Das Nordlicht
Oh doch, er würde das Nordlicht auch sehen! Er packt den Rest seiner Fotoausrüstung in seinen Wagen und macht sich auf. Alle 11 Jahre, denkt er bei sich. Nur alle 11 Jahre sind die Chancen so groß, Nordlichter zu sehen, wie in dieser Woche. Die Reise würde sich lohnen. Seine Freunde hatten nur gemeint, es wäre doch sinnlos, über 500km zu fahren, nur, um sich eine Naturerscheinung anzuschauen. Und was, wenn das Wetter schlecht wäre? Doch das Wetter würde bestimmt nicht schlecht. Nur diese eine Woche sollte das Wetter ihm gehorchen.
Während der Fahrt stellt er sich das nächtliche Phänomen im Geiste vor.
Welche Farbe hat es? Ist es rot, wie der Mond hinter den Wolken? Oder ein grüner Schein von Leuchtkäfern in Sommernächten? Oder leuchtet es blau, wie die Neonbeleuchtung in der Stadt? Wie hell ist es wohl wirklich? Heller als Wetterleuchten? Heller als der nächtliche Schein von größeren Städten am Horizont? Vielleicht sogar noch heller, denkt er, und malt sich schon einmal aus, wie er seinen Freunden die Fotos vor die Nase hält. Die werden sehen, dass sich diese Reise lohnt!
„Sie haben aber kein Glück mit dem Wetter“, sagt die Vermieterin seines Ferien-Appartements, als sie ihm am nächsten Morgen den Kaffee eingießt. „Sehen sie selbst aus dem Fenster! Die Sonne sehen Sie diese Woche nicht mehr!“ Er faltet wortlos die Zeitung zusammen. „Aber machen Sie sich trotzdem schöne Tage hier“, fügt sie hinzu, „dass Sie nicht vergebens hier sind.“
Wieso denn die Sonne?, denkt er sich. Ihm kommt es nicht auf die Sonne an, sondern auf die Nacht. Er war fasziniert von der Nacht. Schon als Kind liebte er es, einfach mitten in der Nacht ans Fenster zu gehen und zu horchen, tief einzuatmen, die Kühle zu spüren. Aber was ist eine Nacht ohne Sternenhimmel? Das schöne an der Dunkelheit ist doch, dass trotzdem etwas funkelt und glitzert. Und was wäre das Glitzern ohne die Dunkelheit? Ist denn die tiefschwarze Nacht nicht die Voraussetzung für die Faszination, die so winzige, stecknadelfeine funkelnde Punkte auf ihn ausüben?
Die Nächte vergehen, nass vom Nebel, duster wegen der Wolken.
Doch er ist am Ende der Woche zufrieden, weil er gesehen hat, was er sehen wollte. Es war kein Stern zu sehen, aber sein Nordlicht, sein ganz persönliches Nordlicht hat er trotzdem gefunden. Es war farbenreicher als jeder Regenbogen und heller als alles, was er bis dahin gesehen hat. Auch wenn es für keinen anderen von Bedeutung war, für ihn war es das Wertvollste, was er je gesehen hat.
Er packte es ein und heiratete es.