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Das Mondkind
*
„Komm schon Timmy, beeil dich ein bisschen. Wir sind bald da.“
Während Richard auf einer Waldlichtung stehen blieb um auf Timmy zu warten, blickte er hinauf in den Himmel.
Der Horizont war pechschwarz und von riesigen Wolken behangen. Hinter diesen finsteren Bauwerken fristete der Mond sein einsames Dasein.
Sein blasses Licht wurde aufgesaugt und von der Schwärze der Nacht verschlungen.
Es war ganz gewiss keine schöne Nacht, aber das sollte sie auch niemals werden...
Durch die hohen Baumwipfel raunte ein unheimlicher Wind.
Ab und zu konnte Richard das schrille Jaulen eines Waldbewohners vernehmen.
Dann war auch Timmy endlich angekommen und setzte sich völlig außer Atem auf das faulige Laub neben seinen Vater.
Der Brustkorb des kleinen Jungen senkte sich rasend schnell auf und nieder.
Sein dicker Körper litt noch immer unter der Anstrengung des Aufstieges.
Richard leuchtete mit seiner Taschenlampe über das Geländer und suchte den Eingang zur alten Bunkeranlage.
Er konnte ihn allerdings nicht ausmachen und war sich auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob die beiden hier überhaupt richtig waren.
Keine zweihundert Meter entfernt wurde er dann schließlich doch fündig und entdeckte eine schwere Eisenluke im Boden.
Richard lächelte erleichtert und streichelte seinem Sohn über den Kopf.
Dieser begann ausgelassen zu lachen und ein wenig Speichel tropfte ihm dabei aus dem Mund.
Sein Mondgesicht verformte sich zu einer irren Fratze und sein schrilles Gelächter schreckte ein paar Vögel auf, die laut schnatternd von dannen zogen.
Richard blickte den siebenjährigen Jungen an und schüttelte angeekelt den Kopf.
Womit hatte er das nur verdient?
Er erinnerte sich an die alten Zeiten. An seine Frau Kathryn die er so sehr geliebt hatte.
An Freunde und Familie, die ihn lange Zeit so kräftig unterstützt hatten.
Eine Träne kullerte seine Wange hinunter.
Kathryn war tot und seine Freunde hatten sich von ihm abgewendet.
Wer konnte es ihnen auch verübeln?
Seine geliebte Frau war bei Timmys Geburt gestorben.
Wie sehr hatten sich die beiden damals ein Kind gewünscht...
Richard machte ein paar Schritte auf das kreisförmige Loch zu und drehte das Ventil auf, das schwerfällig zu quietschen begann.
Er hatte seiner Frau versprochen sich um den kleinen zu kümmern. Ihn zu lieben...
Richard hatte es wirklich versucht. Er hatte sieben verdammte Jahre damit verschwendet dieses Kind lieben zu lernen.
Jetzt war er am Ende seiner Kräfte.
Er selber hatte sich auch verändert.
Mittlerweile war er krank, verbittert und einsam.
An diesem Punkt wollte er nicht mehr weiterexistieren.
Es musste etwas geschehen. Richard wollte endlich wieder anfangen zu leben.
Er war mittlerweile vierzig Jahre alt. Aus dem damals noch so vitalen jungen Mann war ein seelisches Wrack geworden, das immer nur darauf bedacht war seinen Sohn zu schützen.
Jetzt war es an ihm, sein Leben zurückzugewinnen.
Auch wenn er dafür ein anderes einfordern musste...
Richard schaute wieder seinen Sohn an, der mit spastischen Zuckungen durch die Gegend sprang und den Mond anbellte.
„Steig mal bitte da hinunter Timmy.“
Richard packte seinen Sohn am Arm und versuchte ihn zu beruhigen.
Dieser aber schnappte mit seinem Gebiss immer wieder nach den Händen des Vaters.
Wie ein kleiner Hund der spielen wollte...
„Verdammt Timmy wirst du wohl stillhalten...“
Richard packte nun etwas fester zu und wirbelte den dicken Jungen herum.
Timmy jaulte kurz auf, danach bohrten sich seine Milchzähne in Richards Handfläche.
Dieser riss seine Hand schreiend zur Seite, während Timmy unbeholfen nach vorne stolperte.
Dann begann der schwerbehinderte Junge wieder im Kreis herum zu springen und leckte sich dabei das Blut von den Zähnen.
Richard blickte seinen Sohn völlig angewidert an.
Dann verfinsterten sich seine Augen und er packte ihn brutal am Kragen.
Timmy war nach wie vor am Kreischen und sein Kiefer schnappte wild umher.
Richard gab seinem Sohn einen heftigen Stoß.
Timmy torkelte benommen nach hinten und viel dabei über seine eigenen Beine.
Ein dumpfer Aufprall war zu hören, als sein voluminöser Körper am Boden aufprallte.
Richard presste sich entsetzt die Hand vor den Mund als er begann einen Blick in das dunkle Loch zu werfen.
Von unten war ein lautes Jammern zu vernehmen. Richard freute sich darüber, dass sein Sohn noch schreien konnte und somit am leben war.
Aber warum war er so erleichtert darüber?
Timmy hätte sich bei dem Sturz das Genick brechen können...dann wäre doch alles gut gewesen.
Der Lichtkegel der Taschenlampe traf in etwa fünf Metern Entfernung den Boden.
Timmy schaute mit seinem Mondgesicht verwirrt und ängstlich nach oben. Aus seinem Mund triefte Speichel und seine milchigen Augen glänzten im Licht der Lampe wie zwei leuchtende Opale.
Er saß zusammengekauert am Boden und hielt sein rechtes Bein fest umschlossen.
Richard wusste das sein Sohn aus eigener Kraft nicht mehr nach oben kommen würde.
Dafür war er viel zu fett und ungelenk. Außerdem war er am Bein verletzt...
Richard spielte mit dem Gedanken, ihn einfach da unten liegen zu lassen...die Luke zu schließen und nach Hause zu gehen.
Aber diese Lösung erschien ihm einfach als zu unmenschlich.
Also machte er sich daran, die kurze Leiter hinunter zu klettern. Dann konnte er immer noch alles beenden...
Das Metall war kalt und nass. Ein dichtes Tuch aus Spinnenweben hing an der Wand und heftete sich augenblicklich an seinen Kopf.
Angeekelt strich er sich mit der Handfläche durch die Haare und durchs Gesicht.
Als er eine Kastaniengroße Spinne über seinen Arm huschen sah, entschloss er sich die letzten Meter einfach herunterzuspringen.
Ein wenig angeschlagen vom Aufprall ging Richard unglücklich zu Boden.
Sein linker Fußknöchel schmerzte ein wenig.
Er musste ihn sich beim Aufprall umgeknickt haben...
Timmy jedenfalls schien seine helle Freude an den Schmerzen seines Vater zu haben.
Er grinste ihm boshaft ins Gesicht und zog sich dann kriechend in die Dunkelheit zurück.
Richard griff nach der Taschenlampe und leuchtete in den hinteren Teil der Bunkeranlage.
Von der Decke trieften dicke Wassertropfen, die auf dem Boden einen dünnen Feuchtigkeitsfilm erzeugten.
Timmy saß hinten in der Ecke. Seine Arme presste er sich vor die Augen, um sie vor der plötzlichen Helligkeit zu schützen.
Richard hievte sich schwerfällig auf die Beine und machte ein paar Schritte auf seinen Sohn zu.
Die Decke war grade hoch genug für ihn, so das er sich beim laufen nicht ducken musste.
Nun griff er sich an den Hosenbund und entnahm ihm einen kleinen, dunklen Gegenstand.
Timmy schaute seinen Vater verwundert und ängstlich an. Sein schrilles Lachen war längst erstickt.
„Du musst keine Angst haben Kleiner...es ist gleich vorbei.“
Zitternd richtete Richard die Pistole auf den kleinen Jungen und entsicherte den Lauf.
Er zögerte...
„Bitte Timmy, mach es mir doch nicht so schwer...“
Richards Körper wurde von Weinkrämpfen gestraft...aus seinen Augen rannen Tränenflüsse.
Timmy saß nur da und starrte seinen Vater verwirrt an.
Sein Gesicht war auf einmal so entspannt...wirkte so verdammt menschlich.
Timmys Mund war immer noch leicht geöffnet. Der Speichel aber hatte aufgehört zu fließen.
Richard kniff seine Augen zusammen und straffe seine Glieder.
„Verdammt Sohn, ich will doch einfach nur frei sein!“
*
...ein dumpfer Knall hallte durch die hohen Baumwipfel und brachte einige Vögel dazu, fluchtartig ihr Nest zu verlassen.
Der Wind hatte sich beruhigt und ließ das Echo ungehindert durch den gesamten Wald hallen.
Eine Eule hüpfte verängstigt auf ihrem Ast umher und versuchte das eigenartige Geräusch zu identifizieren.
Einige Stunden vergingen und die Sonne löste den Mond ab.
Ihre warmen Strahlen durchdrangen die Baumkronen und die Vögel begannen ihre fröhlichen Lieder zu singen.
Dieses Schauspiel wiederholte sich noch sehr oft....kein einziger Passant lief in diesen Tagen durch den Wald. Und so wurde es nun schon zum siebten male Nacht....
*
Das blasse Mondlicht sickerte durch die kleine Öffnung im Waldboden und bündelte sich auf dem breiten Gesicht eines grinsenden Kindes.
Der Kleine Timmy starrte geistesabwesend auf die leuchtend runde Scheibe über ihm.
Sein dicker Wanst hatte sich noch weiter aufgebläht und seine Haut wurde von Stunde zu Stunde blasser.
Unzählige Maden krochen rings um ihn herum am Boden. Hin und wieder schnappte er sich eine Hand voll und stopfte sie gierig in seinen Mund.
Danach leckte er ein paar mal mit seiner Zunge über den feuchten Untergrund.
Sein Blick schweifte durch den dunklen Raum.
Das Licht der Taschenlampe war schon längst erloschen...
In der Luft lag der penetrante Geruch von verdorbenem Fleisch.
Timmy schaute in die Ecke, in der er den schlaffen Körper seines Vaters verstaut hatte.
Der kleine hatte wirklich einen großen Appetit.
Timmy leckte sich noch einmal über seine schwulstigen Lippen...danach war er in der Dunkelheit verschwunden....
[ 07.08.2002, 16:11: Beitrag editiert von: ANiMA ]