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Das Schwein
Dieser ging den Weg, seinen Weg, wie er ihn nannte; durch Linden, die einen Tunnel formten, über Kreuzungen, an denen er lange nach links und rechts blickte und pfeifend weiterschritt. Sein Wandersack barg einen Stift und einen Block, mehrere Bücher von toten Schriftstellern, Gedichte an eine Freundin, die es noch nicht gab, und, neben der Zahnpflegeausrüstung, etwas Tabak.
Seinen Ausweis hatte er vor Zeiten in die See geworfen, seinen Namen trug er schon lange nicht mehr auf der Zunge, und er blieb nirgends länger, als ihn ein Schlaf zwang, ein Anblick begeisterte oder ein Steinchen aus den Latschen geschüttelt werden wollte. Hier einen Apfel, dort einen Maiskolben genommen, da beschwerte sich kein Bauer, und die Schafe, Kühe und Pferde, über deren Weiden er bei Gelegenheit schlich, kannten die Wasserstellen, die auch ihn stärkten.
Es war an einem Tag, an dem die Äpfel zu hoch zum pflücken oder erklettern hingen und die Bäume zu kräftig, um durch Schütteln Erfolg zu haben, die Maiskolben noch nicht reif genug, und keine Wasserstellen abzusehen waren. Seine Wasserflasche, ich vergaß, sie zu erwähnen, hatte er auf dem letzten Berg geleert.
Ihm war schon schwindelig, als vor ihm auf dem Pfad ein Schwein in der starken Sonne stand. In respektvollen Abstand blieb er stehen, denn es handelte sich um ein mächtiges Vieh, welches den ganzen Pfad einnahm, mit monströsen Zähnen, die aus der Schnauze herausragten, und kräftigen Hufen, die demonstrativ in den trockenen Boden traten.
Er tat einen Schritt, da stampfte es erneut auf. Der Wegewanderer schreckte zurück, wie es nur natürlich war, und sah in tiefe Feueraugen.
So verhielt es sich einige Minuten; der Weg war verbarrikadiert und das Schwein ließ auch kein Ausweichen zu, hatte die Bewegungen des Gesellschaftslosen genau erwidert, bis dieser bemerkte, dass sich das Tier nicht in seine Richtung bewegte, keinen Angriff zu starten schien, eher ein Gehege oder sonst etwas verteidigte, und entschied, sich niederzusetzen.
Im Schneidersitz angelangt beruhigte sich auch sein Gegenüber und schnaufte triumphal, so dass der Wanderer beschloss, den Tabak auszukramen um dessen Zweck zu nutzen.
Mehrere Zigaretten lang geschah nichts; unser Protagonist hatte angefangen, die Situation einzusehen und, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass das Schwein den Weg zum Trog suchen würde, was auch ihm wiederum von großen, gar lebensnotwendigen Nutzen sein könnte, verweilte er ohne weitere Versuche das geschickt agierende Tier auszutaktieren, zu überlisten, schneller oder, ich vermag kaum zu erzählen, so wie er nicht einmal daran dachte, stärker als dieses Monster zu sein.
Und immer mehr hoffte der Hungrige auf eine solche Handlung, denn die Weite der Straße erschien ihm zunehmend bedrohlicher, die Situation auswegloser und seine Kraft ließ arg nach, was er im ständigen Kontakt mit diesen Feueraugen natürlich niemals eingeräumt hätte, aber was doch Tatsache war und seine gesamte Existenz bedrohte.
Auch ein Rückweg, wie der aufmerksame Leser vielleicht schon spekuliert haben könnte, war unnütz, da der Namenlose schon einige Stunden landeinwärts gegangen war.
Es mag auch erwähnt sein, dass er, verzweifelt wie er war, versucht hatte einen Dialog mit dem Schwein aufzubauen, sei es in ihm gewohnt zivilisierten Worten, in Tiergeräuschen oder in Gebärdensprache gewesen.
Als er schließlich vor Schwäche schielte und einen letzten und entscheidenden Angriff, vielmehr einen Durchbruch, welcher, wenn sie mich fragen, ausweglos und eventuell sogar tödlich geendet hätte, wagen wollte, da bewegte sich das Vieh.
Mit wackelndem Hinterteil und ab und an an der Grasnarbe schnüffelnd, zog es zur Seite und machte sich gemächlich auf, wahrscheinlich zum Trog.
Im würdigen Abstand folgte er dem Schwein, welches bewusst langsam fortschritt und den Verfolger nur selten mit einem Schulterblick würdigte.
Zur Freude dessen erreichten sie nach einer Weile einen durch Gestrüpp getarnten Trog, eine Gusswanne, bis oben hin gefüllt mit Futter.
Überlegend sah der Verschmachtende die glitzernde Pampe. Als hätte man eine Woche lang Erbrochenes gesammelt. Er blickte sich um: Keine anderen Schweine weit und breit, keine Wasserstelle, kein Bauernhof.
Dann, es mögen einige Momente vergangen sein, kniete er sich vor den Trog und schöpfte mit geöffneten Mund das erbärmlich stinkende Essbare in seinen Rachen, schluckte, wobei er sich fast hatte übergeben müssen, und wiederholte den Vorgang mehrere Male, wurde immer hastiger, tunkte schließlich sein ganzes Gesicht in die Wanne und schmatzte.
So hatten sie den ganzen Trog geleert und er zog sich das Hemd aus, um sich damit das Gesicht abzuwischen.
Das Schwein lag längst auf der Seite und schnaufte stark.
Es vergingen Tage, Wochen, Monate. Sicherlich versuchte der Wanderer, seinen Weg fortzusetzen, doch jedes Mal kam er nicht weiter als dass er bloß abermals endlose Weiten erblickte und der Rückweg, zurück zur Futterstelle, sinniger erschien, als dem Weg idiotisch zu folgen. Denn alle drei Tage gurgelte der Trog und Futter wurde hineingepumpt.
Mit den Jahren schließlich verlor der ehemalige Wanderer die Zuversicht es könne eines schönen Tages ein Bauer, ein Besitzer, ein weitere Wanderer, oder sonst irgendjemand hier vorbeischauen, hatte bereits aus purer Bequemlichkeit begonnen, auf allen Vieren zu laufen, und bald schliefen Schwein und Wanderer aneinandergeschmiegt, suhlten sich gemeinsam im Schlamm und wagten immer öfter Ausflüge, fanden jedoch pünktlich alle drei Tage den Weg zurück zum Trog.
Mit der Zeit bekam der ehemalige Wanderer zart rosafarbene Haut, seine Oberschenkel verschwanden fast komplett in seiner Hüfte, starke Beißzähne wuchsen aus seiner spitz geformten Schnauze, seine Hände und Füße verwandelten sich in Hufe, und er grunzte nur noch.
Das ehemalige Schwein hingegen wurde zunehmend menschlicher: Erst begann es, auf den Hinterbeinen zu laufen, so dass es mit der Zeit starke und lange Schenkel bekam, auf denen es sich problemlos aufrecht halten konnte, Hände und Füße formten sich ... den Rest der Verwandlung möge sich der Leser selbst ausmalen.
Jedenfalls lernte das Schwein anhand der Bücher und Gedichte die menschliche Sprache, kleidete sich mit den Lumpen des Wanderers, verstand die Verwendung der Zahnputzausrüstung, und aufgrund der neu gewonnenen Fähigkeiten bekam es auf einmal Lust, die Welt zu erkunden.
Und als es gerade bereit war, hielt ein Wagen am Weg.
„Was hat Sie denn in diese gottlose Gegend verschlagen, werter Wandersmann? Haben Sie denn keine Karte bei Hand?“, sagte einer der zwei Bauern, die aus dem Wagen stiegen, ein Gewehr in der Hand und sie mussten sich das Lachen verkneifen; das war eine Thekengeschichte, die so schnell nicht zu überbieten war.
„Sie haben ja das Sprechen gar verloren, sind abgemagert, junger Bursche. Haben Sie sich in der Tat vom Schweinefutter genährt?“
Doch der Wanderer schämte sich nicht wegen der Häme und lachte den Bauern ins zerarbeitete Gesicht.
„So lass ihn, Friedrich! Er ist froh des Lebens. Wie lange hätte er noch ausgehalten mit dieser Pampe? Sieh ihn dir an, Friedrich! Er muss schon tagelang hier sein. Da wirst du ja selbst zum Schwein.“ Alle drei lachten kräftigst.
„Und dass der alte Gunnar hier überhaupt mit Ihnen seinen Trog teilt ... Sie müssen sich ja richtig mit ihm angefreundet haben.
Wissen Sie: Nachdem wir die Weide hier aufgelöst hatten, zu weit, können Sie sich ja denken, war uns ein Schwein durch die Lappen gegangen und wir bekamen es nicht gepackt. Das war vor fünf, sechs ... Friedrich?!“
„Sieben, Albert, ganze sieben Jahre ist das her.“
„Was die Zeit vergeht. Jedenfalls hatten wir die Zäune schon eingezogen und ich weiß es noch wie heute, dass der alte Gunnar dem Rainer immer wieder entwischt ist. Das war ein Bursche. Wirklich: Wir mussten es aufgeben und beschlossen, das Schwein hier zu lassen und alle drei Tage weiterhin Futter in den Trog zu befördern. Kost ja nix. Und sonst wäre uns das Schwein hier krepiert. Hier gibt’s ja weit und breit nix zu Fressen. Früher bin ich hier öfter hingefahren, habe versucht das Schwein zu erwischen. Aber vergebens. Dieses verteufelte Vieh hat mich schon von weitem erhorcht und das Weite gesucht.
Mit der Zeit hab ich es dann ganz vergessen, bis letzte Woche, da hat mich der Friedrich gefragt, was eigentlich mit Gunnar sei, und da sind wir losgefahren. Zu Ihrem Glück!
Und jetzt sehen Sie sich Gunnar an: Wohlgenährt, bereit zur Schlachtung. Schnapp ihn dir, Friedrich!
Und wohin können wir Sie mitnehmen?“
„Lassen Sie mich nur in Nähe der nächsten Stadt raus, ich setze dann meinen Weg fort.“
Und so ging dieser den Weg, seinen Weg, wie er ihn nannte; durch Linden, die einen Tunnel formten, über Kreuzungen, an denen er lange nach links und rechts blickte und pfeifend weiterschritt. Sein Wandersack barg einen Stift und einen Block, mehrere Bücher von toten Schriftstellern, Gedichte an eine Freundin, die es noch nicht gab, und, neben der Zahnpflegeausrüstung, etwas Tabak.