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Das letzte Drängen
Als man sie fand, hingen ihre Haare in einer Kaffeelache.
Silbergraue Strähnen, von denen braune Tropfen gemächlich auf eine rotkarierte Plastiktischdecke fielen.
Ihre dunklen Augen, denen in früheren Zeiten kein Verehrer widerstehen konnte, blickten starr und kalt zu Boden. Sirenengeheul. Hundegebell.
Die heiße Mittagssonne fiel durch dünne Milchglasscheiben und tauchte ihren schmalen Körper in sanftes Streulicht. Autolärm vermischte sich mit Kindergeschrei, alles wie immer. Bis auf die Tatsache, dass es nur noch ihren leblosen Körper gab, als das letzte sichtbare Zeichen ihrer Existenz, an diesem Punkt der Erde.
Sie hätte nicht gedacht, dass ihr Leben einen solch gnädigen Tod finden würde.
Sogar die Zigarette durfte sie noch zu Ende rauchen. Erst dann platzte die Ader, erst dann fiel ihr Körper über den Frühstückstisch, aber das bekam sie schon nicht mehr mit. Warmer Wind wehte von der offenen Küchentür herein und entschwand durchs gekippte Fenster. Wohin? Was nahm er mit? Ihren letzten Atemzug?
Ihr gelber Fingernagel, der nach Norden zeigte, ward Ruhepol und Sprungbrett für eine einsame Fliege, die unschlüssig, ob sie der Weisung folgen sollte, die Augen in alle Richtungen verdrehte.
„Alles hat seinen Zweck.“
Dachte sie.
Würden wir wissen welcher Zustand sich einstellt, nachdem wir reglos auf die letzte Entsorgung warten, nichts würde uns davon abhalten, den Freitod zu wählen.
„Alles hat seine Zeit“.
Verstand sie.
„Es ist so großartig wie das Wechseln von Tag zu Nacht“, flüsterte sie den Leichenträgern ins Ohr. Türenschlagen. Fluchen.
Nachbarn starrten der Holzkiste hinterher.
„Es ist sinnvoll“, lächelte sie , ihr Kopf flog in eine Ecke des Sarges. „Es ist sinnvoll und richtig!“ Reifenquietschen. Jemand zog die Vorhänge zu.
Sie fühlte einen Sog, eine leichte Brise, sie begriff. Ein Geschenk! Das Begreifen, die Belohnung! Sie gab dem Drängen nach, das sie umrauschte. „Es ist alles so klar“, rief sie den Vögeln zwischen den Wolken, den Straßenkötern, die im Abfall wühlten, den spielenden Kindern vor den Häusern, den traurigen Alten mit den trüben Augen, den verliebten Pärchen in den Parks, hinterher.
Als man sie verbrannte, regnete es und ein leises Lachen perlte zwischen den Tropfen.