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Das letzte Drängen

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10.08.2006
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Das letzte Drängen

Als man sie fand, hingen ihre Haare in einer Kaffeelache.
Silbergraue Strähnen, von denen braune Tropfen gemächlich auf eine rotkarierte Plastiktischdecke fielen.
Ihre dunklen Augen, denen in früheren Zeiten kein Verehrer widerstehen konnte, blickten starr und kalt zu Boden. Sirenengeheul. Hundegebell.
Die heiße Mittagssonne fiel durch dünne Milchglasscheiben und tauchte ihren schmalen Körper in sanftes Streulicht. Autolärm vermischte sich mit Kindergeschrei, alles wie immer. Bis auf die Tatsache, dass es nur noch ihren leblosen Körper gab, als das letzte sichtbare Zeichen ihrer Existenz, an diesem Punkt der Erde.
Sie hätte nicht gedacht, dass ihr Leben einen solch gnädigen Tod finden würde.
Sogar die Zigarette durfte sie noch zu Ende rauchen. Erst dann platzte die Ader, erst dann fiel ihr Körper über den Frühstückstisch, aber das bekam sie schon nicht mehr mit. Warmer Wind wehte von der offenen Küchentür herein und entschwand durchs gekippte Fenster. Wohin? Was nahm er mit? Ihren letzten Atemzug?
Ihr gelber Fingernagel, der nach Norden zeigte, ward Ruhepol und Sprungbrett für eine einsame Fliege, die unschlüssig, ob sie der Weisung folgen sollte, die Augen in alle Richtungen verdrehte.
„Alles hat seinen Zweck.“
Dachte sie.
Würden wir wissen welcher Zustand sich einstellt, nachdem wir reglos auf die letzte Entsorgung warten, nichts würde uns davon abhalten, den Freitod zu wählen.
„Alles hat seine Zeit“.
Verstand sie.
„Es ist so großartig wie das Wechseln von Tag zu Nacht“, flüsterte sie den Leichenträgern ins Ohr. Türenschlagen. Fluchen.
Nachbarn starrten der Holzkiste hinterher.
„Es ist sinnvoll“, lächelte sie , ihr Kopf flog in eine Ecke des Sarges. „Es ist sinnvoll und richtig!“ Reifenquietschen. Jemand zog die Vorhänge zu.
Sie fühlte einen Sog, eine leichte Brise, sie begriff. Ein Geschenk! Das Begreifen, die Belohnung! Sie gab dem Drängen nach, das sie umrauschte. „Es ist alles so klar“, rief sie den Vögeln zwischen den Wolken, den Straßenkötern, die im Abfall wühlten, den spielenden Kindern vor den Häusern, den traurigen Alten mit den trüben Augen, den verliebten Pärchen in den Parks, hinterher.
Als man sie verbrannte, regnete es und ein leises Lachen perlte zwischen den Tropfen.

 

Hi enfant perdu,

einen hübschen, kleinen poetischen Namen hast du da. Willkommen im Forum. :anstoss:

Viel zum Inhalt sagen lässt sich nicht, es gibt einfach nicht besonder viel davon, es ist wohl eher eine Stimmung, die du einfangen möchtest. Das gelingt dir, denke ich, recht gut: Die vielen Details und Beobachtungen sorgen für eine dichte Atmosphäre. Für meinen Geschmack hast du am Anfang ein paar Adjektive zu viel, der zweite Satz ist etwas bunt und hier

Die heiße Mittagssonne fiel durch dünne Milchglasscheiben und tauchte ihren schmalen Körper in sanftes Streulicht.

muss man sicher auch nicht jedes Substantiv näher beschreiben. Die beiden stärksten Adjektive behalten, die anderen würde ich streichen.

Ihr gelber Fingernagel, der nach Norden zeigte, ward Ruhepol und Sprungbrett für eine einsame Fliege
"Ward" klingt immer etwas veraltet, das will nicht zum restlichen Text passen - ist aber nur ein Gefühl.

Alles in allem: Schön detaillierte, melancholische Kurzweil.

 

Hi Ramujan,

vielen Dank für Deine Antwort. Deshalb habe ich mich hier angemeldet, weil
ich zuweilen die Kritiken, die abgegeben werden, detalliert und interessant finde.
Der zweite Satz ist wirklich zu bunt! War mir nicht aufgefallen.
Danke! Schönen Tag!
ep

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich halte die Geschichte nicht für Inhaltsarm. Ob bewußt gemacht oder nicht, arbeitet der Autor mit dem Ergebnis, nämlich daß der Tod ohne eigenen Vorsatz eine sehr schöne Sache und durchaus vorfreudeberechtigt ist, wunderbar mit den individuellen Wegen und Erlebnissen, die den Leser zu bis hierher geführt haben. Jeder hat eigene Motive, Anliegen und Beweggründe an diesen Punkt zu kommen, das ist das Wesen des Individuums. Aber über das Ergebnis spricht er trotzdem viele damit an.
Genauso könnte man den Aufruf hineininterpretieren, sich mit diesem gesellschaflich eher verschwiegenem Thema auseinanderzusetzen. Die von niemandem hörbare Stimme; das Vorziehen der Vorhänge und das sich vor dem Thema verstecken. Kurz: durch Ignoranz das ganze Verdrängen.
Ich finde sie nicht zu flach.
Aus persönlicher sicht, würde ich mit diesem unglaublich interessanten Thema aber eine bedeutend längere Geschichte widmen, auch wenn dadurch Universellität auf die einzelnen Leser weiter eingeschränkt werden würde. Vielleicht sollte der Autor selbst schreiben, was genau er bezwecken wollte, oder ob nur das mächtige Gefühl, den Eindruck schildern wollte.

 

Zu der philosophischen Ratte:

Ich ändere es nicht, weil ich es bunt mag! Mir ist durch die Kritik von Ramujan lediglich aufgefallen, dass es bunt ist und anderen zu bunt sein kann/könnte.

 
Zuletzt bearbeitet:

Zu Hugin,

ich glaube mit inhaltsarm hat Ramujan die fehlende Handlung gemeint. Es passiert ja wirklich nicht viel, ist es doch eher eine Betrachtung. Die äußerliche: Eine Frau liegt zusammengebrochen auf ihrem Küchentisch. Sie ist gestorben. Am Rande kriegt man mit, wie sie abtransportiert wird.
Die innerliche: Im Sterben erkennt sie den Kreislauf von Leben und Tod, erhält ein umfassendes Verständnis sowohl für das Sterben als auch für das Leben. Und das stimmt sie heiter.
So stelle ich (die Autorin) mir im Übrigen den Tod vor: zitronengelb und er riecht nach Vanille...Nein, aber ich bin davon überzeugt, dass wir beim Hinübergehen alles verstehen werden, was mich äußerst fröhlich stimmt.


Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren und allen ein schönes Wochenende!
ep

 

Hallo Enfant perdu,

nur ganz kurz, weil ich weg muss: hat mir gut gefallen, die äußere und innere Handlungsebene, dichte Atmosphäre, positive Aussage. Eine Geschichte, die man zwischendurch lesen sollte, wenn man Trost braucht.

Gruß, Elisha

 

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