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Das Land der Träume

Beitritt
22.10.2001
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Das Land der Träume

Am 24. August des Jahres 79 n. Chr. wurden die Städte Herculaneum, Pompeji und Stabiei durch den Ausbruch des Vesuvs verschüttet. Genau eintausend Jahre später am selben Tag, zur selben Uhrzeit dieser Katastrophe verschwand eine, im Bermuda-Dreieck gelegene Insel - Atlantis. Der Inselstaat, dessen Bevölkerung zwar britisch sprach, sonst aber völlig unabhängig von allen übrigen Großreichen war, erfreute sich schon seit Jahrhunderten einer sagenhaften Berühmtheit. Diese beruhte teilweise auf den phantastischen Bodenschätzen der Insel, aber auch auf dem fast unerklärlichen Reichtum jedes einzelnen Inselbewohners. Doch wie gesagt - fast unerklärlich. Das Vermögen der Bürger von Atlantis stammte vom Verkauf der Bodenschätze. Jedoch verkaufte man immer nur so viel, wie zum Leben benötigt wurde. Auch zum Beispiel Tiere wurden nur so viele getötet, wie zum Stillen des Hungers erforderlich war. Deshalb gab es auf Atlantis auch nicht den Unterschied zwischen arm und reich. Dort hatte jeder so viel wie der andere. So konnte natürlich auch kein Streit um Güter entstehen. Kurz gesagt: Atlantis war das friedfertigste Land, welches es auf Erden je gegeben hatte. Auch wurde die Insel, trotz der legendären Schätze, niemals von Feinden angegriffen, da sich nur jemand, der auf Atlantis geboren worden war, in den offenen Gewässern des Bermuda-Dreiecks auskannte.
Bei Erwähnung des Bermuda-Dreiecks wird es wohl auch niemanden wundern, daß Atlantis, das am 13. Mai 1079 n. Chr. von einem Erdbeben erschüttert worden war, in der Nacht zum 24. August desselben Jahres, ohne jegliches Geräusch zu verursachen, im Wasser versank und nie wieder auftauchte.
Doch wer nun glaubt, daß Atlantis mit Mann und Maus ertrunken sei, irrt gewaltig. Denn beim Erwachen der Insulaner am nächsten Morgen ging das alltägliche Leben weiter - unter Wasser. Doch auch, wenn das Leben für die "Atlantiker", wie sie sich selber nannten, ohne Veränderungen weiterging, hatten sich doch zwei Dinge für die restliche Welt geändert: Zum einen existierte für die übrigen Länder Atlantis nicht mehr, und zum anderen war es eine Heimat der Träumer geworden. Nur diejenigen, die von ihren Mitmenschen verspottet wurden, weil sie anders waren, kannten noch die Insel Atlantis als einen Zufluchtsort, an dem niemand über sie lachte, und verstanden es auch, dorthin ohne Probleme zu gelangen.
Von manchen wurde Atlantis auch das "Sonntagskinderland" genannt, da diese Kinder, die an einem Sonntag geboren worden waren, immer etwas anders waren.

Auf das spurlose Verschwinden von Atlantis hin folgte ein merkwürdiger "Zufall", dem die Insel den Namen "Sonntagskinderland" zu verdanken hatte: Immer, wenn der 13. Mai eines Jahres auf einen Sonntag fiel, wurde ein Kind geboren, welches nach außen hin als ganz normal, vielleicht auch als ein wenig albern oder kindisch schien, aber innerlich völlig anders als seine Umwelt war. Und solch ein Kind erblickte am 13. Mai 1979 in einem Vorort von Mineapolis, Amerika, das Licht der Welt: ein Junge namens Angus Brooches. Schon als Säugling war er etwas Besonderes. Nicht, daß er ruhiger war als andere Kinder, jedoch verhielt er sich anders. Man kann nicht recht beschreiben, warum oder wie, aber es lag auf der Hand, daß er sich anders benahm. Vielleicht ein kleiner Versuch der Beschreibung: Sobald er zu sprechen gelernt hatte und im Kindergarten und später in der Vorschule war, bemühte er sich stets darum, Streitigkeiten, ob seine eigenen oder anderer, rein durch Gespräch und Verständnis aus der Welt zu schaffen. Und vor allem seine Gespräche waren von solch einer Überlegtheit, daß man nicht vermutet hätte, daß sie von einem Fünf- oder Sechsjährigen stammten.
Bis zu seinem elften Lebensjahr kannte er Atlantis nur aus Erzählungen. Das änderte sich aber schlagartig, als er eines Mittags von der Schule auf dem Nachhauseweg war. Wie so oft schlenkerte er mit der Schultasche und träumte vor sich hin, während er eine Straßenkreuzung überquerte. Was er aber durch seine Träumereien völlig übersehen hatte, war, daß die Fußgängerampel auf Rot geschaltet war. Also kam es, wie es kommen mußte: Bei der Überquerung der Straße konnte ein Autofahrer nicht mehr früh genug bremsen, weil er Angus zu spät gesehen hatte, und erfaßte den Jungen mit seinem Auto, wobei er ihm dadurch schwerste Verletzungen am Rücken zufügte. Wegen dieser verbrachte er die folgenden vier Wochen im Krankenhaus. Für einen Zehnjährigen jedoch ist es überaus langweilig und schwierig, seinen Tag im Bett zu verleben. Und so fing Angus bald an, seine Fähigkeit des Tagträumens zu nutzen und die Tage mit Phantasiereisen in fremde und aufregende Länder zu verbringen. Und gleich zu Anfang verirrte er sich dabei nach Atlantis. Dort konnte er wieder ungehindert herumrennen, als ob nichts geschehen sei. Er hatte weder Narben noch irgendwelche anderen Anzeichen am Rücken, die auf seine schweren Verletzungen hinwiesen. Auch trug er nicht mehr das sterile und ihm lästige Krankenhaushemd, sondern Shorts und T-Shirt. Und er konnte sich, ohne Schmerzen zu verspüren, bewegen.

Anfangs lief er quer durch das Land, mal landeinwärts, dann wieder landauswärts. Mal schaute er sich ein nur aus Holz gefertigtes Haus an, das dafür aber viel hübscher aussah, als man sich hätte vorstellen können. Ein anderes Mal blieb er stehen und hörte den Gesprächen der Vorübergehenden zu. Er begriff schnell, daß in diesem Land etwas anders war: Bis zu diesem Moment hatte er hier noch nirgends jemanden aus Wut schimpfen oder schreien hören. Alle verstanden sich, ohne mal eine ernsthafte Auseinandersetzung zu haben. Und auch, wenn mal zwei nicht einer Meinung waren, wurde doch trotzdem niemals einer von ihnen laut. Aber auch das Zuhören wurde ihm bald langweilig, und so ging er hinunter an den Strand. Dort traf er, nachdem er eine Weile gelaufen war, auf einen Fischer, der im Sand saß und seine Netze säuberte.
"Was machst du da?" fragte Angus neugierig, nachdem er dem Fischer einige Zeit zugesehen hatte.
"Meine Netze reinigen, damit ich bald wieder aufs Meer fahren kann, um Fische zu fangen", antwortete ihm der Fischer. "Na, und du, Kleiner, was machst du hier ganz alleine?"
"Ich weiß auch nicht. Erst war ich im Krankenhaus, und dann war ich auf einmal hier", erzählte Angus und schaute den Mann fragend an.
"Ach so", nickte dieser, "dann bist du einer von denen, die aus ihrer Welt nach Atlantis kommen können."
"Ich bin in Atlantis?!" rief Angus überrascht aus. "Mein Daddy hat mir aber erzählt, daß Atlantis schon vor Jaaaaaahren untergegangen sei und er nicht einmal genau wüßte, ob es Atlantis überhaupt je gegeben hätte!"
"Heute weiß fast niemand mehr, daß unsere Insel noch existiert", brummte der Fischer nachdenklich.
"Warum?"
"Weil die Menschen es heute nicht mehr wissen wollen; weil ihnen zuviel Phantasie dabei mit im Spiel ist; weil sie nur noch in ihrer realen, wirklichen Welt leben können und verlernt haben, zu träumen!"
"Das verstehe ich nicht. Träumen ist doch etwas sehr Schönes."
"Ja, da hast du recht. Ich verstehe auch nicht, wie man verlernen kann zu träumen, Kleiner." Und nach einer Pause: "Wie heißt du eigentlich?"
"Ich heiße Angus. Angus Brooches", entgegnete er ihm. "Und du?"
"Mein Name ist Joseph. Joseph, der Fischer", antwortete Joseph.
Eine Weile blickten beide hinaus auf das Wasser, das in kleinen, sanften Wellen immer wieder gegen den Strand schlug. Doch sonst war das Meer vollkommen ruhig und bildete eine glatte, blaue Fläche, die wie eine Leinwand aussah, die auf dem Boden ausgebreitet worden war.
"Ist das Wasser hier immer so ruhig?" fragte Angus, ohne den Blick vom Meer abzuwenden.
"Nein, nicht immer, aber meistens."
Sonst schwiegen sie weiterhin, und ohne, daß er hätte hinsehen müssen, säuberte Joseph mit sicheren Handgriffen seine restlichen Netze.
Als er fertig war, rollte er sie sorgfältig zusammen und stand auf. "Na, Angus, magst du mitgehen?"
"Zum Fischen? Auja!" rief dieser begeistert.
"Nein, nicht zum Fischen, zu mir nach Hause", lachte Joseph. "Zum Fischen geht's erst wieder heute Nacht. Da beißen sie besser."
Zwar etwas enttäuscht, aber doch freudig lief Angus neben dem Fischer her, dem man schon von Weitem ansah, daß er tagtäglich auf dem Meer war. Seine Haut war gegerbt vom Salzwasser und vom Wind, und auch seinem Gesicht konnte man die Spuren der jahrelangen Fischerei ansehen. Doch gerade weil er Fischer war und man dazu eine schier endlose Geduld braucht, strahlte er soviel Ruhe auf seine Umwelt aus. Vom ersten Moment an mochte Angus Joseph, der ihm durch seine Kraft und seine Größe Schutz zu bieten schien. Und in den folgenden Jahren sollte Angus dieses Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit nicht nur einmal brauchen können.
Sie waren kaum an Josephs kleinem, aber dafür um so gemütlicherem Haus angelangt, da brach bereits der Abend herein und am fernen Horizont war ein Sonnenuntergang solcher Schönheit und Farbenfreude zu sehen, daß Joseph wie auch Angus stehenblieben und erst das Haus betraten, als dieser wundervolle Augenblick vorüber war.
Von innen war das Haus noch sehr viel gemütlicher, als man ihm von draußen ansehen konnte. An der einen Innenwand türmten sich vor einer mit allerlei verschiedenen Fischen bemalten Tapete furchtbar viele Kissen zu einer richtigen Kuschelecke auf. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine offene Feuerstelle aus roh behauenen Feldsteinen. Daneben, in der Ecke, lag ein etwas kleinerer, länglicher Kissenhaufen, der als Schlafstelle diente. An den Wänden hingen viele verschiedene Sachen. Von Töpfen über Pfannen, von Werkzeug bis Netzen. Alles war irgendwie an einem Haken an der Wand befestigt. In der Mitte des einzigen Raumes stand ein grob gezimmerter Tisch mit einem Stuhl davor. Und neben der Feuerstelle stand ein dreibeiniger Hocker. Aus diesen Dingen bestand die ganze Einrichtung des Hauses.
Staunend sah sich Angus um und fragte dann: "Und das Wenige reicht dir?"
"Warum? Ich brauche nicht mehr zum Leben", entgegnete Joseph verständnislos.
Dann baute er aus zwei Stangen, die in einer Ecke des Hauses lehnten, und einem Haken ein einfaches Gestell und hängte daran einen gefüllten Topf mit Suppe übers Feuer.
Gemeinsam setzten sie sich in den großen Kissenhaufen, und Joseph fragte: "Wo lebst du?"
"In Mineapolis", antwortete Angus.
"Wo ist das?" erkundigte sich Joseph weiter.
"In Indiana", erklärte Angus.
"Und wo ist Indiana?" wollte Joseph nun wissen.
"Ja, weißt du das nicht? Das liegt in Amerika", erläuterte Angus ungeduldig, weil er nicht verstehen konnte, daß jemand Indiana nicht kannte.
"Ja", nickte Joseph, "von Amerika habe ich mal gehört. Es ist sehr weit weg von hier."
"Aber wenn es so weit weg ist, wie kann ich dann so schnell hierhergekommen sein?"
"Weil du nicht über den Land- oder Seeweg, sondern durch deine Träume hergekommen bist", versuchte ihm der alte Fischer die Sache zu erklären.
"Kann ich denn durch meine Träume überall hin?" ließ Angus von dieser vielversprechenden Spur nicht locker.
"Nein, nicht richtig. Außer eben nach Atlantis."
"Was meinst du damit?" bohrte der Kleine weiter, der es nun genau wissen wollte.
"Ich werde versuchen, es dir zu erklären. Also: Atlantis ist vor Jahrhunderten auf ein Erdbeben hin im Meer versunken. Doch die Bewohner von Atlantis lebten weiter auf der Insel. Eben nur unter Wasser. Und eigentlich existierte unsere Heimat für die anderen Menschen nicht mehr. Es gab aber immer wieder solche, die trotz allem die Fähigkeit besaßen, nach Atlantis zu kommen. Und das ermöglichten ihnen allein ihre Träume. Ihr Glaube daran, daß Träume keine Träume bleiben müssen, sondern sie unter Umständen auch wahr werden können. Zwar kannst du auch davon träumen, in andere Länder, außer Atlantis, zu wollen, doch nur bei Atlantis klappt es richtig. Bei allen anderen Ländern bist du nur gedanklich dort, und nicht körperlich. Ich weiß", sagte er abschließend, "daß dies ein wenig kompliziert ist, doch vielleicht verstehst du es bereits. Und noch etwas: Manche Leute, die nach Atlantis kommen können, nennen es entweder das "Sonntagskinderland" oder das "Land der Träume oder Träumer". Und manchmal wird es auch als das "Land der Freiheit" bezeichnet. Vielleicht kannst du später, wenn du älter bist, etwas mit diesen Bezeichnungen anfangen. Die des "Landes der Träumer" habe ich dir eben erklärt. Doch die des "Sonntagskinderlandes" und des "Landes der Freiheit" mußt du dir in deiner Welt deuten. Möglicherweise kommt ein Tag, an dem du sie dir erklären kannst."
Auch, wenn er noch nicht ganz die Bedeutung Josephs Worte erfaßte, begriff Angus doch, was der Fischer ihm damit im Grunde genommen hatte sagen wollen und er war froh, daß er einer von diesen Menschen zu sein schien, die "trotz allem die Fähigkeit besaßen, nach Atlantis zu kommen".
Nach der zwar kargen, aber sättigenden Mahlzeit legten sich beide schlafen, damit sie am nächsten Morgen ausgeruht wären. Joseph auf seiner Matratze aus Kissen, Angus in dem Kissenhaufen.
Früh am nächsten Morgen, eigentlich noch mitten in der Nacht, lange vor Sonnenaufgang, weckte der Fischer den Jungen. "Wenn wir noch ein paar ordentliche Fische fangen wollen, dann müssen wir jetzt bald los."
"Nimmst du mich wirklich mit aufs Meer?" fragte Angus ungläubig.
"Ja, sicher. Aber jetzt komm frühstücken, du Schlafmütze."
Nachdem sie eine magenfüllende Fischsuppe gegessen hatten, gab der Fischer dem Jungen zwei Netzrollen und lud sich selber nochmal vier auf. Dann gingen sie in der völligen Dunkelheit der Nacht hinunter an den Strand. Trotzdem die Nacht pechschwarz war, kannte der Fischer seinen Weg und Angus folgte einfach seinen Tritten. Unten am Strand angekommen sagte Joseph: "Präge dir dieses Bild des Meeres gut ein. So, wie es jetzt aussieht, ist es nicht gefährlich. Doch wer reinfällt, ertrinkt entweder oder erfriert vorher noch, denn nachts ist das Wasser eiskalt."
Und als Angus sich das Meer ansah, konnte er nur die Worte des anderen bestätigen: Das Meer sah zu dieser Nachtzeit nicht gefährlich aus. Das konnte man wirklich sehen. Zwar war die Fläche des Wassers völlig bewegungslos und schwarz, doch diese Schwärze wirkte nicht bedrohlich auf den, der sie erblickte.
Nach einer Weile fragte Joseph Angus: "Hast du dir das Bild des Meeres eingeprägt, so daß du es nie vergessen wirst?"
"Ja, das hab ich", nickte der Kleine.
"Und? Wie sieht es für dich aus?" fragte der Ältere und Erfahrenere.
"Nicht gefährlich, da hast du recht. Aber es sieht irgendwie ... irgendwie ..."
Er fand das Wort nicht, und so sprang Joseph ein: "mächtig aus? Dem Menschen völlig überlegen?"
"Genau!" stimmte er zu.
"Und wenn du schon bemerkt hast, daß das Meer dem Menschen überlegen scheint, dann mußt du dir, wenn du überleben willst, merken, daß alles, was mit der Natur zu tun hat, dem Menschen von Grund auf überlegen ist. Und alles, was der Mensch der Natur einmal einst zugefügt hat, das zahlt sie ihm auf jeden Fall irgendwann zurück. Das darfst du niemals vergessen."
"Das werde ich nicht", versprach Angus, und dieses Versprechen war aus tiefstem Herzen ehrlich gemeint.
"Gut, wenn du dir diese Sache gemerkt hast, dann können wir jetzt aufs Meer hinausrudern. Kannst du rudern?"
"Bisher nicht", rief Angus übermütig aus.
"Na, dann wird's Zeit, daß du's lernst, hab ich das Gefühl."
So schoben sie gemeinsam das Boot, das Joseph inzwischen aus einem kleinen, offenen Schuppen geholt hatte, vom Sand ins Wasser, und er zeigte Angus, wie man ins Boot steigen muß, ohne, daß Wasser hineinläuft.
Nach einigen Turbulenzen, bei denen Angus beinahe baden und das Boot fast untergegangen wäre, landeten doch Angus wie auch Joseph mit den aufgerollten Netzen letztendlich im Boot. Solange sie in Ufernähe waren, ruderte Joseph selber. Doch als sie sich weit genug vom Strand entfernt hatten, ließ der Fischer die Ruder plötzlich los und drückte eines davon Angus in die Hand. "Ich werde dir jetzt erklären, wie man rudern muß, damit man auch von der Stelle kommt. Also, tauch das Ruder vorn am Boot ins Wasser, zieh es unterhalb der Wasseroberfläche durch und bring es in der Luft wieder nach vorne. Dann wiederholst du die ganze Sache. Und das natürlich auf beiden Seiten des Bootes. Verstanden?"
"Laß mich mal probieren", bettelte Angus, woraufhin ihm der Fischer lächelnd auch das zweite Ruder in seine noch viel zu kleine Hand drückte. Und nachdem er eine Weile im Kreis herumgerudert war, hatte er den Dreh raus. So schnell wie sonst kam das Boot zwar nicht voran, doch auch jetzt noch hatte es eine beachtliche Geschwindigkeit. Aber irgendwann legte Angus völlig erschöpft die Ruder aus den Händen und rieb sich seine Oberarme. "Ruder du weiter, ich kann nich' mehr", erklärte er dem Fischer.
"Alles Gewöhnungssache", lachte dieser und übernahm das Rudern.
Kurz darauf waren sie weit genug auf der offenen See und konnten die Netze auswerfen. Auch das lernte Angus, obgleich er anfangs Schwierigkeiten damit hatte, daß sich die Netze beim Auswerfen nicht verhedderten. Doch sogar dies schaffte er bald, und einige Zeit später waren die Netze voll mit Fischen. Mühsam zogen sie sie gemeinsam ins Boot und machten sich auf den Heimweg.
"Du hast doch gesagt, du fängst nur so viele Fische, wie du zum Leben brauchst. Aber das sind doch viel zu viel. So viele kannst du doch gar nicht alleine essen", wunderte sich Angus unterwegs, nachdem er sich die Fischmassen angesehen hatte.
"Nein, essen kann ich so viele nicht, da hast du recht", stimmte der Fischer dem Kleinen lächelnd zu. "Aber trotzdem brauche ich sie zum leben, weil ich sie auf dem Markt gegen Sachen eintausche, die ich sonst noch brauche. Also lebe ich vom Fisch trotzdem."
"Wogegen tauschst du den Fisch?" fragte Angus nun interessiert.
"Gegen Mehl, um Brot zu backen, gegen Salz für die Suppe und gegen allerlei andere Sachen."
Dieses war das erste richtige Gespräch, das sie seit dem, als sie am Strand gestanden waren, an diesem Morgen führten. Denn Joseph hatte Angus, während sie auf dem Meer draußen gewesen waren, durch Zeichen zu verstehen gegeben, daß die Fische besser beißen würden, wenn sie schwiegen. So hatte der Kleine den Mund gehalten und nur gespannt jeden Handgriff des Älteren verfolgt, um ihn sich genau einzuprägen.
Am Strand angekommen, zogen sie das Boot zusammen hinauf und Joseph begann, die Fische in mit Wasser gefüllte Holzeimer zu verteilen, die er vorher aus dem Bootsschuppen geholt hatte. "So", sagte er zu Angus, als er fertig war, "du nimmst jetzt hier die übriggebliebenen Fische und gehst damit zurück in die Hütte. Und ich gehe mit denen hier auf den Markt. Am Nachmittag bin ich spätestens zurück."
Vor Müdigkeit taumelnd, nahm Angus die Fische, die Joseph ihm hinhielt, und ging zur Hütte. Dort angekommen, ließ er die Tiere einfach auf den Tisch fallen und ließ sich, so wie er war, in den Kissenhaufen plumpsen. Schon zwei Sekunden später schlief er tief und fest wie ein Murmeltier.
Als Joseph vom Markt zurückkam, schlief Angus immer noch. Bis die Fische gegart waren, ließ der Fischer den Jungen schlafen und weckte ihn erst dann.
Genauso verliefen die nächsten Tage auch: Joseph weckte Angus früh am Morgen, sie frühstückten zusammen, holten anschließend das Boot gemeinsam aus dem Schuppen und brachten es hinunter an den Strand. Dann fuhren sie bis kurz nach Sonnenaufgang aufs Meer hinaus, Joseph zeigte Angus dabei einige Dinge, die mit dem Fischfang und der Bootspflege zu tun hatten. Wenn die Sonne aufgegangen war, kehrten sie um, verteilten die Fische in die Holzeimer, und während Joseph mit den Fischen zum Markt ging, lief Angus mit ein paar wenigen zurück zur Hütte, legte sie dort auf den Tisch und schlief, bis der Fischer vom Markt zurückkam und ihn zum Essen weckte.
Doch eines Tages, als er schon längere Zeit auf Atlantis war, sagte Angus zu Joseph eines morgens, während sie wieder aufs Meer ruderten: "Du hast mir, als ich hergekommen bin, gesagt, daß ich durch meine Träume herkomme."
"Ja, das habe ich dir gesagt", nickte der und blickte unverwandt ins Wasser.
"Aber wie komme ich dann wieder nach Hause?"
"Willst du denn nach Hause?"
"Nicht richtig, aber ich vermisse meinen Daddy, weil ich Angst habe, daß ihm irgendwas passiert, wenn ich nicht da bin."
"Wenn das so ist, dann werden deine Träume dich auch wieder nach Hause bringen. Es hängt immer von deinen Träumen ab, wo du gerade bist", erklärte der Fischer in seiner ruhigen Art.
"Aber eigentlich möchte ich auch ganz gerne bei dir bleiben, weil ich es hier so schön finde", fuhr Angus fort.
"Ich sagte dir ja: Es hängt immer von deinen Träumen ab, also von dir, wo du bist", wiederholte Joseph. "Aber soviel ich weiß, werden dich deine Träume zur gleichen Tageszeit nach Hause zurückbringen, zu der du hergekommen bist. Das ist das einzige, was ich dir ganz sicher sagen kann."
"Kann ich denn dann auch wieder herkommen?" fragte Angus ängstlich.
"Das entscheiden einzig und allein deine Träume."
Und so, wie er es Angus erklärt hatte, geschah es bereits zwei Tage später auch: Joseph hatte Angus, als sie vom Fischen zurückgekommen waren, wieder in die Hütte geschickt und war zum Markt in die Stadt gegangen. Als er abends das Häuschen betrat, lagen zwar die Fische wie immer auf dem Tisch, doch war der Junge spurlos verschwunden.

"Angus, Angus, du Träumer, wach auf."
Nur schwerlich fand sich der Junge in die Wirklichkeit zurück. Er hob den Kopf und erkannte enttäuscht, daß er wieder im Krankenhaus war und seine Verletzungen noch lange nicht verheilt waren.
"Warum bin ich hier? Ich war doch gerade noch auf Atlantis", stotterte er verständnislos.
"Nein, du bist immer noch im Krankenhaus, genausowie heute morgen, als ich dich besucht habe", lachte sein Vater. "Du hast mal wieder geträumt. Du mußt endlich lernen, daß die Welt nicht nur aus Träumen besteht."
Enttäuscht mußte Angus erkennen, daß sein Vater recht hatte, versuchte ihn aber doch zu überzeugen: "Daddy, ich kann aber nicht die ganze Zeit hiergewesen sein. Ich war ganz lange auf Atlantis. Bei einem Fischer, der Joseph hieß. Der hat mir beigebracht, wie man rudert und ..."
"Schluß jetzt mit deinen Träumereien!" schnitt sein Vater ihm das Wort ab "Begreif endlich, daß die Wirklichkeit nicht immer angenehm ist und du eben noch die nächsten drei Wochen im Krankenhaus bleiben mußt." Als er aber das Gesicht seines jüngsten Sohnes sah, sprach er milder weiter: "So lange dauert es doch auch nicht mehr, bis du nach Hause darfst. Vielleicht kannst du ja sogar ein paar Tage früher nach Hause kommen. Außerdem sind wir so oft bei dir, wie wir können. Dafür, daß ich arbeite, kann ich ja nun wirklich nichts, das mußt du zugeben."
Angus verstand, daß er mit seinem Vater nicht über Atlantis reden konnte. Sein Vater, das begriff er, würde ihn nicht verstehen.
Doch als am nächsten Tag sein Bruder Quincy ihn besuchte, erzählte er ihm von seinen Erlebnissen auf Atlantis. Aber auch der, obwohl er nur zwei Jahre älter war, lachte über ihn und sagte Angus ebenfalls: "Lern endlich, in der Wirklichkeit zu leben."
So gab er es auf, jemandem von seinem Besuch auf Atlantis erzählen zu wollen und hoffte lediglich, daß ihn seine Träume bald wieder dorthin zurückbringen würden. Denn ihm war der alte, ruhige Fischer lieber als sein ungläubiger Vater. Und besonders, weil er seinen Vater über alles liebte, konnte er nicht begreifen, warum der ihn nicht verstand.
Solange er sich noch im Krankenhaus befand, war er mit der Hilfe seiner Träume meistens auf Atlantis. Und bald stellte er auch fest, daß er für sich selber zwar tage- oder sogar wochenlang wegbleiben konnte, seine Erlebnisse aber nie mehr als fünf bis zehn Minuten in der Realität dauerten.

Sein erster Besuch jedoch hatte etwas in ihm ausgelöst: Wenn er nicht mit Hilfe seiner Träume auf Atlantis bei Joseph war, machte er sich über seine Eltern und sich selbst Gedanken. Er versuchte zu verstehen, warum sich seine Mutter so gegensätzlich zu seinem Vater verhielt: Er war nicht der beste in der Schule, vor allem, seitdem er seit einem halben Jahr auf der High School war. Früher hatte er, wenn er eine schlechte Zensur nach Hause gebracht hatte, von seiner Mutter eventuell eine Ohrfeige bekommen. Doch seit Beginn der High School blieb es nicht mehr bei einer. Teilweise prügelte sie ihn windelweich und beschuldigte ihn, er müsse nur mehr lernen, um verhältnismäßig bessere Noten bringen zu können.
Nicht nur einmal war es bisher passiert, daß Mr Brooches nach Hause gekommen war, während seine Frau Angus schlug. Doch erst hinterher, wenn Angus weinend in seinem Zimmer auf dem Bett lag, stellte er sie zur Rede und kam hinterher in Angus' Zimmer, um ihn zu trösten. Angus konnte einfach nicht verstehen, daß sein Vater zwar genau wußte, was ihm blühte, wenn er schlechte Noten in der Schule bekommen hatte und heimkam, dagegen aber erst im Nachhinein etwas unternahm, wenn die Prügel schon vorbei waren.
Doch trotz der Schläge der Mutter und andererseits der zu späten Hilfe seines Vaters liebte er doch vor allem seinen Vater.

Knapp zwei Wochen nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus sprach Joseph Angus während einem seiner nächsten Besuche plötzlich, als sie mal wieder frühmorgens gemeinsam aufs Meer gerudert waren, auf eine Sache an, die Angus selbst nicht aufgefallen war: "Sag mal, Junge, hast du eigentlich bemerkt, daß du dich seit deinem ersten Besuch hier sehr verändert hast?"
"Was meinst du denn?"
"Ich bin der Meinung, daß du, seitdem du das erste Mal hier warst, sehr viel erwachsener geworden bist. Ist zu Hause irgendwas vorgefallen, das dich bedrückt?"
"Nein, nicht daß ich wüßte", schwindelte Angus.
"Na komm, Kleiner, mir machst du nichts vor. Erzähl schon: Was ist passiert? Du benimmst dich nicht mehr wie ein Kind, sondern wie ein Erwachsener, der sich nicht traut, irgend etwas Falsches zu tun oder zu sagen."
Ohne auf Josephs Frage einzugehen, fragte Angus: "Joseph, die, die vor mir hier waren, haben die in meiner Welt anderen davon erzählt?"
"Manche haben es versucht, doch niemand wollte ihnen glauben", antwortete der Fischer und fragte dann ganz harmlos: "Hast du es versucht?"
Angus nickte nur, und Joseph fragte weiter: "Wem hast du es erzählen wollen?"
"Erst meinem Daddy und dann meinem Bruder."
"Hat dir einer von beiden geglaubt?" wollte er weiter wissen.
"Nein", antwortete Angus und biß sich auf die Unterlippe, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten, "sie haben mir beide nur gesagt, ich solle aufhören zu träumen und endlich erwachsen werden."
"Ist es das, was du nicht verstehst und was dich so bedrückt?" Ohne auf eine Antwort zu warten, da er sie sowieso zu kennen glaubte, nahm Joseph den Jungen in den Arm und ließ ihn sich erstmal beruhigen.
Als das Schluchzen nachließ und auch keine Tränen mehr kamen, fragte er: "Du verstehst nicht, warum dich weder dein Bruder noch dein Daddy verstehen, oder?"
Angus nickte, weil er sich seiner Stimme noch beim besten Willen nicht sicher war.
"Weißt du, Kleiner, mir ging's früher genau wie dir. Mir wollte auch niemand glauben. Und doch wußte ich für mich selber, daß das, was ich auf Atlantis erlebte, der Wahrheit entsprach."
"Kommst du nicht von Atlantis?" wunderte sich Angus.
"Oh nein, ich komme genau wie du aus der "realen" Welt. Doch ich bin schon so lange hier auf Atlantis, daß ich mich nur noch schwer an sie erinnern kann. Und wenn ich ehrlich bin, dann möchte ich mich auch überhaupt nicht mehr an sie erinnern können."
"Wie kommt man nach Atlantis, daß man immer hierbleiben kann?" fragte Angus mit vor Aufregung ganz roten Backen.
"Wenn es an der Zeit ist, werde ich es dir erzählen", versprach ihm der alte Fischer. Zwar wollte Angus ihm widersprechen, der legte ihm aber den Finger auf die Lippen, um ihm zu zeigen, daß sie nun genug gesprochen hätten und es Zeit werde zum Fischen.

Immer öfter flüchtete sich Angus in die Welt von Atlantis und lernte dort auch bald noch andere außer Joseph kennen. Zum Beispiel waren da Carl und Jonathan Lionheart, die "Brüder Löwenherz". Denn immerhin war Atlantis ja das Land der Träume und Träumer.
Oder eines Tages, als er zusammen mit Joseph auf den Markt ging, um die gefangenen Fische gegen Lebensmittel einzutauschen, begegneten sie einem Mann, der einen über und über mit goldenen und silbernen Sternen bedeckten Umhang trug. Auch verschiedene wundersame Zeichen waren zu sehen.
Als Angus Joseph fragte, wer das gewesen sei, antwortete der ihm ganz selbstverständlich: "Na, kennst du den nicht aus Büchern oder von Bildern? Das ist der große englische Zauberer Merlin. Noch nie was von ihm gehört?"
Statt einer Antwort schaute Angus den alten Fischer nur aus großen, erstaunten Augen an.
"Guck nicht so verblüfft", lachte Joseph. "Ich mache mir mit dir keinen Spaß. Ich sagte dir ja anfangs, daß Atlantis das Land der Träumer ist. Und auch das der Träume. Hast du das etwa vergessen?"
"Nein", murmelte Angus, "doch ich dachte, daß solche Märchengestalten wie Merlin der Zauberer nicht dazugehören."
"Wer spricht hier von Märchengestalten?" rief Joseph aus. "Willst du dem großen Merlin etwa unterstellen, daß er nicht existiert habe?"
"Alle, die ich gefragt habe, haben behauptet, Merlin sei nur eine erfundene Figur", verteidigte sich Angus.
"Nein, nein, er lebte wirklich. Vielleicht nicht genauso, wie die Menschen es in deiner Welt hinstellen wollen, aber er hat gelebt. Bisher dachte ich eigentlich, du hättest die Grundregeln von uns Atlantikern schon lange begriffen: Nicht alles, von dem die "realen" Menschen behaupten, es habe nicht existiert, hat auch deswegen wirklich nicht existiert."
"Das brauchst du mir nicht andauernd neu zu sagen. Ich komme schon lange genug nach Atlantis, daß ich das weiß", beschwerte sich Angus.
"Du redest von lange? Wie lange meinst du denn, kommst du schon nach Atlantis? Wenn du meinst, daß ich dir nicht immer wieder vorpredigen soll, welche Gesetze bei uns gelten, dann müßtest du auch eigentlich wissen, daß Zeit etwas anderes auf Atlantis ist, als sie in deiner Welt bedeutet."
"Es war auch vor langer Zeit mal deine Welt", wurde Angus nun ernstlich wütend, weil er das Gefühl hatte, daß Joseph ihn als kleinen, tolpatschigen Schuljungen hinstellen wollte. Und das wurde er schon oft genug bei sich zu Hause von seinem Vater und seinem Bruder. Das brauchte er wirklich nicht auch noch auf Atlantis!
"Ja, es stimmt, daß deine Welt auch einst meine war. Doch ich habe mich in dieser "wahren" und "realen" Welt nie wohlgefühlt, weil sie sich dort mehr Märchen erzählen, als es hier auf Atlantis je geben wird."
"Aber ich kann nichts dafür, daß ich noch in meiner Welt bleiben muß. Du willst mir ja nicht erzählen, wie ich für immer hierbleiben könnte."
"Nein, und du weißt auch genau, warum ich das nicht tue. Weil noch nicht die Zeit dafür ist", versuchte Joseph Angus zu beschwichtigen. "Außerdem: Langsam möchte ich wirklich ernsthaft wissen, warum du so schnell wie möglich auf ewig hierbleiben möchtest."
"Wann ist die richtige Zeit dafür?" beharrte Angus, die neue Frage des Fischers völlig außer Acht lassend.
"Vielleicht morgen bei Sonnenaufgang, vielleicht aber auch erst, wenn du erwachsen bist. Ich weiß es nicht", gab Joseph zu. "Und ich kenne auch immer noch nicht die Antwort auf meine Frage, die ich dir eben gestellt habe. Also?"
"Das ist nicht wichtig", lautete die patzige Antwort des Jungen.
"Nun gut, du denkst anscheinend, die Zeit mir zu sagen, warum du herkommen willst, ist noch nicht gekommen. Das muß ich akzeptieren! Aber sie wird kommen, da bin ich mir sicher."
"Aber woher wollen du und ich wissen, wenn die Zeit für deine und auch meine Antwort gekommen ist, daß sie gekommen ist?" fragte Angus völlig verwirrt.
"Das kann ich heute noch nicht sagen. Wenn die Zeit reif ist, werden wir beide es spüren. Erst ich, und, wenn ich es dir gesagt habe, du. Und umgekehrt genauso, nur daß deine Antwort früher reif sein wird als meine. Aber jetzt komm, laß uns die Sachen nach Hause bringen und dann essen. Wir müssen morgen wieder früh raus."
"Gut, du hast gewonnen. Ich geb's auf", antwortete Angus und folgte ihm zurück zur Hütte.
Als sie das kleine Haus von Joseph betraten, betrachtete Angus wie so oft selbstkritisch seine Malereien an den Wänden, die er im Laufe der Zeit dort hinterlassen hatte. Über Josephs Kissenmatratze beispielsweise hatte er einen Delphin gemalt, der mit seiner Schwanzflosse die Kissen zuzudecken schien. Neben dem großen Kissenhaufen, der inzwischen zu Angus' Schlafplatz geworden war, prangte an der Wand ein riesiger Wal, dessen großes Maul alles zu verschlingen schien. Und so hatte er allmählich alle vier Wände mit Fischzeichnungen bedeckt. Ziemlich unzufrieden besah er sich den Delphin und meinte: "Findest du nicht auch, daß sein Kopf viel zu groß geraten ist?"
"Hör auf damit", unterbrach ihn Joseph lächelnd, der schon damit beschäftigt war, einen mit Wasser und Gemüse gefüllten Topf über das Feuer zu hängen. "Wie oft soll ich dir noch sagen, daß du viel zu selbstkritisch bist. Ich finde deine Bilder hervorragend. Und auch die Sachen, die du geschrieben hast, sind großartig. Also beende endlich deine selbstkritische Phase und hilf mir lieber beim Tischdecken."
Gemeinsam breiteten sie eine Tischdecke, die Joseph von einer alten Frau aus der Stadt gegen zwei Fische eingetauscht hatte, auf dem Tisch aus und stellten die Holzschüsseln darauf.
Während sie darauf warteten, daß die Suppe endlich heiß wurde, fragte Joseph ganz plötzlich: "Und, wie läuft's zu Hause?"
Überrascht und etwas erschrocken, so wie jemand, der beim Stehlen erwischt wird, sah Angus ihn an und fragte: "Wie kommst du da jetzt drauf?"
"Naja, weil du die letzten Male überhaupt nichts erzählt hast. Und sonst erzählst du mir von deinem Vater oder daß du wieder Streit mit deiner Mutter oder deiner Schwester hattest. Also, warum bist du in der Richtung so schweigsam? Ist irgendwas passiert?"
Anfangs schwieg Angus und Joseph ließ ihn gewähren. Dann nickte er aber und sagte: "Du hattest recht: Die Zeit für meine Antwort wird schneller da sein als die für deine. Und anscheinend ist sie gekommen, denn ich fühle es. Also, Mom und Dad hatten wieder Streit!"
"Und, worum ging's?" fragte Joseph vorsichtig.
"Ich weiß nur, daß sie sich meinetwegen gestritten haben. Sie hatten wieder Krach, als Dad abends von der Arbeit heimkam. Und da hatte Mom mich schon ins Bett verfrachtet."
"Du liebst deinen Dad sehr?"
"Ja, und ich habe einfach Angst, daß er eines Tages weggeht und nie wieder zurückkommt", antwortete Angus, nachdem er einen kurzen Moment gezögert hatte.
"Warum hast du beim Antworten gezögert, Angus?"
"Ich habe nicht gezögert. Und wenn, dann unbeabsichtigt", sagte er schnell.
"Oh nein, Junge. Ich kenne dich in der Zwischenzeit so gut, daß ich weiß, daß du nichts, aber rein gar nichts, unbeabsichtigt tust. Es scheint dir zwar manchmal selbst so vorzukommen, daß es unbeabsichtigt ist, aber dein Unterbewußtsein macht es mit voller Absicht. Du hast mir gesagt, daß du Psychologe werden willst. Also müßtest du doch eigentlich wissen, daß das Unterbewußtsein nichts unbeabsichtigt macht."
"Ich wüßte nicht, was du meinen könntest", entgegnete ihm Angus.
"Gut. Worauf ich hinauswill, ist: Könnte es vielleicht sein, daß du deinen Vater nicht nur liebst, sondern daß da noch irgendwas anderes ist?"
"Was willst du damit sagen?"
"Ich will damit sagen, daß ich vermute, daß du deinem Vater ... naja, ich will mich nicht falsch ausdrücken ... daß du deinem Vater vielleicht nicht verzeihen kannst, daß er sich nicht richtig um dich ... gekümmert hat ... in all den Jahren."
"Mein Daddy hat sich immer um mich gekümmert", entrüstete sich Angus.
"Und du bist dir sicher, daß du das jetzt nicht nur deswegen sagst, um ihn in Schutz zu nehmen, auch wenn es stimmt?" bohrte Joseph weiter, der spürte, daß hinter der Sache mehr steckte, als er gedacht hätte.
Für einen Augenblick schwieg Angus, weil er nicht mehr wußte, was er noch erwidern sollte. Dann aber überwand er sich und sagte: "Die ganzen Jahre über, in denen ich jetzt hier bei dir bin, habe ich dir eine Sache nie erzählt, weil ich sie vergessen wollte. Du weißt ja, daß ich nicht so übermäßig gut in der Schule bin. Und jedesmal, wenn ich eine schlechte Note nach Hause bringe, bestraft mich meine Mutter."
"Wie?"
"Sie schimpft furchtbar und ..."
"Und, was?"
"Sie ... schlägt mich", gab Angus kleinlaut zu.
"Sagt dein Daddy nichts dazu oder weiß er davon überhaupt nichts?"
"Doch, er weiß es schon. Er ist auch schon öfter dabeigewesen. Aber erst, wenn sie aufhört, streitet er sich mit ihr und kommt mich dann trösten."
"Und warum geht er nie dazwischen? Hat er Angst vor deiner Mutter?"
"Nein, das glaube ich nicht. Hinterher sagt er immer zu mir, er weiß ja nie, ob sie nicht vielleicht doch einen Grund hatte."
"Aber warum streitet er sich dann hinterher mit ihr? Weiß er denn dann, daß sie dich grundlos geschlagen hat?"
"Vielleicht. Ich weiß es nicht."
"Streiten sich deine Eltern nur darüber, daß deine Mutter dich schlägt?"
"Meistens. Manchmal aber auch, weil mein Daddy jeden Abend später nach Hause kommt und Mom glaubt, daß er eine Freundin hat."
"Glaubst du auch, daß er deswegen so spät kommt?"
"Nein. Er hat vor ein paar Wochen zu mir gesagt, er habe die Auseinandersetzungen zu Hause allmählich satt und bleibe deshalb immer so lang in seiner Kanzlei."
"Und aus diesem Grund hast du auch Angst, daß er eines Tages zur Arbeit gehen und nicht wiederkommen könnte?"
"Ja. Aber trotzdem ..." Angus stockte.
"Was, trotzdem? Red weiter", ermunterte Joseph ihn.
"Trotzdem ... ist er nicht immer so nett zu mir wie manchmal."
"Was meinst du damit?"
"Ja, wenn er mich zum Beispiel nicht in Schutz nimmt, wenn Mom mich schlägt und er es sieht. Oder dann, wenn er mir sagt, ich solle endlich erwachsen werden. Oder früher, wenn er mir nur Sachen zum Spielen mitgebracht hat, die lehrreich waren. Das einzige richtige Spielzeug, das ich zusammen mit Quincy je von ihm zu Weihnachten bekommen habe, war eine elektrische Eisenbahn. Sonst niemals richtige Spielsachen."
"Und das nimmst du ihm natürlich auf irgendeine Art und Weise übel. Und trotzdem liebst du ihn über alles, nicht wahr?"
"Ja. Für Daddy würde ich alles tun, wenn er es verlangen würde. Wenn er sich nur öfter um mich kümmern würde. Meistens hat er schlechte Laune zu Hause, weil es wieder Streit gegeben hat. Nur wenn er mich hin und wieder samstags von der Schule abholt, macht er Scherze und lacht. Sonst nie."
"Sag mal ganz ehrlich", fuhr Joseph in seiner Fragerei fort: "Wenn er heute zu dir käme und sich dafür entschuldigen würde, daß er sich die Jahre oftmals nicht richtig um dich gekümmert hat, würdest du ihm dann verzeihen?"
"Nein, ich glaube nicht", murmelte Angus nachdenklich.
"Und warum nicht? Warum würdest du ihm nicht verzeihen?" streute der alte, erfahrene Fischer immer noch mehr Salz in die Wunde, um Angus endlich auch restlich aus der Reserve zu locken.
"Weil ich es ihm einfach nicht verzeihen kann, daß er sich nicht um mich gekümmert hat. Wenn ich ihn brauchte, war er fast nie da. Und mit meiner Mutter wollte ich über manche Sachen einfach nicht reden. Doch Dad war nie da, wenn ich mit ihm reden wollte. Erst, seitdem die beiden sich immer häufiger streiten, holt er mich ab und zu von der Schule ab und unternimmt was mit mir, ganz allein. Nein, ich würde ihm auf gar keinen Fall verzeihen können, weil man das, was er angerichtet hat, nicht wieder gutmachen kann."
Nur immer wieder nickend, schaute Joseph den Jungen an, da er sich die ganze Zeit so etwas gedacht hatte. Irgendwie hatte der Zeitpunkt aber nie gepaßt, Angus darauf anzusprechen. Es hatte erst so weit kommen müssen, daß er selbst den Mund aufmachte.
Plötzlich sprang Joseph auf und lief zur Feuerstelle hinüber: "Wir haben die Suppe total vergessen. Aber vielleicht schmeckt sie trotzdem noch."
So füllte er erst Angus und dann sich selbst die Schüssel und sie aßen die zwar etwas verkochte, aber immer noch gut schmeckende Suppe.
Danach räumten sie gemeinsam das Geschirr beiseite und legten sich schlafen. Doch Angus konnte nicht einschlafen, und irgendwann stand er leise auf, zog sich seine dünne Jacke über, die Joseph ihm geliehen hatte, und ging hinunter an den Strand. Dort angekommen, setzte er sich in den feuchten Ufersand und ließ seine Füße von den ans Ufer schlagenden Wellen mit Salzwasser berieseln. Das Wasser war zwar kalt, doch diese Kälte brauchte er, um seine Gedanken abzukühlen. Eigentlich war er ja ganz schön sauer auf Joseph gewesen. Allerdings jetzt in der kühlen Nachtluft, in der kein Geräusch zu hören war, ließ er sich das, was ihm der Fischer vor nicht mehr als zwei Stunden gesagt hatte, nochmals durch den Kopf gehen. Aber auch das, was er selbst durch Josephs Fragen zum ersten Mal laut ausgesprochen und teilweise zum ersten Mal in seinem Leben zugegeben hatte.
Schließlich kam er zu dem Schluß, daß Joseph vielleicht gar nicht so unrecht hatte, wie er, Angus, anfangs geglaubt hatte. Außerdem sah er ein, daß es der alte Fischer nur gut mit ihm meinte und ihn wirklich gern zu haben schien. Denn wenn dem nicht so gewesen wäre, dann hätte Joseph auch nicht so lange geredet und gefragt, bis Angus selber zugegeben hatte, was der Fischer sowieso seit langem ahnte.
"Na, Kleiner, nicht, daß du mir morgen beim Fischen vor lauter Müdigkeit über Bord gehst!" Die tiefe, doch ruhige, freundliche und vertraute Stimme des Fischers riß Angus urplötzlich aus seinen Gedanken und er sprang erschrocken auf die Füße. "Keine Bange, ich verstehe dich schon, daß du mal deine Ruhe brauchtest zum Überlegen. Deswegen brauchst du wirklich nicht so zu erschrecken. Jetzt komm zurück in die Hütte und leg dich schlafen. Oder bist du noch nicht fertig mit nachdenken?"
"Doch, ich glaube schon", erwiderte Angus und folgte Joseph, obwohl er in der Zwischenzeit den Weg zur Hütte auch alleine fand.

Am nächsten Morgen beim Frühstück fragte Joseph ganz unerwartet, ob Angus nicht mal einen Tag dableiben wolle, um ein wenig durch die Stadt zu stromern. Anfangs wollte Angus ablehnen, überlegte es sich jedoch dann und nahm das Angebot an.
Erst lief er eine Weile am Strand entlang, ging in völliger Dunkelheit im eiskalten Wasser schwimmen und warf sich dann in den Sand. Dort blieb er liegen, bis die Sonne aufging. Irgendwann wurde ihm das faule Herumliegen langweilig und er lief in Richtung Stadt. Gelangweilt schlenderte er durch die Stadt, einmal hier stehenbleibend, einmal dort stehenbleibend. So durchquerte er einige Zeit die Straßen von Atlantis, bis er plötzlich hinter sich ein Knurren und Bellen hörte. Im Davonlaufen drehte er sich um und erblickte einen Hund, größer als eine Kuh. Zwar war dieser hinter einem Zaun, doch konnte man ja nie wissen, ob er den nicht ohne Probleme überspringen konnte!
Kreuz und quer jagte Angus durch die Stadt, bis er auf einmal vor der Hütte stand. Er hatte selbst nicht bemerkt, daß er automatisch hierher zurückgerannt war. Verstohlen schaute er hinter sich, doch natürlich war niemand und nichts hinter ihm. Völlig außer Atem betrat er den kleinen Raum und ließ sich in den Kissenhaufen fallen.

"Ich dachte, du seist in die Stadt gegangen. Und stattdessen liegst du hier und schläfst", lachte der Fischer, der die Fische schon auf dem Markt eingetauscht hatte. Verschlafen rieb sich Angus die Augen und murmelte: "Ja, ich war auch in der Stadt. Aber als mich von hinten ganz unerwartet ein Hund anknurrte und anbellte, da bin ich wie von wilden Tieren gehetzt weggerannt und landete hier vor dem Haus. Aber der Hund sah auch zum Fürchten aus. Er war riesig, und außerdem habe ich so eine Angst vor Hunden!"
"Es gibt nur einen Hund auf Atlantis: Zerberus. Den hält sich Merlin als Haustier, weil er meint, daß sogar der Wächter der Unterwelt ganz zahm sein kann, wenn man mit ihm vernünftig umgeht. Ach ja, ich erinnere mich noch gut daran, als du das erste Mal herkamst. Da warst du gerade mal zehn Jahre alt. Und jetzt, jetzt bist du ..." Joseph zögerte, weil er sich nicht sicher war, wie alt Angus nun war.
"dreizehn", half er ihm.
"Genau, dreizehn Jahre alt", erinnerte sich Joseph und nickte. "Ich habe es nur vergessen, weil wir hier ja nicht in Tagen oder Jahren rechnen. Aber es ist merkwürdig, daß du dich auch, wenn du auf Atlantis bist, vor Hunden fürchtest. Denn eigentlich legt man hier alle seine Schwächen ab. Aber vermutlich haben dir Hunde irgendwann einmal solch eine panische Angst gemacht, daß du die noch nicht einmal in deinen Träumen ablegen kannst. Komischerweise merkst du beispielsweise von deiner Kurzsichtigkeit, von der du mir mal erzählt hast, bei uns überhaupt nichts. Ist dir das eigentlich schon mal aufgefallen?"
"Nein, aber jetzt, wo du es sagst, bin ich ganz froh, daß es so ist."
Später beim Essen sagte Joseph ganz unvermittelt: "Um nochmal auf die Sache mit deinen Eltern zurückzukommen: Wenn dein Dad irgendwann ausziehen sollte, gehst du dann mit ihm mit oder bleibst du bei deiner Mutter?"
"Wie kommst du da jetzt drauf?" erkundigte sich Angus erstaunt, da er auf dieses Thema gerade überhaupt nicht vorbereitet gewesen war.
"Naja, ich mache mir schon ein bißchen Sorgen um dich, weißt du? Und ich glaube, daß du dich mit deinem Daddy noch besser verstehst als mit deiner Mutter. Du sprichst zwar nicht sehr häufig über solche Sachen, aber gerade, weil du nicht drüber sprichst, erzählst du eine ganze Menge. Denn wenn du dann irgendwann etwas, für dich Unbedeutendes sagst, dann erzählst du dadurch sehr viel. Das ist Psychologie. Nur manchen Leuten fällt das überhaupt nicht auf oder sie wollen es nicht hören. Doch ich bin in solchen Dingen schon etwas hellhöriger."
"Ich weiß nicht, ob ich bei meiner Mutter bleiben würde oder ob ich zu meinem Daddy ziehen würde", gab Angus ehrlich zu, weil er sich darüber noch nie Gedanken gemacht hatte. Innerlich hoffte er immer noch inständig, daß seine Eltern sich wieder versöhnen könnten. Doch sein Verstand sagte ihm, daß sie das wohl nicht schaffen würden.

Und wirklich: Der Streit zwischen Angus' Eltern spitzte sich von Monat zu Monat zu. Und als Angus dann in der achten Klasse war, trennten sich seine Eltern nach wochenlangen, endlosen Streitereien endgültig: Mr Brooches zog aus und nahm sich eine Wohnung in der Stadt.

Als Angus Joseph davon erzählte, fragte der ihn: "Und, wo wohnst du jetzt?"
"Bei meiner Mutter", antwortete Angus wahrheitsgemäß.
Joseph brummte nur unwillig.
"Was ist?" fragte der Junge ihn.
"Es ist nichts. Ich halte mich da besser raus", erwiderte er.
"Nein, sag bitte, was du sagen wolltest", bat Angus ihn.
Also sagte Joseph: "Auch, wenn du es mir nun übelnimmst - ich könnte es dir nicht einmal verdenken -, dann sage ich dir, daß ich der Meinung bin, du solltest besser zu deinem Vater ziehen. Da wärst du sehr viel besser aufgehoben."
Erst schaute Angus ihn nur sprachlos an, fragte dann jedoch: "Wieso?"
"Weil ich glaube, daß du dich mit deinem Vater immer noch besser verstehst als mit deiner Mutter. Außerdem könntest du dann mehr Zeit mit ihm verbringen, und er könnte vielleicht auch sehr viel mehr mit dir machen und seine begangenen Fehler versuchen auszumerzen. Aber es ist dein Leben. Du mußt wissen, was du tust. Ich kann dir da beim besten Willen nicht reinreden. Und ich will es auch gar nicht. Das ist nur meine persönliche Meinung, und du hast mich gebeten, sie auszusprechen. Mehr nicht."
"Das verstehe ich nicht", meinte Angus nach einer langen Pause.
"Du wirst es eines Tages verstehen", antwortete ihm der Fischer nur.

Doch Angus blieb bei seiner Mutter wohnen. Der Fischer hatte es sich nicht anders gedacht, verlor über diese Sache jedoch kein weiteres Wort mehr.

Als Angus gegen Ende der achten Klasse eines Morgens an seinem Klassenkameraden Matthew Sunston vorbeiging, grüßte dieser ihn kaum, was für ihn eigentlich völlig untypisch war. Sofort blieb Angus stehen und fragte: "Hey, Matt, was ist los?"
"Es ist nichts", wehrte Matthew ab, doch man merkte ihm ganz offensichtlich an, daß etwas nicht stimmte.
"Na komm, jetzt sag schon", drängte Angus ihn.
"Nein, es ist nichts. Ich mag halt nicht drüber reden", brummte Matthew.
"Ach komm, ich mag's nicht, wenn du schlechte Laune hast", redete Angus einfach weiter auf ihn ein.
Irgendwann gab Matthew daraufhin doch nach: "O.K., O.K. Können wir heute Mittag nach dem Essen mal reden?"
"Klar, wann und wo?"
"Um viertel vor eins drüben am Musikzimmer", ordnete Matthew an.
"Geht klar."
Nach dem Mittagessen beeilte sich Angus, rüber in den Neubau zu gehen. Dort angekommen, brachte er gerade mal seine Schulsachen in den Studiersaal seiner Klasse und ging anschließend sofort runter ins Erdgeschoß zum Musikraum, vor dem Matthew bereits ungeduldig auf ihn wartete.
"Kommst du auch nochmal?" fragte er ihn etwas unfreundlich, was Angus aber großzügig überhörte.
"Also, warum hattest du heute morgen so schlechte Laune?"
"Gehen wir erst rein, dann erzähle ich dir, was los ist", entgegnete Matthew und öffnete die Tür.
Nachdem sich beide Jungen hingesetzt hatten, begann Matthew: "Ich hatte gestern Abend ziemlichen Ärger mit meinen Eltern. Solchen Krach, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Es ging mal wieder um meine schlechten Noten. Und irgendwann hat mir mein Vater im Eifer des Gefechts an den Kopf geschmissen, daß ich nur noch ein kleines Stück weitermachen bräuchte, damit sie mich endgültig ins Internat stecken würden."
"Ach, komm, du kennst deine Eltern. Sei froh, daß deine nicht getrennt leben."
"Wieso, gab's mal wieder Ärger mit deiner Mutter?" Sofort hatte Matthew seine eigenen Sorgen vergessen. Er kannte die Situation bei seinem Freund zu Hause und hatte schon oft genug versucht, ihn davon zu überzeugen, endlich zu seinem Vater zu ziehen.
Mitfühlend legte er Angus die Hand auf den Rücken. "Aua!" schrie der auf und schüttelte die Hand ab. "Das tat höllisch weh!"
Ohne zu fragen, zog Matthew Angus' T-Shirt vorsichtig ein Stück hoch und stutzte. "Der ganze Rücken ist ja rot und voller Striemen. Überall sind offene Stellen. Hat sie dich gestern Abend wieder verprügelt?"
"Vorgestern und gestern", brachte Angus zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Als wir vorgestern Mathe rausbekommen haben und weil ich gestern zu spät nach Hause gekommen bin."
"Angus, bitte zieh endlich zu deinem Vater. So geht's nicht mehr weiter. Das weißt du so gut wie ich. Sonst gehe ich zum Jugendamt und zeige deine Mutter wegen Kindesmißhandlung und Körperverletzung an, das schwöre ich dir."
"Ach, ich brauche mich ja nur richtig zu benehmen und vernünftige Noten nach Hause zu bringen. Dann läuft alles wie geschmiert. Ich hab sie gestern Abend ja auch noch ziemlich angemeckert."
"Ja, klar, gib dir die Schuld. Kein Problem. Ich sag dir nur eins: Wenn du nicht bald zu deinem Vater ziehst, kündige ich dir die Freundschaft. Dann waren wir die längste Zeit befreundet. Verstanden?"
"Das mit dem Umzug zu meinem Vater kann ich dir nicht versprechen", erwiderte Angus zerknirscht.
"Du weißt, was sonst passiert!"
Natürlich hätte Matthew seinen besten Freund niemals wegen so etwas im Stich gelassen. Aber mit irgend etwas mußte er doch versuchen, ihn unter Druck zu setzen. Wie oft war es denn im vergangenen Vierteljahr schon wieder vorgekommen, daß Angus völlig zerschlagen und voller Striemen am Rücken in die Schule gekommen war?, - und alles nur wegen ein paar dämlicher Schulnoten!
Während der Studierzeit erhielt Matt von Angus ein Briefchen. Darin stand:
"Lieber Matt!
Ich kann meine Mutter nicht einfach so im Stich lassen. Im Grunde genommen liebt sie mich doch genauso, wie ich sie auch. Sie konnte es nur noch nie so gut zeigen. Und das mit den Schlägen ist halb so schlimm. Eine gute Salbe hilft schnell. Außerdem heilt die Zeit Wunden, das weißt Du ja!
Entschuldige, wenn ich Dich mit meiner Entscheidung nun verärgert habe, aber versuche mich bitte zu verstehen.
Hoffentlich bleibst Du weiterhin mit mir befreundet!
Angus"
Am nächsten Tag schrieb Matthew Angus eine Antwort während des Unterrichts zurück:
"Lieber Angus,
manchmal werde ich einfach nicht schlau aus Dir. Wie kann man freiwillig bei einem Menschen wohnen bleiben, der einen regelmäßig verprügelt? Naja, es ist Deine Entscheidung. Aber keine Angst, wir bleiben trotzdem Freunde. Immerhin muß ich auf Dich aufpassen, damit Du Dich nicht völlig kaputtmachst!
Matt"
Als Angus den Brief erhalten und ihn einige Male unmerklich studiert hatte, sah er zu Matthew hinüber und grinste ihn breit an. Kurz darauf kam ein Kurzbrief von ihm:
"Tja, Matt, aus manchen Menschen wird man niemals ganz schlau. Zu denen gehöre ich auch. Darauf bin ich auch ganz stolz.
A."

Bei seinem Besuch am Abend auf Atlantis erzählte Angus Joseph von der eindringlichen Bitte, die Matthew an ihn gerichtet hatte.
"Und?" fragte Joseph interessiert. "Was hast du ihm geantwortet?"
"Ich habe ihm gesagt, daß ich bei meiner Mutter wohnen bleiben werde, weil sie mich im Grunde genommen genauso liebt, wie ich sie. Ich glaube, er hat es verstanden. Aber besorgt schien er mir doch zu sein."
"Wärst du das nicht, wenn du deinem besten Freund raten würdest, zu seinem Vater zu ziehen, weil er zu Hause bei seiner Mutter ständig mit Gemeckere und Schlägen rechnen muß? Er jedoch würde antworten, daß er lieber bei seiner Mutter bliebe? Würdest du da nicht auch besorgt sein?"
"Doch, ja, ich glaube schon. Aber glaubt er denn etwa, daß ich meine Mutter so einfach im Stich lassen könnte?"
"Nein. Genau deswegen hat er dich ja gebeten. Ich kenne Matthew zwar nur aus deinen Erzählungen, aber das, was ich von ihm kennengelernt habe, zeigt mir, daß er dich anscheinend unwahrscheinlich gern mag. Und ich kann mir sogar denken, weshalb er dich gebeten hat: Weil er fürchtet, daß du eines Tages Dummheiten machen könntest, wenn du bei deiner Mutter wohnen bleibst. Und vielleicht ahnt er, daß du irgendwann noch ernstlich unter deiner Mutter leiden könntest. Nicht nur körperlich, seelisch, meine ich. Das ist meine Meinung zu dem Thema."
Angus wechselte nun den Gesprächsstoff, weil ihm etwas eingefallen war, was er jetzt sehr wichtig zu finden schien: "Wenn ich eines Tages für immer auf Atlantis leben werde, welchen Beruf werde ich dann hier haben?"
"Das ist deine freie Entscheidung. Natürlich kannst du auch meine Arbeit weiterführen, mußt es aber natürlich nicht."
"Wieso deine Arbeit weiterführen? Bist du denn nicht weiterhin da?"
"Doch, aber nur, bis du nach Atlantis kommst. So sorgen die Atlantiker dafür, daß Atlantis nicht irgendwann überläuft. Denen, die hierherkommen, wird auf Atlantis nichts genommen von allem, was sie besitzen. Nur die Menschen, durch die sie gelernt haen, sich hier auszukennen, müssen sie entbehren. Das ist eine Art kleine Aufnahmeprüfung."

Angus überlegte sich zwar noch einmal in Sachen Umzug die Worte Matthews und auch die Josephs, entschied sich schließlich aber doch für seine Mutter.

Obwohl Matthew es eigentlich im Spaß angedroht hatte, hielt sich natürlich die Freundschaft zwischen ihm und Angus.

Als Angus in der dreizehnten Klasse war und eines Tages im Aufenthaltsraum auf den Beginn der nächsten Stunde wartete, erschien plötzlich Joseph in dem sonst leeren Raum.
Zuerst wußte Angus nicht, wie das sein konnte. Dann aber fühlte und verstand er, daß der Augenblick, den er als Junge so herbeigesehnt hatte, gekommen war: Er würde ab sofort für immer auf Atlantis leben können.
Ohne, daß Joseph ein Wort hätte sagen brauchen, stand Angus auf und folgte ihm.

 

Phantastische Geschichte!
Gut formuliert und liest sich wunderbar. Und Fehler hab ich jetzt beim ersten durchlesen auch nicht gefunden.

Richtig gefesselt hat mich das Ding.
Vielleicht, weil ich manchmal ähnliche Gedanken habe... :)
Und schreibe. *g*

Ne, aber allen Respekt!
Ich könnt stunden... tage... monatelang solche Geschichten lesen. Die können für mich gar nicht lang genug sein.

Both thumbs up! *g*

 

Hallo Nuts-der-Maulwurf,

normalerweise mag ich es nicht, wenn ein Autor bei einer Kurzgeschichte ausschweift. Wie du es zum Beispiel am Anfang tust. Bei deiner Geschichte passt dieses weite Ausholen aber. Gut gemacht. (Hm - was für eine Sprache ist "britisch" eigentlich? ;) )

Stilistisch gut lesbar. Schlecht ist jedoch der übermäßige Gebrauch von Konjunktionen. Achte einfach mal die Sätze, die du zum Beispiel mit "und" verbindest.
Der Inhalt gefällt mir selbst nicht. Dafür bekommst du keinen Innovationspreis. Geschichten, in denen der Protagonist von einer besseren Welt träumt, gibt es haufenweise.

Klaus

 

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