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Das Maisfeld
Ich bremste und kam zum Stehen. Paul fuhr mir fast hinten rein.
»Was ist los?«, fragte er mich.
Ich schaute über die Schulter nach hinten und sagte »Wir sollten durch die Felder fahren. Außen rum dauert es ewig.«
Paul zog die Augenbrauen zusammen, runzelte die Stirn und drehte seinen Kopf zu dem Maisfeld neben dem Feldweg. Der Mais überragte uns um Längen.
»Wir dürfen nicht durch die Felder fahren«, sagte Paul und schaute wieder zu mir.
»Ja und?«
»Oma sagt, in den Feldern verschwinden Kinder.«
»So ein Schwachsinn«, entgegnete ich.
»Oma sagt, ihre beste Freundin ist in den Feldern verschwunden.«
Ich erinnerte mich an die Geschichten und schluckte meine Spucke hinunter. »Du bist so ein Schisser«, sagte ich möglichst lässig und bog in den Feldweg ein. Nach einigen Metern hielt ich wieder an und drehte mich um. Paul stand noch vor dem Feld. »Kommst du?«
»Kennst du überhaupt den Weg?«, rief er mir zu.
Ich verdrehte die Augen, zog mein Smartphone aus der Hosentasche und wedelte es durch die Luft. Paul drehte seinen Kopf, schaute in Richtung des Weges, der um die Felder führte. Er drehte sein Rad um 90 Grad, trat in die Pedale und fuhr mir entgegen. Die Sonne versank hinter den Bergen.
Paul fuhr hinter mir über den mit Pfützen übersäten Weg. Es ging einen Hügel hinauf. Ich schaltete einen Gang runter. Der Wind frischte auf. Der Mais raschelte.
»Immer noch Angst?«, fragte ich Paul.
»Können wir schneller fahren?«
Ich entgegnete nichts und lockerte meinen Griff um den Lenker. Wir gelangten an eine Kreuzung.
»Wo lang?«, wollte Paul wissen.
Ich zog mein Telefon aus der Hosentasche und tippte auf das Display. Ich tippte nochmal, hielt kurz inne. Ich tippte stärker auf das Display, drückte auf die Seitentaste. «Der Akku ist leer.«
»Dein Ernst?«, entfuhr es Paul. Er holte sein Telefon heraus und atmete hörbar ein- und aus. »Nach rechts«, sagte er und fuhr los. Ich folgte ihm mit einigem Abstand. Wir fuhren wieder bergab. Paul trat in die Pedale, beschleunigte und verschwand hinter der nächsten Kurve.
»Warte auf mich«, rief ich ihm nach und ließ mich rollen. Ich bog ebenfalls um die Kurve. Keine Spur von Paul. Ich hielt an, sah mich um. »Paul?«, rief ich. »Paul?« Der Mais raschelte im Wind. Ich spürte mein Herz schlagen, mein Bauch verkrampfte sich. Ich raste los, schaltete in einen höheren Gang, fuhr im Stehen, bis ich an der nächsten Kreuzung bremste.
»Da bist du ja«, sagte Paul, der um die Ecke stand. »Wir müssen wieder nach rechts«, ergänzte er.
Mein Bauch entspannte sich wieder und mein Puls verlangsamte sich. Ich schaltete die Fahrradlampe ein, wartete nicht auf Paul und beschleunigte. Ich begann zu schwitzen, atmete durch den Mund und ignorierte meine schweren Oberschenkel. Wann sind wir endlich aus diesem scheiß Feld raus?, ging es mir durch den Kopf. Ich verlor mich weiter in meinen Gedanken, fuhr im Autopilot. Erst an der nächsten Abzweigung nahm ich meine Umgebung wieder wahr. »Wo lang jetzt?«, fragte ich nach hinten, drehte mich um und schaute ins Dunkel. Mein Bauch verkrampfte sich, mein Herz begann zu rasen. Wo ist Paul? Ich wendete mein Fahrrad und fuhr den Weg zurück. Das Licht am Rad flackerte. »Paul? Paul!«, schrie ich. Der Mais raschelte im Wind. Ich drehte mich hektisch in alle Richtungen. Ich zog mein Telefon aus der Hose, tippte wild auf das Display, versuchte es einzuschalten. Erfolglos.
Meine Fahrradleuchte gab den Geist auf. Ich sah das nächste Schlagloch nicht kommen und stürzte. «Scheiße«, entfuhr es mir. Ich blieb kurz liegen und kniete mich anschließend hin. Ich tastete erfolglos nach meinem Rad. Ich dehnte meine Suche aus, schlug links und rechts mit den Händen auf den Boden, doch spürte lediglich Wasser und Schlamm. Ich gab auf und spürte Panik in mir aufsteigen. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, beschloss ich, bis zum nächsten Morgen auszuharren. Ich tastete nach den Maispflanzen und zog mich zwischen diese zurück. Ich setzte mich hin, winkelte die Beine an und umklammerte sie. Ich zitterte am ganzen Körper. Der Mais raschelte im Wind.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag ich im Dreck zwischen den Maispflanzen. Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Dann fiel mir wieder ein, wo ich mich befand. Ich trat auf den Weg. Mein Rad lag einige Meter entfernt. Ich richtete es auf und machte mich auf den Weg zu unserer Oma. Als ich an der Kreuzung vorbeikam, an der ich Paul das letzte Mal gesehen hatte, sah ich sein Rad auf dem Weg liegen. Ich stoppte und rief “Paul!”. Die Maispflanzen schwiegen.