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Das Kornfeld
Gale schwitzte. Er stand schon seit 2 Stunden regungslos auf dem Feld. Die Sonne knallte brutal vom Himmel auf ihn herab und tauchte das Getreide in satte, goldgelbe Farben. Es wäre die perfekte Umgebung für einen Maler oder Dichter, aber nicht für einen Mörder. Anstatt des Farbenspiels oder der Poesie dieses Ortes, sah er nur durch alles hindurch.
Er versuchte zu vergessen, was er getan hatte, aber es gelang ihm nicht. Immer wieder sah er sich in Gedanken das Zimmer betreten. Es war grau und karg möbliert, nur erleuchtet durch das gespenstische Licht eines alten Röhrenfernsehers. Dann hörte er seine Schüsse. Gale wollte schreiben. Sooft hatte er ihn gebeten aussteigen zu können, und er hatte nur gelacht.
Plötzlich ging er los; er konnte schließlich nicht für immer hier bleiben. Gemächlich bahnte er sich seinen Weg durch die schulterhohe Gerste. „Eigentlich hatte er der Menschheit doch einen Dienst erwiesen.“, dachte er verbittert. Die hellerleuchtete Stadt am Horizont kam immer näher, und die Natur machte ihr ehrfurchtsvoll Platz.
Bald sah Gale nur noch vereinzelt Bäume in den Vorgärten und sein Weg war noch nicht zu Ende. Vorbei am Park voller sterbender Bäume und zertrampeltem Gras. Dort wurde früher immer der Stoff verkauft, sonst hatte er keinen tieferen Sinn. Er machte kurz Halt und schaute auf die ungepflegte Wiese. Es sah Jesse und Mike nirgendwo herum lungern. Mit einem Lächeln auf den Lippen zog er weiter. Wie eigentlich sollte sein und das Leben der Anderen eigentlich weiter gehen?
So viele Leben wurden durch die Arbeit seines Bosses auf unterschiedliche Weise zerstört. Gale träumte schon lange davon, seinen Schulabschluss nachzumachen oder eine Ausbildung zu beginnen. „Natürlich nur, wenn die Polizei ihn nicht schnappen würde.“, dachte er.
Zu allem Überfluss begann es jetzt auch noch zu regnen. Er zog sich seine Kapuze über den Kopf und ging schnellen Schrittes weiter. Vorbei an den unzähligen Wohnblocks, vorbei an den stinkenden Kneipen, vorbei an den schmutzigen Wänden voller Graffiti. Nun schüttete es wie aus Eimern. Die trostlosen Straßen waren nun menschenleer.
Nach einiger Zeit bog Gale völlig durchnässt in die Southstreet am Hafen ein. Die komplette Straße war vom grellen blauen Licht der Polizeiautos erhellt. Er schlurfte langsam mit gesenktem Kopf auf das rot-weiße Absperrband, das den Tatort absperrte, zu. Noch nie in seinem Leben war Gale so angespannt gewesen. Er hatte schon früh mit der Polizei Kontakt gehabt und hatte sich nie sonderlich vor ihr gefürchtet. Aber jetzt bekam er es mit der Angst zu tun. Auch, wenn die Polizei ihn gar nicht beachtete, waren es die schlimmsten Minuten seines Lebens. Trotz seiner Angst blieb er lange dort.
Als es schließlich dämmerte und er sich zum Gehen wandte, sah er sich noch einmal über seine Schulter um und fragte sich, ob man die Freiheit von so vielen Menschen mit einem Mord erkaufen darf.