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Das Richtige tun
Die Matte war mal beige, jetzt war sie schmutzig braun, „vermutlich seit 30 Jahren dieselbe“, dachte ich und steckte den großen Schlüssel in das untere Schloss. Darüber war nachträglich noch ein zweites, kleines Sicherheitsschloss angebracht, hier passte der andere Schlüssel. Auf die Matte hatte jemand den Generalanzeiger seit einigen Tagen säuberlich gestapelt, auf der aktuellen Titelseite ging es um eine Überschwemmung in Bangladesch und um Vorschläge zur Umsatzsteuer. Ich hatte den Stapel heute Morgen bemerkt, aber gar nicht richtig wahrgenommen.
Die Tür sprang beim vierten oder fünften Versuch auf. Ein Geruch von alten Polstermöbeln und Teppichen, Wintermänteln an der Garderobe, Aftershave und runzeligen, parfümierten Seifenstückchen auf dem Waschbecken stand in der Wohnung. Ich öffnete das Fenster in der Küche und ließ die erste Frühjahrsluft hinein. Es war früher ein Haus, das zu seiner Zeit eines der besseren in der Stadt war. Die Toiletten auf der halben Treppe waren längst entfernt, jede Wohnung hatte nun eine eigene, aber für eine Dusche reichte der Platz nicht, die war in jeder Wohnung in eine Kabine in die Ecke der großen Küche gebaut, das war in meiner Wohnung auch so. Fast alle alten Bewohner waren inzwischen ausgezogen oder verstorben und Studenten waren eingezogen und oben im vierten Stock auch zwei Familien mit Asylbewerbern aus Mali und dem Irak, die Iraker hatten schon einen Ausreisebescheid, Katja hatte für sie übersetzt.
Das Foto sollte im Schlafzimmer auf dem alten Frisiertisch stehen, der dem alten Mann seit einigen Jahren nur noch als Ablage diente, darauf ein Stapel Fernsehzeitschriften, ein Stapel Kicker und eine Schale mit einigen Brillen sowie zwei Eheringen. Das Foto war in einem einfachen Rahmen, ein Hochzeitsbild aus dem zweiten Weltkrieg, der Bräutigam in Uniform, die Braut schüchtern daneben, halb im Schatten, beide unsicher lächelnd. Kurt redete sehr oft von Clara, den Reisen die sie gemacht hatten, in den Bayrischen Wald, einige Male nach Grömitz und einmal auch bis nach Ungarn an den Plattensee. „Im Urlaub haben wir es uns immer gut gehen lassen“, erzählte Kurt dann, jeden Tag Schnitzel oder Cordon Bleu, abends Bier und Eis. Kurt und Clara hatten ein bescheidenes Leben geführt, keine Kinder, kaum Bekannte, täglich drei Spaziergänge mit dem Rauhaardackel. Clara war kurz nach dem Hund gestorben, die Bauchspeicheldrüse, und Kurt ging die Runden ab dann allein. Dabei traf ich ihn manchmal, grüßte einige Male, und irgendwann hatten wir vom Supermarkt aus denselben Heimweg. Ich erzählte von meinem Architekturstudium, meinen Plänen, von Katja und meinen Freunden. Kurt freute sich für mich, „da ist ja einiges los bei Dir“, er erzählte von Clara und schien mir nicht einsam und mit seinem Leben zufrieden zu sein. Ich ging ihm nie aus dem Weg, manchmal grüßten wir nur, manchmal sprachen wir ein wenig.
Ich hatte die Polizisten im Hausflur stehen sehen, als sie sich erkundigten, die Iraker waren schnell nach oben gegangen, Katja und ich konnten nur sagen, dass Kurt allein wohnt und wohl keine Angehörigen hat. Die Polizisten duften nichts Genaues sagen, aber Katja konnte schon immer solche Situation meistern. Er war im Marienhospital, „kritischer Zustand“, ich fuhr noch am selben Tag hin. Er hatte die Zähne nicht im Mund, rechts und links auch alte Männer, Privatsphäre durch Vorhänge, dahinter röchelnder Atem, flüsternde Angehörige, deprimierend. Ich nahm seine Hand und er öffnete die Augen, erkannte mich trotz meiner Maske und des Kittels und versuchte ein Lächeln. Der Sauerstoffschlauch in der Nase störte ihn, der Herzfrequenzmonitor war lautlos, warf aber ein schwaches Licht auf uns. Ich fragte nach Einzelheiten, wollte wissen wie es ihm geht, aber ich sah in seinen Augen, dass er nicht reden wollte. Er wusste es und eigentlich wusste ich es auch. „Clara“, sagte er, „das Foto in meinem Schlafzimmer, bitte.“ Der Schlüsselbund war im Nachttisch, die kleine, speckige Geldbörse auch, seine einzigen persönlichen Gegenstände.
Es war nicht richtig, was ich tat, aber es war in guter Absicht. Ich wollte nicht nur mit dem einen Foto zurückkommen, ich wollte ihm eine letzte Freude machen. Es musste doch ein Album geben, von Bayern, von Grömitz und dem Plattensee. Es gab ein lautes Knacken als ich die Flügeltür an dem großen Wohnzimmerschrank öffnete, darin Kristallgläser, Geschirr, ein Stapel Tischdecken, einige Flaschen Likör und eine Flasche Schnaps mit vergilbtem Etikett, Hausbrand war noch zu lesen, dahinter, angedeutet, eine bayrische Fahne. In der Mitte zwei Schubladen, in der oberen ein Stapel Briefe, Feldpost, und ein Telefonbuch, in der unteren eine Schachtel, das konnten die Fotos sein. Ich öffnete sie und sah ein dickes Bündel 100-Mark-Scheine mit einer Kordel ordentlich zusammengebunden und vier Goldbarren, jeweils 500g. Meine Hände wurden feucht und mein Mund ganz plötzlich trocken. Ich legte alles zurück, schob die Schublade zu, schloss den Schrank und sah mich um. Natürlich hatte mich niemand gesehen, ich war ja allein. Mit klopfendem Herzen schloss ich die beiden Schlösser ab, rannte nach unten, musste noch einmal umkehren, um das Hochzeitsfoto zu holen, und hetzte dann zum Krankenhaus, beinahe wäre ich in der U-Bahn gestürzt. Ich wollte nichts davon erwähnen, das war seine Sache. Die Stationsschwester sah mich kommen und hielt mich auf, „Ihr Großvater ist eben eingeschlafen, er hatte keine Schmerzen, es tut mir leid.“
Mit einem dumpfen Schwindel saß ich auf der Stufe neben dem Eingang zum Krankenhaus, der Schlüsselbund drückte in meiner Hosentasche. Ich bedauerte, nicht zu rauchen, dann hätte ich gewusst, was ich nun tun könnte. Ich wollte das Richtige tun.