen hineinkommen?
Einen Moment steht sie ratlos da. Da kommt eine Gestalt gelaufen. Die Frau hält die Laterne hoch. Der Schatten kommt näher, rempelt sie an.
„Kein Grund zur Beunruhigung“, raunt eine Männerstimme und wirft sie trotzdem fast zu Boden.
Sie will etwas rufen, sie hebt ihre Lampe, doch der Schatten ist in der Nacht verschwunden.

Die alte Gaststube der Poststation ist ein niedriger Raum, der auf der Stirnseite einen zwei Meter breiten Steinkamin besitzt. Dicke Holzbalken tragen das Obergeschoss. Fast alle Tische sind schon besetzt. Die junge Frau stellt die Kerzenlampe im Saaleingang ab. Der Student ist schon da, und die meisten anderen Reisenden auch. François weist der jungen Frau einen Platz weit hinten im Gastraum zu. Doch der Wirt Jérôme protestiert leise: „Du wirst uns doch nicht ein solch hübsches Gewächs hinten zu deinem dreckigen Studenten setzen…“ und fügt dann laut hinzu: „Kommen Sie, Fräulein, hier am Feuer ist noch Platz.“
Die junge Frau nimmt Platz an einem Tisch, an dem schon ein Bürgerehepaar sitzt. Der lange Tisch daneben ist noch frei.
„Erwartet Ihr noch zahlreichen Besuch, Wirt?“, fragt sie mit Blick auf die zehn unbesetzten Plätze neben ihr.
Jérôme nickt: „Ja, der Bürgermeister hat seinen Besuch angemeldet, er kommt mit seinem halben Stadtrat…“
Das Ehepaar tuschelt aufgeregt über diese Neuigkeit.
Es vergeht kaum eine Stunde, da wird die Holztür aufgestoßen, und mit viel Gelärm zieht eine Gruppe von Honoratioren ein, alle schon leicht angetrunken, ihre vornehmen Mäntel unterscheiden sich von denen der anderen Gästen der Poststation…
„Jérôme“, gellt eine herrische Stimme, „Roten! Und vom Besten!“
Die Frau des Schankwirts eilt beim Befehl des Bürgermeisters aus der Küche und setzt mehrere Krüge auf den Tisch.
Der Bürgermeister, ein beleibter, rothäutiger Mann, dessen Nase häufigen Rotweingenuss verrät, gießt sich in einen Becher voll, trinkt, setzt ab und speit alles wieder aus: „Jérôme! Wein! Wein! Keinen halbvergorener Rebensaft!“
Die Schankwirtfrau sammelt die Krüge wieder ein und verschwindet in der Küche. Der ganze Speisesaal nimmt Anteil an dem Abendessen des Bürgermeisters, denn ganz offensichtlich kümmert sich die Küche nur noch um dessen Tisch und lässt die anderen warten.
Der zweite Rotwein besteht die Bürgermeisterkontrolle. Es werden rasch Wurstwaren, Brot, Weinbergschnecken und eine Suppe aufgefahren.
Die hungrigen Honoratiorenmäuler haben kaum das Entrée beendet, da wird schon das Hauptgericht dampfend serviert. Ein halber Coq au vin pro Person.
„Tragt auf, tragt auf“, ermuntert der Bürgermeister den Gastwirt Jérome und dessen Belegschaft.
Gefräßig und von Zeit zu Zeit unauffällig rülpsend und furzend verschlingen die Zehn alles, was ihnen serviert wird.
„Nur etwas Geduld“, flüstert der Wirt unserer jungen Dame zu, die noch nicht einmal das Eingangsgericht bekommen hat. Doch sie erträgt, ähnlich wie das Ehepaar und alle anderen Gäste, dass der Bürgermeister zuerst bedient wird.
Da wird die Tür aufgerissen, und ein bleicher Mann stürzt in die Gaststube. Sein linkes Auge ist halb geschlossen. Er trägt die Kleidung eines Tagediebs, eines Schurken. Die Tür hinter ihm bleibt offen. Die Winterkälte bemächtigt sich der wohl geheizten Gaststube. Als die Gäste in seiner rechten Hand einen Dolch entdecken, geht eine Welle des Entsetzens durch den Raum. Dann hat der Eindringling den Tisch des Bürgermeisters ausgemacht. Er erkennt den Würdenträger.
Mit dem heiseren Ruf „Es lebe die Republik!“ wirft er sich auf den dicken Mann, dessen Becher auf dem Steinboden zerschellt. Ein Stich! Aus dem wohl genährten Bauch dringt Blut. Ein Stadtrat steht auf und reißt den Schurken vom Opfer los. Der wartet keinen Augenblick und rennt aus dem Saal.
Da löst sich die Gaststube aus der Erstarrung. Geschrei. Schemel fallen um. Weinen. Männer laufen zum verletzten Bürgermeister.
„Er lebt, er lebt! Geht einen Medicus holen! Schnell!“, rufen alle durcheinander.
Die junge Frau geht zur offenen Tür, nimmt wie in Trance ihre Kerzenlampe und tritt in die dunkle Nacht.
Der Hof ist leer.
Es ist eisig. Die Wolken schütten leichte Schneeflocken aus.
Die Frau geht unwillkürlich zur Strasse, dort angekommen sieht sie einen Schatten links auf der Strasse, Richtung Saint Jean fliehen.
Sie beginnt zu frieren, doch es bleibt ihr keine Wahl, sie rennt dem Schatten nach.
Die mächtige Kirche zeichnet sich am Ende der Strasse ab.
Sie läuft, die Kerzenlampe in der Hand, das Pflaster ist glitschig, sie rutscht, läuft weiter.
Hinter ihr Männer: „Sie ist da lang!“
Die Frau ist noch wohl 50 Meter von der Kirche entfernt, als sich die beschlagene Tür des Nebeneingangs öffnet. Der Schatten verschwindet.
Die Männer aus der Poststation haben sie eingeholt. Ihr Atem bildet weiße Wolken in Dezembernacht.
„Wo ist er?“
Sie zeigt stumm auf die Kirche.
„Nehmen Sie meinen Mantel, junge Frau! Sie haben Ihre Bürgerpflicht getan!“ Ein Mann legt einen warmen Mantel um ihre bibbernden Schultern.

Auf der anderen Seite der Kirche Saint Jean zischt eine tonlose Stimme: „Zur Kapelle des Petit Citeaux.“ Ein Schatten löst sich aus den Umrissen der Kirche und verliert sich in der Querstrasse.

Der Mann aus der Gaststube nimmt ihre Kerzenlampe und stützt sie. Sie blickt zurück. Die Verfolger erreichen den kleinen Nebeneingang der Kirche, klopfen, schlagen fast die Holztür ein, es wird ihnen endlich geöffnet.
„Er wird uns nicht entkommen“, sagt ihr Begleiter beruhigend. Sie erkennt François, den Kutscher.

Das morgendliche Treiben im Hof der Poststation hat sie geweckt. Sie macht ihre Toilette, nimmt ihr Gepäck und steigt die Holztreppe hinab.
Die Pferde sind angespannt, schnauben, trappeln auf dem Pflaster.
„Kommen Sie“, fordert François die junge Frau auf. Sie hilft ihr in den Wagen, der noch ganz leer ist.
„Und der Student?“, fragt sie.
„Sie haben Jean Althof verhaftet“, erzählt der alte Kutscher, „man denkt, dass er zu den Verschwörern gehört.“

Die junge Frau sitzt allein in der Kutsche den ganzen, kalten Weg nach Troyes. Sie ist in Gedanken versunken. Zuviel ist in den letzten Stunden passiert.
Die Postkutsche kommt in Troyes an.
Der Alte holt die junge Reisende aus der Kutsche, hilft ihr beim Aussteigen.
Die Pferde werden abgespannt.
François wendet sich an die junge Frau: „Vergessen Sie einfach was geschehen ist. Es ist besser so.“
Der Kutscher hat seine Arbeit getan, geht in die Poststation.
Er lässt die Frau alleine zurück.
Sie schaut sich unsicher um.
Dann sagt sie leise: „Die Luft ist rein.“

Da schiebt sich ein Mann unter der Kutsche hervor. Er hat die Reise unter dem Wagen verbracht.
„Alles in Ordnung?“, ruft eine bekannte, raue Stimme.
„Das will ich hoffen“, sagt die Frau, lacht und fällt dem bleichen Mann in die Arme.
„Es lebe die Republik“, flüstert er ihr heiser ins Ohr und zwinkert unwillkürlich im Licht der Kerzenlampe mit dem halb geschlossenen Auge.
„Nur kein Grund zur Beunruhigung.“

 

Hallo Urach

Es ist kalt, sehr feucht, und Graupeln haben einen weißen Mantel auf die winterlich grauen Äcker und Weinberge gelegt. Die Sonne bleibt hinter der grauen Wolkenwand verborgen.

So richtig störend ist es nicht, aber ich würde das hier trotzdem als Wortwiederholung bezeichnen.


Die zwei Fahrgäste im Kutscheninnern ertragen das Rütteln stumm.

Mit diesem Satz könntest du gut den zweiten Absatz einleiten. Zur Zeit scheint er mir etwas verlohren im ersten Absatz zu sein.


um die Zwanzig, im heiratsfähigen Alter,

Ist das nicht dasselbe? ;) Ich finde es nicht zwingend notwendig das zu erwähnen und sollte es noch eine gewichtige Rolle spielen, dann vielleicht lieber in anderer Reihenfolge.

„Ich entnehme Ihre Herkunft Ihrem Akzent.“

Hm, das erscheint mir fast ein bisschen zu forsch für das schüchterne Ding.

„Das ist wohl eine sehr studentische Frage“, macht der Kutscher seinem Ärger Luft

:lol: der Kutscher spricht mir aus der Seele, die Frage war ja auch wirklich albern.

„Kutscher“, meldet sich die Frau jetzt beunruhigt, „was gedenkt Ihr zu tun?“
Der Student geht nicht auf die Frage der Frau ein: „Und wo ist die nächste Poststation?“

Warum sollte er auch? Er wird ja schließlich nicht angesprochen.

Er soll uns sagen, wie lange er braucht, um eine neue Achse einzubauen.“

Bin mir unsicher was die Umgangssprache um 1820 anbelangt, aber irgendwie kann ich mir schwer vorstellen, das ein Schmied und ein Student derartig gepflogen miteinander korrespondieren ;)
Aber vielleicht will der Herr Student ja vor der Frau den schönen Schein waren?

„Und Sie? Sind Sie ein studentischer Revoluzzer? Ein Republikaner? Ein Königsmörder?“

Holla :sconf: Das kam jetzt überraschend.

Sie beginnt zu frieren, doch es bleibt ihr keine Wahl, sie rennt dem Schatten nach.

So ganz nachvollziehbar finde ich die Prot ja nicht.

„Das will ich hoffen“, sagt die Frau, lacht und fällt dem bleichen Mann in die Arme.

Ah, so erklärt sich dann doch einiges im Verhalten der Prot - schön dezent angedeutet, das es nicht zu offensichtlich war und ich mich dennoch immer ein bisschen über sie gewundert hab - sehr gut. (meine vorherigen Anmerkungen am Text zu ihrem Verhalten, werden dadurch quasi nichtig oder zumindest positiver, weil der verwirrende Effekt ja der richtige war :Pfeif: )

Alles in allem eine sehr hübsche Geschichte, hat mir gut gefallen. Vor allem die Atmosphäre bringst du gut rüber, da stört es mich auch nicht das, das Tempo in der ersten Hälfte der Geschichte etwas träge ist.
Tjo, mehr kann ich eigentlich auch nicht sagen. Kurzweilige und solide Sache - gern gelesen.

schöne Grüße, Skalde.

 

Hallo Skalde,

danke für Deinen Kommentar.
Ich werde am nächsten WoE die kg mit Deinen Kommentaren überarbeiten.

LG
WU

 

Hallo Skalde,

jetzt habe ich Deine Anmerkungen eingearbeitet. Danke für Deine Lektoratsarbeit.

LG
WU

 

Hallo Urach,

ein interessantes Thema und eine interessante Wendung am Ende der Geschichte. Mir ging es ein bisschen wie Skalde - ich fand das Verhalten der Frau oft etwas seltsam. Aber am Ende klärt sich ja doch noch einiges auf.

Begeistert hat mich deine Geschichte, ehrlich gesagt, nicht. Am Anfang dauert es viel zu lange, bis sie an Fahrt aufnimmt. Das liegt vor allem daran, dass du sehr viele Details einbaust. Was Stimmung erzeugen soll, erzeugt in dieser Geschichte manchmal Langeweile.

Was mir persönlich allerdings ein bisschen gefehlt hat - näheres zu dem Wunsch nach der Rebublik. Einen einzelnen verstehen, der damals dabei war und dafür gekämpft hat. Das ist für mich in historischen Geschichten immer am Interessantesten: Die persönliche Lebenslage der Protagonisten kennenlernen. Nachvollziehen zu können warum sie auf der einen oder auf der anderen Seite stehen.

Tja, mein Fazit: Alles in allem habe ich deine Geschichte gern gelesen - damit sie richtig gut wird, fehlt allerdings noch so einiges.

Details:

Der Kutscher auf seinem Bock, ein grauhaariger Mann von fast sechzig Jahren, ist in einen schweren Mantel gehüllt. Es ist kalt, sehr feucht, und Graupeln haben einen weißen Mantel auf die winterlich grauen Äcker und Weinberge gelegt.

Wortwiederholung - und noch besonders ungeschickt an dieser Stelle. :)

Es sitzen sich zwei junge Menschen gegenüber, fast selben Alters, aber sehr unterschiedlicher Herkunft.

Es ist natürlich Geschmackssache, aber Formulierungen wie die fett markierte, wirken enorm steif. Besser wäre hier meines Erachtens "fast gleichaltrig" oder so etwas in der Art.

Die beiden verfallen wieder in tiefes Schweigen.

Ich finde immer, dass "tiefes Schweigen" eine unsinnige Formulierung ist. Schweigen ist doch einfach Schweigen. Und - wenn es tiefes Schweigen gibt, gibt es dann auch untiefes Schweigen?

Es bricht die Nacht herein, und die beiden Insassen merken es kaum.

Das Wort "Insassen" hat für mich immer etwas von Gefängnis. Vielleicht passt das Wort "Reisenden" hier besser.

Die beschlagenen Kutschenräder bewegen sich auf und ab.

Wie bewegen sich Räder auf und ab?

Die Frau ist noch wohl 50 Meter von der Kirche entfernt, als sich die beschlagene Tür des Nebeneingangs öffnet.

Zahlen solltest du in Kurzgeschichten ausschreiben.

Sie habe Ihre Bürgerpflicht getan!

haben

Lieben Gruß, Bella

 

Hallo Wolfgang,

ich habe deine Geschichte gerne gelesen. Sie hat die Stimmung der damaligen Zeit gut vermittelt.
Vielleicht hätte der Anfang etwas kürzer gefasst werden können.
Ein Punkt hat mich etwas verwirrt und zwar betrifft er die Anrede im 19.Jh. Manchmal schreibst du "Ihr" und "Euch", dann aber wieder "Sie". War das damals so, konnte man sich da nicht richtig festlegen oder hast du es unbewusst so geschrieben?

Noch ein bisschen Textkram:

Es sitzen sich zwei junge Menschen gegenüber, fast selben Alters, aber sehr unterschiedlicher Herkunft.
Diese Stelle hat Bella ja auch schon kritisiert. Ich würde das mit dem Alter ganz streichen, denn weiter unten schreibst du ja noch einmal von einer "jungen" Frau und einem 10Jahre älteren Mann.

Der Student gibt auf.
hier würde ich noch anfügen "und schaute hinaus", denn dann schreibst du, wie die Gegend am Fenster vorüberfliegt.

Es vergeht kaum eine Stunde, da wird die Holztür aufgestoßen, und mit viel Gelärm zieht eine Gruppe von Honoratioren ein, alle schon leicht angetrunken, ihre vornehmen Mäntel unterscheiden sie von den anderen Gästen der Poststation…
... ihre vornehmen Mäntel unterscheiden sich von denen der anderen Gäste ...

„Jérôme! Wein! Wein! Kein halbvergorener Rebensaft!“
Keinen halbvergorenen Rebensaft!"

Die Schankwirtfrau sammelt die Krüge wieder ein und verschwindet wieder in der Küche.
ein "wieder" würde ich hier streichen

So, das war es schon.

Viele Grüße
bambu

 

Hallo Bella, hallo Bambu,

jetzt habe ich den Grossteil der von Euch kritisierten Passagen verbessert.

Schöne Adventszeit
WU

 

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