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Das Sandmädchen
Das Sandmädchen
Der runde Mond warf seine schimmernden Strahlen durch das Fenster des winzigen Wolkenhauses und beobachtete das darin wohnende Sandmädchen, wie es hastig ein paar Kinderbücher durchblätterte.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, sagte sie und guckte ein wenig enttäuscht, während sie weiter in den Bücher stöberte. Aber wie lange sie auch suchte, nirgends war eine Geschichte von ihr zu finden. In sämtlichen Büchern wurde zwar das Sandmännchen erwähnt, das Sandmädchen dagegen schien niemand zu kennen.
„Und das, obwohl ich mir immer so viel Mühe mit meiner Arbeit gebe!“, dachte sie betrübt.
Gedankenversunken wippte sie in ihrem Schaukelstuhl, blickte aus dem Fenster und erschrak. Durch das viele Geschichtenlesen hatte sie die Zeit völlig vergessen. Der Mond wanderte bereits seinem Bett entgegen und die rote Morgensonne streckte verschlafen ihre ersten Strahlen über den Himmel.
In Windeseile schnappte sich das Sandmädchen ihr Säckchen vom Haken hinter der Tür und zog sich ihre rote Mütze über die langen Zöpfe. Sie schlüpfte in ihre Rollschuhe und sauste auf einem Regenbogen hinab auf die Erde, wo die Sonne mittlerweile aufgegangen war und die Kirchturmuhr sieben Mal schlug.
„Oh je, oh je!“, murmelte das Sandmädchen und huschte schnell in das erste Haus.
Im Schlafzimmer rollte sie zum Bett eines kleinen Jungen. Vorsichtig krabbelte sie auf sein Kopfkissen, nahm behutsam den Traumsand der vergangenen Nacht von seinen Augen und packte ihn dann in ihr leeres Säckchen hinein. Dann überlegte sie einen Augenblick. Normalerweise wachten die Menschen eine halbe Stunde, nachdem sie den Sand eingesammelt hatte, auf, aber an diesem Morgen war dafür keine Zeit mehr. Der Junge würde sicher zu spät zur Schule kommen, wenn das Sandmädchen nichts tat. Und da das nicht passieren durfte, beschloss sie, das Wecken selbst zu übernehmen.
Klein und leicht wie sie war, hüpfte sie auf das Gesicht des Jungen und versuchte, seine Augenlider hochzuschieben. Aber vergebens. Immer wieder fielen seine schweren Lider zu. Das Sandmädchen blickte auf die Uhr. Es war allerhöchste Zeit, und so kitzelte sie den Jungen an der Nase und am Bauch und zwickte ihn dann sanft in den großen Zeh. Aber auch das wirkte nicht.
Das Sandmädchen überlegte angestrengt, und während sie ihre Zöpfe grübelnd nach hinten warf, entdeckte sie einen Strohhalm auf dem Nachttisch des Jungen und hatte plötzlich eine prächtige Idee. Sie krabbelte zu seinem Ohr, hielt den langen Strohhalm mit aller Kraft davor und brüllte dann, so laut sie nur konnte: „Aufwachen!“ hinein.
Und endlich öffnete der Junge die Augen.
Er blickte verschlafen auf das kleine Wesen mit der roten Mütze und fragte:
„Nanu, wer bist denn Du?“
„Ich bin das Sandmädchen!“, antwortete sie grinsend und erklärte dem Jungen, dass sie jeden Morgen auf die Erde kommt und den Schlafsand der Menschen einsammelt, damit sie wieder aufwachen können.
Der Junge murmelte verwundert ein paar Worte und blickte dem kleinen Wesen, das sich eilig verabschiedete und auf seinen roten Rollschuhen durch die Luft zum nächsten Haus sauste, hinterher.
Das Sandmädchen musste nämlich noch eine Menge anderer Menschen wecken.
So viele, dass sie nach getaner Arbeit erschöpft in ihr winziges Wolkenhaus zurückkehrte und sich müde auf ihr Bett warf.
Und während sie geschafft vom vielen Aufwecken einschlief, unterhielten sich die Leute auf der Straße und bei der Arbeit und die Kinder in der Schule über das Sandmädchen. Sie fanden es toll, dass es jemanden gibt, der sich jeden Morgen die Mühe macht, alle Menschen auf der Erde zu wecken. Sie erzählten den ganzen Tag von ihr, so dass jeder das Sandmädchen kannte noch ehe es an diesem Tage dunkel wurde.
Als das Sandmädchen am Abend aufwachte und auf die Erde blickte, stellte sie verwundert fest, dass alle Menschen freudig über sie sprachen. Darüber freute sie sich sehr. Sie strahlte über das ganze Gesicht und nahm sich vor, von nun an immer rechtzeitig auf die Erde zu rollen und die Menschen noch pünktlicher zu wecken. Dann setzte sie sich in ihren Schaukelstuhl, grüßte das vorbei fliegende Sandmännchen und begann wieder, Kindergeschichten zu lesen. Bevor sie das Buch am Ende der Nacht zur Seite legte, um wieder auf die Erde zu reisen, seufzte sie einmal laut. Sie war wirklich glücklich, aber dennoch wünschte sie sich von ganzem Herzen, dass irgendwann auch jemand über sie eine wundervolle Geschichte schreiben würde.