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Das Skelett

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05.05.2015
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Das Skelett

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Also hatten sie ihn jetzt gefunden. Nach so vielen Jahren. Fast war sie erleichtert, dass es nun ein Ende haben würde, das Leben auf Abruf.
Anna legte die Lokalzeitung, in der sie Nachricht von einem „mysteriösen Skelettfund im Wattenmeer“ gelesen hatte, beiseite. Mysteriös, schrieben sie. Ja, so musste es wohl aussehen, wenn man nicht wusste, was damals geschehen war. Damals, vor fünfundsechzig Jahren.

Als sie merkte, dass sie schwanger war, hatte sie lange darüber nachgedacht, auf welche Art sie sich am besten umbringen konnte, denn sie hatte Angst davor, allzu große Schmerzen aushalten zu müssen. Sie erwog verschiedene Möglichkeiten. Zum Beispiel könnte sie bei Ebbe so weit ins Watt hinausgehen, dass sie nicht rechtzeitig zurück an Land sein würde, bevor die Flut kam. Oder sie könnte eins der kräftigen Seemannstaue nehmen, es im Keller um einen der Balken binden und sich erhängen. Oder sie könnte ein scharfes Fischmesser aus der Küche holen, sich auf ihr Bett legen und sich die Pulsadern aufschneiden.
Alle diese Todesarten schienen ihr durchaus erträglich zu sein, was die Schmerzen betraf, aber sie hatte es dann doch nicht getan. Irgendwie hatte sie es nicht fertiggebracht. Und dann war es zu spät gewesen. Ihre Mutter hatte ihren wachsenden Bauch bemerkt, war sofort in Tränen ausgebrochen und hatte über die Schande gejammert, die sie über die Familie brächte. Ihr Vater hatte seinen Ärger über ihren Zustand ausgetobt, indem er ihr den Rücken mit einer Weidenrute blutig geschlagen hatte. Niemand hatte sich dafür interessiert, dass sie vergewaltigt worden war. Selbst der Vater des Kindes, Hinrich, hatte den Verkehr mit ihr anscheinend als durchaus normal betrachtet. Sie war noch Jungfrau gewesen; vielleicht hatte er sich ihr Weinen und Jammern damit erklärt.
Jedenfalls musste geheiratet werden, so schnell wie möglich. Die Leute im Dorf zerrissen sich natürlich das Maul über die plötzliche Heirat, die ohne Feier und ohne großes Aufhebens vor sich ging. Zuerst die standesamtliche Trauung im Rathaus mit Hinrichs älterem Bruder und Annas Schwester als Trauzeugen, dann die kurze kirchliche Zeremonie im Anschluss an den üblichen Gottesdienst am Sonntag. Ihr Ja hatte beide Male wie das klägliche Miauen einer Katze geklungen.
Mit ihren wenigen Kleidern und etwas Bettwäsche war sie in das kleine Fischerhaus gleich hinter dem Deich gezogen. Für Hinrichs Vater und seinen älteren Bruder kam die junge Frau im Haus gerade recht. Die Mutter war vor zwei Jahren an Schwindsucht gestorben, und die alte Großmutter wurde langsam senil und verwechselte schon mal Salz mit Zucker oder vergaß ganz, das Essen zu kochen, so dass Anna den drei Männern als Köchin und Putzfrau durchaus willkommen war.
Es hatte ihr nichts ausgemacht, schwer zu arbeiten, auch wenn sie lange gebraucht hatte, darüber hinwegzukommen, dass ihr Traum, die mittlere Reife zu machen und dann Sekretärin zu werden, für immer vorbei war. Auch daran, dass Hinrich jede Nacht, wenn er mit Bruder und Vater lange im Wirtshaus gesessen, einen Schnaps nach dem anderen getrunken und mit den anderen Männer über die hohe Politik, die Fischerei und die Kirche diskutiert hatte, brutal im Bett über sie herfiel, hatte sie sich mit der Zeit gewöhnt. Niemals fragte er danach, wie sie sich fühlte, niemals nahm er sich Zeit für etwas Zärtlichkeit. Damit hatte sie sich abgefunden.
Aber dann fing er an sie zu schlagen. Wenn er betrunken nach Hause kam, fand er immer wieder einen Anlass, ihr Ohrfeigen zu versetzten, sie hin und her zu stoßen, so dass sie gegen die Kommode oder gegen den Kleiderschrank fiel. Oder er versetzte ihr Faustschläge gegen die Arme, wenn sie sich zu schützen versuchte. Wenn sie vor Schmerzen aufschrie oder anfing zu weinen, machte ihn das nur noch wütender. Anna war überzeugt, dass die übrigen Familienmitglieder den Lärm, den Hinrich dabei verursachte, hören mussten, aber niemand griff ein. Wenn die Männer morgens mit dem Kutter zum Fischen ausgefahren waren und sie mit blauen Flecken und zugeschwollenen Augen in die Stube kam, saß die Großmutter in ihrem alten Lehnstuhl mit ihrem Strickzeug am Fenster, schüttelte den Kopf über ihr Aussehen und machte ihr Vorwürfe, dass sie dies und jenes eben nicht gut genug verrichtete, so dass ihrem Mann ja nichts anderes übrig bliebe, als es ihr auf seine Weise beizubringen.

Anna seufzte tief. Die Erinnerung an diese Zeit tat immer noch weh. Sie war erst siebzehn Jahre gewesen, als sie Hinrich heiraten musste.
Sie stand mühsam auf, räumte ihr Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine, stellte die Margarine und die Marmelade wieder in den Kühlschrank und wischte den Küchentisch sauber. Sie blickte aus dem Fenster. Was für ein schöner Frühlingstag! Wenn Franz noch leben würde, dachte sie wehmütig, hätten sie jetzt überlegt, was sie an diesem herrlichen Tag unternehmen könnten. Vielleicht einen Spaziergang auf dem Deich, wenn der Nordwestwind nicht zu sehr wehte, oder einen kleinen Stadtbummel. Das unscheinbare Fischerdorf von damals hatte sich zu einer wahren Touristenhochburg entwickelt mit vielen kleinen Geschäften, Restaurants und Hotels, in denen immer viel Betrieb war.
Oder sie hätten sich entschlossen, Katrin, ihrer Enkeltochter, die im Nachbardorf wohnte, einen Besuch abzustatten. Franz war auch im hohen Alter, bevor der Krebs ihm alle Lebenskraft genommen hatte, noch recht sicher im Autofahren gewesen, und der alte Golf hatte ihnen immer gute Dienste geleistet. Katrin war jetzt im Mutterschutz, Elternzeit nannte man das heute, und Anna hatte ihren kleinen Urenkel schon lange nicht mehr gesehen. Sicher würde Katrin sich freuen, ihr alte Uroma mal wieder zu sehen. Es fuhr ein Bus in das Nachbardorf, mit dem konnte sie fahren.
Anna schüttelte den Kopf. Ohne Franz machte das alles keinen richtigen Spaß mehr. Außerdem machte die Gicht, die langsam alle ihre Gelenke befiel, ihr mehr und mehr zu schaffen, so dass sie froh war, sich nicht allzu sehr bewegen zu müssen.
Heute, nach der Meldung in der Zeitung, waren solche Überlegungen sowieso nicht angebracht. Sie musste darüber nachdenken, was sie jetzt tun sollte. Jetzt, nachdem man ihn endlich gefunden hatte. Ob man nach so langer Zeit noch feststellen konnte, wer er gewesen war? Und wie er zu Tode gekommen war? In den Krimis im Fernsehen war ja immer von DNA-Analysen die Rede, und davon, dass man anhand der Zähne die Identität von Menschen feststellen konnte, auch wenn von dem Körper nur noch die Knochen vorhanden waren. Und vielleicht war ja doch noch etwas mehr von dem Körper übrig, bei dem hohen Salzgehalt im Wattenmeer? Aber das mit den Zähnen konnte natürlich nur funktionieren, wenn bei einem Zahnarzt Röntgenaufnahmen vorhanden waren, mit denen man das Gebiss des Toten vergleichen konnte. Das kam dann also wohl nicht in Frage, denn Hinrich war nie bei einem Zahnarzt gewesen.

„Kannst du denn nicht aufpassen, du blöde Kuh“, hatte er gebrüllt, als er an jenem Abend gegen elf Uhr nach Hause gekommen war. „Warum musst du denn die Schuhe mitten in den Weg stellen, dass man darüber fallen muss?“ Wie immer, war er betrunken. Hinrichs Vater und Bruder waren zum Fischfang draußen, die Großmutter lag schon im Bett in ihrer winzigen Kammer.
Mühsam stand Anna vom Küchentisch auf, an dem sie gesessen und Socken gestopft hatte. Der Bauch jetzt im neunten Monat behinderte sie mehr und mehr und machte ihr das Bücken schwer, als sie die Schuhe, über die Hendrik beim Hereinkommen gestolpert war, aufhob. Sie wusste, wenn sie nur die kleinste Bemerkung machte oder ihn auch nur ansah, würde er einen seiner Wutanfälle bekommen und sie zusammenschlagen. Nicht, dass ihr die Schmerzen noch viel ausgemacht hätten, daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt, nein, sie fürchtete um das Kind. Vorsichtig versuchte sie sich an ihrem Mann vorbei zu drücken um ins Schlafzimmer zu gehen. Dabei streifte sie in der engen Küche mit ihrem vorgewölbten Bauch seinen Arm. Was dann kam, übertraf an Heftigkeit alles, was sie bisher erlebt hatte. Ununterbrochen prasselten seine Faustschläge auf sie nieder. Sie krümmte sich und versuchte sich mit den Armen zu schützen, verlor dabei den Halt und fiel zu Boden. In seinem rasenden Zorn genügten ihm nun seine Fäuste nicht mehr, mit seinem derben Arbeitsschuhen trat er immer wieder in ihren Rücken und ihren Bauch. Dabei stieß er wüsste Beschimpfungen aus, schrie, das verdammte Kind hätte ihm sein Leben versaut, sie sei eine verfluchte Hure, die ihn in die Falle gelockt hätte, so dass er jetzt auf ewig in der elenden Bruchbude in diesem Drecksnest versauern müsse. Immer mehr steigerte er sich in seine Wut hinein, es schien kein Ende zu nehmen.
Als er endlich von ihr abließ und torkelnd in der Schlafkammer verschwand, blieb Anna einen Moment lang wie betäubt liegen. Plötzlich fühlte sie, wie sich zwischen ihren Beinen eine warme Flüssigkeit ausbreitete. Noch immer gekrümmt am Boden liegend, tastete sie mit der Hand danach. Es war Blut, wie sie befürchtet hatte. Mit letzter Kraft schleppte sie sich zur Tür und aus dem Haus hinaus zu den Nachbarn, von denen sie wusste, dass sie ein Telefon hatten.

Das Kind kam tot zur Welt. Nach endlosen Stunden qualvoller Wehen zog der Arzt den leblosen Körper aus ihrem Leib. Nie würde Anna den Anblick des winzigen stillen Gesichtes vergessen! Ihr kleiner Sohn! Als Totgeburt würde er nicht kirchlich bestattet, sondern unauffällig am Rande des Friedhofs verscharrt werden müssen. Anna wusste nicht mehr, wann sie schließlich aufgehört hatte zu weinen.
Sie war wieder zu ihrem Mann zurückgekehrt. Natürlich, was blieb ihr anderes übrig, damals, neunzehnhundertfünfzig. Über den Vorfall wurde nicht gesprochen; es war, als hätte es ihn gar nicht gegeben. Alles ging weiter wie bisher. Nur, dass sie nicht mehr lachen konnte, nicht einmal lächeln, und kaum noch ein Wort sagte. Bis sie wieder schwanger wurde.

Anna war ins Wohnzimmer gegangen und hatte eins ihrer alten Fotoalben aus dem Schrank geholt, sich damit auf das Sofa gesetzt und aufgeschlagen. Da war Ludger, ihr Ältester. Als Baby hatte er einfach entzückend ausgesehen, mit seinen großen braunen Augen und den kleinen dunklen Locken, die sich auf seinem fast noch kahlen runden Kopf kringelten. Er ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten, dachte Anna, Gott sei Dank hat er nichts von seinem Vater geerbt. Auch nicht das jähzornige, gewalttätige Wesen. Seine beiden Halbgeschwister dagegen sahen Franz, ihrem Vater ähnlich: blond mit grauen Augen.

Als sie bemerkt hatte, dass sie wieder schwanger war, hatte sie den Entschluss gefasst, Hinrich zu töten. Er sollte diesem neuen Kind nicht dasselbe antun können wie dem ersten. Anna fing an über Tötungsmöglichkeiten nachzudenken. Ähnlich wie damals, als sie sich umbringen wollte, fielen ihr verschiedene Variationen ein. Sie könnte ihn, wenn er wieder auf sie losging, mit einem Messer aus der Küche erstechen. Das würde dann sogar vielleicht als Notwehr gewertet werden. Aber hätte sie die Kraft dazu? Hinrich war mehr als einen Kopf größer als sie, kräftig und schwer. Er würde sich sicher gegen sie zur Wehr setzten. Nein, das war zu riskant. Sie könnte die Axt aus dem Schuppen holen und ihn, wenn er seinen Rausch ausschlief, im Schlaf erschlagen. Aber dann würde sie als Mörderin verurteilt werden und ins Gefängnis kommen. Was würde dann aus ihrem ungeborenen Baby werden? Am besten wäre es, Hinrich würde einfach verschwinden, spurlos. Anna fasste einen Plan.
Das erste Problem bestand darin, an ein Gift zu kommen. Rattengift? Aber das musste man in der Apotheke kaufen und damit würde sie sich verdächtig machen. Sie hatte einmal gehört, dass der Fingerhut, diese hübsche, rot blühende Blume, giftig sein sollte. Sie schlug in dem abgegriffenen Lexikon nach, das im Wohnzimmerschrank neben dem halben Dutzend anderer Bücher stand, und fand ihre Annahme bestätigt. Sogar eine Abbildung von der Blüte war da, und der Hinweis, dass alle Teile der Pflanze hochgiftig wären. Sie kannte die Pflanze; sie hatte sie schon häufig auf Brachflächen oder auch in Gärten gesehen. Es war gar keine Schwierigkeit, an ein paar Blätter oder sogar ganze Pflanzen heran zu kommen.
Aber wie sollte sie Hinrich das Gift verabreichen? Der Geschmack wäre sehr bitter, stand im Lexikon. Sie beschloss eine komplette Pflanze, mit Wurzel, Stängel, Blätter und Blüten zu nehmen, sie zu zerkleinern und in Wasser so lange zu kochen, bis nur noch ein dickflüssiger Sud übrigblieb. Dann würde sie den Sud durch ein grobes Geschirrtuch pressen, so dass sie eine Flüssigkeit erhielte, die man in ein Getränk oder unter das Essen mischen konnte. Sicher würde das Gift in dieser Flüssigkeit sehr konzentriert sein, so dass es schnell tödlich wirken würde. Damit es nicht so bitter schmeckte, würde sie das Gift in einen Becher stark gesüßten Kakaos geben, den Hinrich so gerne trank.
Es hatte lange gedauert, bis Anna eine Gelegenheit fand, ihren Plan umzusetzen. Das fertige Gift, eine trübe, bitter riechende Flüssigkeit, hatte sie in ein Marmeladenglas gefüllt und fest verschlossen. Vorher hatte sie die Wirkung überprüft, indem sie vorsichtig mit dem Finger in die Flüssigkeit getippt hatte. Sofort hatte sich ein taubes Gefühl in dem Finger ausgebreitet, das später in ein schmerzhaftes Kribbeln überging. Das Glas mit dem Gift hatte sie im Keller ganz hinten unter den eingelagerten Kohlen versteckt.
In einer mondhellen Nacht im Juni war es soweit. Die Ebbe würde gegen elf Uhr eintreten, Hinrichs Bruder und sein Vater waren außer Haus im Nachbardorf, die Großmutter war krank und hütete schon seit Tagen das Bett.
Als Hinrich am Abend nach Hause kam - seit einigen Wochen arbeitete er als Handlanger auf dem Bau, um ein wenig Geld dazu zu verdienen - stellte Anna ihm nach dem Abendessen einen großen Becher mit warmem Kakao auf den Tisch. Er sah sie ein wenig verwundert an, aber als sie nichts weiter sagte und anfing das Geschirr abzuräumen, nahm er den Becher und trank ihn in einem Zug aus.
Als die im Lexikon beschriebene Wirkung einsetzte, ließ Anna das Geschirrtuch fallen und lief in die Schlafkammer, wo noch die Wiege stand, die für das tote Baby gedacht gewesen war und in der bald ein lebendiges Kind liegen sollte. Sie hielt sich die Ohren zu, um die Geräusche aus der Küche nicht hören zu müssen. Als alles ruhig war, öffnete sie vorsichtig die Tür und spähte hinein. Hinrich lag in verkrampfter Haltung auf dem Boden, beide Hände am Hals, den Mund weit aufgerissen, die Augen verdreht. Atemlähmung, hatte im Lexikon gestanden. Anna horchte auf seinen Atem. Nichts. Er war tot.

Sie erinnerte sich später kaum noch daran, wie sie es geschafft hatte, die Leiche ins Watt zu schaffen. Sie hatte den Körper in ein Bettlaken gewickelt, ihn auf die Schubkarre, die sie durch die Haustür bis zur Küche geschoben hatte, gehievt, die Schubkarre dann zusammen mit einem Spaten hinaus aufs Watt geschoben so weit sie konnte, dort eine tiefe Grube gegraben, was unglaublich Kraft kostete, weil der Sand und der Schlick so feucht und zäh waren, hatte den Leichnam in dem Tuch in die Grube fallen lassen und alles wieder zugeschüttet. Am Himmel hatte der Nordwestwind unablässig Wolken ins Land getrieben, der Halbmond hatte das Wattenmeer in ein gespenstiges silbriges Licht getaucht, aber an Land war alles dunkel gewesen. Keine Menschenseele war zu sehen gewesen.
Die Arbeit hatte mehrere Stunden gedauert, und als Anna endlich fertig war, war die Flut gekommen. Sie hatte die Schubkarre wieder an ihren gewohnten Platz gestellt, den Spaten gesäubert und an den Haken im Schuppen gehängt und sich selbst am Spülstein in der Küche gründlich gewaschen. Es hatte im Osten schon gedämmert, als sie ins Bett gegangen und sofort in einen traumlosen Erschöpfungsschlaf gefallen war.

Anna blätterte in dem Fotoalbum. Wie eine Geschichte in Bildern erzählten die Fotografien ihr Leben. Da war Franz, ihr guter, lieber Mann, den sie, kurz nachdem Hinrich von den Behörden für tot erklärt worden war, geheiratet hatte. Sie hatte Hinrich Bruder und seinem Vater weiterhin den Haushalt geführt, hatte ihr Kind zur Welt gebracht, den kleinen Ludger, und jeden Tag gebangt, man könnte den Leichnam ihres Mannes finden. Aber nichts geschah. Täglich wechselten die Gezeiten, die Flut kam und setzte das Watt unter Wasser, die Ebbe kam und legte die Stelle, wo Anna den toten Körper begraben hatte, wieder bloß. Die Polizei hatte die Vermisstenmeldung aufgenommen, und überall auf den Polizeirevieren wurde Hinrichs Foto aus seinem Ausweis ausgehängt.
Franz, der gelernter Maurer war, hatte der Familie mit eigenen Händen ein kleines Haus gebaut, die beiden Kinder, Jochen und Sonja, wurden geboren, sie führten ein ganz normales, glückliches Familienleben. Die Kinder wuchsen heran, lernten solide Berufe, die kleine Sonja machte sogar das Abitur und wurde Lehrerin. Inzwischen waren auch die Enkel schon erwachsen und überall in Deutschland verstreut.

Anna fuhr mit den Fingerspitzen liebevoll über die Bilder, die die Stationen ihres Lebens zeigten. Nie hatte sie jemandem von dem Geheimnis erzählt, das sie all die Jahrzehnte mit sich herumgetragen hatte. Auch Franz nicht. Manchmal, wenn es ihr gar zu schwer geworden war, allein mit dieser Bürde zu sein, war sie versucht gewesen, ihm alles zu erzählen und die ständige Angst, man könnte die Leiche doch noch finden, mit ihm zu teilen. Aber sie hatte es nicht getan. Er war solch ein rechtschaffener Mensch gewesen, liebevoll und fürsorglich: sie durfte ihn nicht mit ihrer Tat belasten.
Anna schlug das Album zu. Sie hatte ein gutes, langes Leben gehabt. Sie musste dankbar sein, dass das Schicksal sie so lange verschont hatte. Stöhnend stand sie vom Sofa auf, ging auf den Flur und öffnete die Kellertür. Wie schon in der alten Fischerkate, hatte sie auch hier das Marmeladenglas mit dem Fingerhutgift im Keller versteckt, ganz unten in dem großen Regal, hinter den Gläsern mit dem Eingemachten.
Sie war sicher, dass das Gift nichts von seiner Wirksamkeit verloren hatte. Gut, dass sie es aufbewahrt hatte, sie hatte damals ja nicht einmal die Hälfte verbraucht.
Mühsam stieg sie die Kellertreppe hinab, knipste das Licht an und ging zu dem Holzgestell mit den Einweckgläsern. Sie fand das Marmeladenglas sofort. Es war staubig und voller Spinnweben. Vorsichtig trug sie es die Treppe hinauf in die Küche. Mit einem feuchten Tuch wischte sie es sorgfältig ab. Die trübe Flüssigkeit im Innern des Glases sah noch genauso aus wie damals. Sie öffnete es. Der bittere Geruch war ebenfalls noch derselbe. Sorgsam verschloss sie das Glas wieder. Dann trug sie es ins Schlafzimmer, wo noch immer das Doppelbett stand, in dem Franz und sie so viele Jahre geschlafen hatten, und stellte es in das Nachtschränkchen.
Anna war vorbereitet.

 

Hallo Konstantina,

Herzlich willkommen mit Deiner ersten Geschichte bei den Wortkriegern!

Ich habe Deine Geschichte gerne und in einem durch gelesen. Da ich eigentlich kein Fan von Krimis bin, soll die Geschichte schon so fesselnd sein, dass ich dabei bleibe. Also schöne und gut lesbare Geschichte.

Zu Beginn habe ich bei den Rückblen den gestockt, da sie textlich nicht hervorgehoben sind. Aber es wird aus dem Inhalt schnell deutlich.

Also nix zu meckern.

Herzliche Grüße

jobär

 

Hola Konstantina, hola und willkommen!

Nach wenigen Zeilen muss ich Dein Profil anklicken: Logo – sie ist eine Professionelle.

Liest sich total gut, woraus folgt, dass aus neugierigem Überfliegen interessiertes Lesen wird. Klasse gemacht. Glückwunsch!

Aus meiner Sicht ist Deine Geschichte beispielhaft für eine gelungene Kurzgeschichte und erfüllt spielend alle Anforderungen unserer Zuchtmeister. Ohne Talent und Fleiß geht gar nichts, aber dass ein entsprechendes Fernstudium zu solchen Leistungen verhelfen kann – und das muss so sein, sonst hättest Du es nicht erwähnt – will mich etwas lehren.

Auch wenn ich mich wiederhole: Kompliment!

Joséfelipe
(Leser, nicht Autor – denn da muss er noch viel lernen.)

 

Hallo Konstantina!

Schön, dass du den Weg zu uns Wortkriegern gefunden hast. Hier ist alles gratis - aber bestimmt nicht umsonst.

Also, dann ran an den Speck (okay, davon ist an dem Skelett wohl nichts mehr dran) - und natürlich möchte ich dir vorher noch sagen, dass die folgende Kritik Kritik an deinem Text ist, und dass diese Kritik nur meine Meinung ist, nicht persönlich zu nehmen ist usw, usf ...

Zuerst: deine Protagonistin hat einen Namen. Warum nennst du ihn nicht schon am Anfang deines Textes? Namen sind für den Leser immer besser zur Identifikation als anonyme Ers und Sies.

Hierzu: „mysteriösen Skelettfund im Wattenmeer“ wünsche ich mir mehr Details. Du hättest hier ja Gelegenheit, den Zeitungsbericht, oder zumindest einige Zitate daraus zu zitieren.
(Meine Frage zu dem Szenario wäre folgende: die haben wirklich ein komplettes Skelett dort gefunden? Nach fünfundsechzig Jahren und bei stetiger Wasserbewegung?)

"Ebbe so weit ins Watt hinausgehen, dass sie nicht rechtzeitig zurück an Land sein würde, bevor die Flut kam. Oder sie könnte eins der kräftigen Seemannstaue nehmen, es im Keller um einen der Balken binden und sich erhängen. Oder sie könnte ein scharfes Fischmesser"
=> Du benutzt sehr viel Lokalkolorit, bleibst aber gleichzeitig sehr vage. Den Ort näher zu benennen, wäre keine schlechte Idee. Und wenn Details, warum dann so allgemeine, die jedermann mit Wattenmeer/Küste verbindet (Taue, Fischmesser, Deich, Fischerdorf, Touristen, Geschäfte ...)? Beschreibe doch lieber Besonderheiten.

Das Wichtigste:
Sicherlich hast du in deinem Fernstudium etwas von "show, don't tell" gehört. Das möchte ich dir wärmstens für deinen Text empfehlen. Bring Dialoge rein und Gefühle! Anna wird vergewaltigt, verheiratet, verprügelt ... und du schreibst das alles nüchtern nieder. Da kann ich kaum mitfühlen.

Annas Familiengeschichte (dritter Abschnitt) finde ich langweilig. Es ist eine Familiengeschichte, die mir fast jeder, dem ich auf der Straße begegnet, erzählen könnte.
Auch hier gilt: Besonderheiten! (Oder radikal wegstreichen.)

Zur Leichenbeseitigung: Eine Schubkarre (beschwert mit einer Leiche) ins Watt zu schieben, dürfte so gut wie unmöglich sein. Allein einen Schlickschlitten im Watt zu bewegen, bedarf einer irren Kraftanstrengung. Das Rad einer Schubkarre dürfte sofort einsinken und dann kaum noch zu bewegen sein.

Und zum Gift: Ich selbst würde niemals eine Giftmord-Geschichte schreiben, weil ich mich mit Wirkung/Wirksamkeit/Auswirkungen nicht auskenne, und das kaum so zu recherchieren ist, dass man Wirkung ... auch akkurat beschreibt. (Soll im Klartext heißen, dass ich dir nicht abkaufe, dass Hinrich nichts vom Gift merkt und dann netterweise sofort und ohne besonderes Trara stirbt.)

So, ich hoffe, meine Kritik war dir nicht zu drastisch. Ich kann ja noch anfügen, dass deine Rechtschreibung nichts zu wünschen übrig lässt, und auch der Lesefluss ohne Tadel ist.

Grüße,
Chris

 
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Wow, so viel Lob! Danke für das Willkommen! Nein, ich bin keine Professionelle, allenfalls eine motivierte Anfängerin. Und wenn du genau überlegst: Was würdest du alles ändern an meinem Text?

Würde mich freuen, wieder von dir zu hören!
Konstantina


Hallo Jobär!

Danke für das "nix zu meckern". Möchtest du nicht noch näher auf meinen Text eingehen? Sicher findest du dann doch das eine oder andere.

Liebe Grüße
Konstantina

(@Konstantina: bitte eigene Beiträge, die aufeinanderfolgen, zu einem Beitrag zusammenfassen.)

 

Hallo,

ich kann mich dem Lob nicht anschließen. Das ist eine Nacherzählung, die ich nicht durchlesen konnte, weil da nichts passiert. Da ist kein Leben drin. Der Leser muss das alles so annehmen. Die Rückblenden halte ich für schwierig, die nehmen das ohnehin kaum vorhandene Tempo noch mehr raus. Ich glaube auch, dass da ein Zeitfehler drin ist. Mich stört vor allem, dass es hier keine Figuren gibt. Es gibt keine Dialoge, keine Szene, nichts, wo ich irgendjemanden, das Personal deiner Geschichte, spüren, hören, wahrnehmen kann.

Konstruktiv: Verknappen, linear erzählen, szenisch erzählen, Dialoge, als Autor zurücktreten und den Figuren mehr Platz einräumen.

Und auch hier im Forum andere Geschichten kommentieren.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Chris Stone!

Vielen Dank fürs Lesen und für deine Kritik an meiner Geschichte. Ich werde bestimmt nichts übelnehmen oder missverstehen ... :-)

Ich kann deine Kritikpunkte in gewisser Weise nachvollziehen, möchte aber auf das eine oder andere eingehen, ohne meine Geschichte mit Zähnen und Klauen verteidigen zu wollen.

Ich habe tatsächlich einen Zeitungsartikel zum Anlass genommen, in dem berichtet wurde, das im Wattenmeer vor der Insel Norderney ein Skelett gefunden worden ist. Da es nur noch ein Knochengerüst war, muss die Leiche schon ewig lange dort gelegen haben, warum also nicht 65 Jahre? Also habe ich meine Geschichte darum herum gesponnen ...

Nährere Einzelheiten zu dem Fund, z. B. wer das Skelett gefunden hat, unter welchen Umständen usw. hätten wahrscheinlich nur von der eigentlichen Geschichte weggeführt.

Besonderheiten beschreiben: Es war nun mal ein einfaches, alltägliches Leben, das meine Protagonistin führte. Der betont einfache Stil und die einfache Sprache spiegeln die Schlichtheit der Frau wieder. Da sie sich nur an die wirklichen Geschehnisse in ihrer Vergangenheit erinnert, gibt es auch keine Dialoge.

Ja, du hast Recht, Annas spätere Familiengeschichte ist langweilig. Aber genau das war für sie das perfekte Leben!

Okay, das mit der Leichenbeseitigung klingt unwahrscheinlich. Aber es ist nicht unmöglich, wenn man die Umstände bedenkt ...

Das mit der Wirkung des Roten Fingerhutes stimmt, habe ich recherchiert.

Doch etwas anderes: Wie gefällt dir der Schluss?

Liebe Grüße

Konstantina

 

Hallo Jimmy!

Danke für deine Kritik! Das ist ja ein ganz schöner Rundumschlag. Ich werde darüber nachdenken.

Ich habe mich erst vorgestern in diesem Forum angemeldet und komme mit dem Lesen der vielen interessanten Kurzgeschichten und Kommentare gar nicht nach. Wenn ich soweit bin, werde ich mich selbstverständlich auch am Feedback beteiligen.

Lieben Gruß
Konstantina

 

Nochmals hallo Konstantina!

Schön, dass du auf ein paar Punkte aus meiner Kritik eingehen möchtest. Für das Geschichten einstellen, kritisiert werden, Kritik überdenken (und man muss wirklich nur das aus der Kritik übernehmen, was einem einleuchtet) und am Text arbeiten ist dieses Forum schließlich da.
Und da das hier die Wortkrieger sind, ist das Ganze auch keine einseitige Sache, soll heißen, wir Kritiker melden uns gerne noch mal, wenn wir denken, dass etwas unklar geblieben ist.

Okay, wenn ich dich richtig verstehe, hast du alles mit Absicht gemacht, das Langweilige langweilig geschrieben, weil es nunmal langweilig ist, das Besondere weggelassen, weil es nunmal nichts Besonderes gibt.
=> Das glaube ich dir; ich habe so ein Argument nämlich schon öfter gelesen.
=> Aber: Dass du mit Absicht Langweiliges, nichts Besonderes ausbreitest, finde ich viel ärger, als wenn du das nicht beabsichtigt hättest. Hättest du es nicht beabsichtigt, würdest du dir den Text nach meiner und jimmys Kritik ansehen und vielleicht daran arbeiten.
Stattdessen sagst du: beabsichtigt, also gut. => Okay, deine Meinung, vielleicht kann ich dir einfach nicht weiterhelfen.
Ich kann dir nur sagen, dass ich keine langweiligen Geschichten lesen möchte - und da dürfte mir die Mehrheit der Krimileser (Spannungsliteratur!) beipflichten.

Ich denke, du hast gute Grundlagen für das Schreiben von Geschichten. Aber dir fehlt auch noch einiges, zum Beispiel das Wissen, was eine verdammt gute Geschichte ausmacht. Das dauert, bis man sich das erarbeitet hat (jedenfalls nach meiner Erfahrung). Wäre schade, wenn du auf deinem jetzigen Level verharren würdest.

Ein langweiliges Leben (oder eine langweilige Begebenheit) so zu beschreiben, dass es für den Leser spannend zu lesen ist - das ist hohe Kunst. Daher schreiben die meisten Amateure bevorzugt über Spannendes/Besonderheiten.

Zu deiner Frage, wie ich das Ende der Geschichte finde:
Mal abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass sich das Gift in dem Gläschen 65 Jahre gehalten haben sollte, habe ich das Ende nicht wirklich verstanden. Soll ich aus "Nachtschränkchen" und "vorbereitet" schließen, das Anna sich umbringen will? Im Falle von was? Dass die Polizei bei ihr an der Tür klingelt? Oder dass sie sich umbringen will, weil sie alt ist, und ihre Familie sich überallhin verstreut hat? Oder soll es etwas gänzlich anderes bedeuten? Ist mir, wie gesagt, nicht klar.

So, wie ich sehe, hast du schon einen weiteren Krimi gepostet. Ich werde mal reingucken (und hoffe natürlich, dass du nicht wieder mit voller Absicht ein langweiliges Leben beschrieben hast).

Grüße von Chris (die sich bevorzugt auf Krimis stürzt)

 

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