Das Mädchen und der Tod
Plötzlich war es still. Die Musik hatte aufgehört zu spielen. Ich blickte von meiner Arbeit hoch in das Gesicht von Madame Dupres. Es war starr. War es wieder soweit? Ich ließ meinen Blick durch den Raum gleiten. Alle schienen eingefroren zu sein. Niemand bewegte sich. Kein Blinzeln, kein Zucken, kein Herzschlag. Nichts. Madame Dupres und ich hatten gerade im Aufenthaltsraum sauber gemacht. Jetzt stand sie vor mir. Regungslos. Ich schluckte. Wo war er? Lange hatte es diesmal gedauert! Schnell ging ich aus dem Aufenthaltsraum und blickte mich um. Wieder nichts. Ich traute mich nicht, zu rufen. Das hatte ja sowieso keinen Zweck. Langsam ging ich die Treppen zu den Zimmern der Alten hoch. Hier musste er sein. Ich ging an zwei älteren Herren vorbei, die neu eingezogen waren. Oben angekommen glaubte ich, mein Herz in meinen Ohren schlagen zu hören. Meine Knie zitterten. Wo bist du? Vorsichtig öffnete ich die Tür in Madame Cotillards Zimmer. Sie war die letzten Wochen schwer krank gewesen und der Arzt sah keine Aussicht auf Besserung. War er bei ihr? Schwerfällig öffnete sich die Tür. Nichts. Madame Cotillard lag unverändert in ihrem Zimmer. Alleine.
„Suchst Du mich?“
Blitzschnell drehte ich mich um. Er lehnte am Treppengelände, die Beine leicht überkreuzt und sah mir direkt in die Augen.
„Lange ist es her, nicht wahr, Sophie?“
Ich schluckte und nickte. Wie lange war es her? Zwei, vielleicht drei Jahre? Dabei hatte ich doch die Arbeitsstelle im Altenheim nur deswegen angenommen, um ihn öfter sehen zu können. Seit meiner Kindheit waren dies die Höhepunkte meines Lebens.
Ich erinnerte mich, als ich ihn das erste Mal sah. Ich war ein Kind. Nicht älter als vier Jahre. Damals hatten meine Eltern den furchtbaren Unfall.
„Ich habe dich vermisst,“ stotterte ich.
Er lächelte. Meine Nervosität versiegte augenblicklich. Trotzdem ließen seine grünen Augen nicht von mir ab. Sein Blick fixierte mich. Wie ein Löwe eine Gazelle fixiert. Gierig.
„Ich habe dich auch vermisst.“ Hauchte er mit einer Stimme, die alles von einem verlangen könnte. Alles. Ich musste schlucken. Meine Knie wurden weich. So wie jedes Mal – seit jenem schrecklich glücklichen Augenblick, an dem ich ihn das erste Mal sah. Aber niemand glaubte mir damals.
„Ich habe Dich sogar sehr vermisst.“ Er ging auf mich zu und stoppte knapp vor mir. Langsam beugte er sich zu mir herab. „Ich bin einsam, Sophie,“ flüsterte er in mein Ohr.
„Einsam,“ wiederholte ich. Ich war auch einsam. Das wusste er. Nichts habe ich mir mehr in meinem Leben gewünscht, als bei ihm zu sein. Ich hatte auch schon alles ausprobiert. Übermässiger Drogenkonsum, zu schnelle Autofahrten. Immer saß er links neben mir, aber er nahm mich nie mit sich mit. Ich hatte ihn regelrecht angefleht, aber er scholt mich. Meine Zeit war noch nicht gekommen. Wenn ich mich selber umbringen würde, käme jemand anderer, um mich zu holen, sagte er. Nicht er.
„Du bist etwas Besonderes, Sophie.“ Er lächelte und richtete sich wieder auf. Dabei strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du kannst mich sehen.“ In seiner Stimme lag immer noch Erstaunen. „Seitdem Du meine Eltern begleitet hast.“ Ich nickte. Er schien mir damals als Engel. Er hatte mit seinen starken Armen meine Eltern gestützt und ihnen geholfen, in das helle Licht zu gelangen. Als er sich umblickte, hatte er genau in meine Augen gesehen. In die Augen eines Mädchens, die eindeutig ihn und niemanden anderen fixierten. Seine Verwunderung konnte ich schon damals erkennen. Seit dieser Minute konnte ich seine Augen nicht mehr vergessen. Tag und Nacht träumte ich von diesen Augen.
Ich wollte ihn spüren und griff nach seiner Hand. Sie fühlte sich kalt und hart an.
„Wie lange hast Du Zeit?“ meine Augen flehten ihn an, bei mir zu bleiben, aber seine Augen entflohen meinem Blick.
„Was wünscht Du dir von Deinem Leben?“ Er trat einen Schritt zurück und zog seine Hand zurück. „Leben? Ich habe es satt!“ ich fuhr herum. „Jeden Augenblick wünschte ich mir, ich könnte Dich sehen und immer bei Dir sein.“ Ich wurde ruhiger. „Das ist mein einziger Wunsch. Bei dir sein.“
Er lächelte. „Bei mir sein?“ er seufzte. „Das ist ein zu harter Weg.“
„Was muss ich machen?“ Hoffnung stieg in mir auf.
Stille. Herzzerreißende Stille. Er sollte etwas sagen… bitte.
„Du darfst nicht ins Licht sehen.“ Er senkte den Kopf.
„Nicht ins Licht? Wie soll das gehen? Das Licht ist dann doch überall.“ Ich verstand nicht.
Er schüttelte den Kopf. „Nicht überall. Ich werfe einen Schatten...“ er stoppte.
„…und?“
„Und du wirst Dein Leben in einem großen Schatten an dir vorbeiziehen sehen. Du wirst dich nur an die schweren Zeiten erinnern können.“
„Hatte ich jemals andere Zeiten?“ ungeschickt brachte ich ein Lächeln zu Stande. War das wirklich alles? „Aber wann ist es soweit? Muss ich noch lange warten?“ ich seufzte.
Er blickte mich an und reichte mir beide Hände. Plötzlich fühlte ich, wie die Hände wärmer wurden. Sie wurden wärmer und weicher. Was geschah? Ich spürte einen leichten Schmerz in meinem Kopf.
„Du hast ein Aneurysma… in deinem Kopf… es ist gerissen.“ Seine tiefe Stimme trug mich. Ich schloss die Augen.
„Ich bin heute wegen Dir gekommen, Sophie.“ Zitterte seine Stimme? „Endlich.“ Er trat noch näher an mich und umarmte mich. „Ich liebe Dich.“ flüstere er. „Dir wird nichts passieren.“ Ich schmiegte mich so fest ich konnte an ihn. Er wurde immer wärmer, sein Körper fühlte sich zunehmend lebendiger an. Ich öffnete meine Augen. Langsam wurde es hell um mich. Immer heller. Ich blickte in seine Augen. Sie waren voller Hoffnung. Hoffnung, nicht mehr alleine sein zu müssen. Nie wieder. Ich duckte mich und sein Schatten umschlang mich. Ich war frei.