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Das Stigma

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07.01.2002
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Das Stigma

Das Stigma

Eine wahre Begebenheit

Mein Blick war eingeschränkt und doch geschärft.
Die Blicke, die mich trafen, sahen viel mehr, als es eigentlich zu sehen gab.


Prolog

Daß mein Opfer noch lebt, soll mir nicht als Entschuldigung dienen. Ob es bleibende Schäden davongetragen hat, weiß ich nicht. Ich habe nie daran gedacht, sie noch einmal aufzusuchen, um mich über ihren Gesundheitszustand zu informieren oder sie gar um Entschuldigung zu bitten. Aber ich bereue, das stimmt.
Aus einem nichtigen Grund heraus begann ich die Auseinandersetzung. Einen so geringen Vorteil erhoffte ich mir zu verschaffen, daß manch einer dafür nicht einmal den kleinen Finger rühren würde. Ich war nicht ganz bei Sinnen. Mein Opfer war mir körperlich so weit unterlegen, daß es einem die Schamesröte ins Gesicht treiben müßte. Doch wehrlos war sie nicht. Die Schmerzen und die Todesangst, in die ich sie versetzt habe, trieben sie wohl dazu, mich so empfindlich am Auge zu treffen, daß ich von ihr abließ und sie fliehen konnte. Ich weiß bis heute nicht, ob ich froh sein soll, daß sie entkommen ist, sie, in ihrer grenzenlosen Unschuld.
Ich bereue, ja, ich bereue, doch ich glaube, ich würde immer wieder so handeln.


Das Stigma

Wenn man genau hinsieht, erkennt man noch heute eine leichte Schwellung und Rötung direkt ums Auge herum. Noch vor zwei Tagen war ein nicht geringer Anteil meiner rechten Gesichtshälfte verfärbt und das Auge selbst so stark zugeschwollen, daß sich, da ich nur auf dem linken Auge stark kurzsichtig bin, mein Blickfeld ungewöhnlich verändert hatte. Kniff ich darüber hinaus das linke Auge zu, so hatte ich die künstliche Nachahmung eines Tunnelblickes, der wohl einen solchen Rausch erfordert, daß man sich sonst nur selten an einen so gewonnenen visuellen Eindruck erinnert kann. Darüber hinaus war der Bildausschnitt, der für mich noch sichtbar war, im Gegensatz zu dem in einem Vollrausch wahrgenommenen, gestochen scharf und zeigte nicht die Tendenz, sich von selber zu bewegen, zu drehen oder zu verändern. Soviel zu der für mich veränderten Sichtweise der Dinge.

Interessanter ist zu beobachten, wie mein veränderter Anblick von meinen Mitmenschen aufgenommen wurde, die weiterhin einen ungetrübten Blick auf die Vorstellungen des Lebens warfen. Bekannte oder gar Freunde konnten natürlich nicht umhin, wenn auch mit einem erstaunten oder hämischen Unterton, zu fragen, mit wem ich mich denn geprügelt hätte. Als ob es gar nicht in Betracht käme, daß ich, der ich gezeichnet bin, völlig unschuldig und ohne eigenes Fehlverhalten wegen einer Nichtigkeit geschlagen wurde. Das war zwar nicht der Fall, aber daß ich immer nur diese eine Frage zu hören bekam, wurmte mich schon, denn meine überaus friedliebende Natur und meine Scheu davor, auch nur in die Nähe einer kör-perlichen Auseinandersetzung zu geraten, sollten doch bekannt sein. Aber gut, diesen Menschen konnte ich immerhin berichten und erklären, was sich zugetragen hatte, natürlich nicht ohne einige male zuvor spaßeshalber eine Räuberpistole von der Errettung einer jungen Dame in Not zu erfinden.

Doch die ganzen Unbekannten. Menschen, deren verächtliche Blicke man fühlt. Menschen, deren Anflug von Angst man spüren kann, wenn man ihren Weg an einer menschenleeren Stelle kreuzt. Unbehagen bei Mitreisenden im Zugabteil. (Vielleicht hätte ich mich in den Großraumwagen setzen sollen?) Sogar Anerkennung. Von einem Wirt, der dafür bekannt ist, Gewalt zur Durchsetzung seiner Interessen nicht hinten anzustellen.
Aber wieso? Die Errettung der jungen Dame liegt ja nicht außerhalb des möglichen. Mein Auge hätte Zeichen und Zeugnis eines Heldentums sein können. Die Leute hatten ja recht, was mir widerfahren ist, ist alles andere als heldenhaft gewesen, aber das konnten sie ja unmöglich wissen. Ein unglücklicher Sturz, das hätte alles sein können.
Hilflos geht man umher. Man würde gerne jeden einzelnen, der einen anstiert, anhalten und seine Geschichte erzählen. Doch selbst in Situationen, die sich dafür anböten, erzählt man nicht ungefragt von seinem Schicksal.
Glaubten sie, es mir ansehen zu können? Ich sah nur, wie sie mich ansahen. Ich glaube selber, daß man vom ersten Eindruck her den Charakter eines Menschen erfahren kann. Wieso konnte man es bei mir nicht mehr? Oder beruht das ganze nicht, wie ich bisher dachte, auf einer bestimmten Ausstrahlung, sondern auf bloßen Äußerlichkeiten wie Kleidung und nicht zuletzt Verletzungen, die weit weniger selbst gewählt und dauerhaft sind als ein bestimmter Kleidungsstil? - Wie oft habe ich mich danach gesehnt, daß mich jemand Fremdes fragen würde, was mit meinem Auge passiert ist. Sie taten es nicht. Sie hatten ihr Urteil gefällt, und genau das hielt sie davon ab, mich anzusprechen.


Mein Blick war eingeschränkt und doch geschärft.
Die Blicke, die mich trafen, sahen viel mehr, als es eigentlich zu sehen gab.

Doch was hätte man wirklich sehen können?


Die Tat

Vor vier Tagen, um genau acht Uhr morgens, wurde ich äußerst unsanft geweckt. Von da ab nahm mein Schicksal, wie geschildert, seinen Lauf.

Ich schlief nach einem in netter und anregender Gesellschaft verbrachten Abend den Schlaf des Gerechten. Das Bett teilte ich mir mit zwei Schönheiten, die zu meiner rechten und linken in meinen Armen schliefen. (Wirklich nur schliefen.) Es gibt bestimmt einen weisen Ausspruch, der besagt, daß zwei Frauen und ein Mann in einem Bett eine Frau zuviel ist, ein Unglück verheißen oder so ähnlich. Das hat sich bewahrheitet. Auf der anderen Seite heißt es natürlich: Wer schläft, sündigt nicht.
Doch weiter. Des Morgens, so sollte mir später klar werden, waren wir zu viert im Bett, was das eigentliche Verhängnis war, gepaart mit der Tatsache, daß ich mich während der Nacht wohl des öfteren von der einen auf die andere Seite drehte, was wiederum an der oben geschilderten Anordnung lag. Obwohl, oder gerade weil ich nicht lange in dem jede bewusste Aufnahme zunichte machenden Tiefschlaf verweilte, habe ich so gut geschlafen wie schon lange nicht mehr. Aber ich schweife ab. Um es kurz zu machen: Um genau acht Uhr morgens wälzte ich mich von der linken auf die rechte Seite. Die bis dahin frei gewesene rechte Hälfte meines Kopfkissens war jedoch schon besetzt. Von einer Wespe.

Sie stach mich dicht neben mein Auge, was im Laufe dieses und des folgenden Tages immer mehr zuschwoll. Ein daraufhin konsultierter Arzt konnte nichts bedenkliches feststellen und meinte sogar, das sei für einen Wespenstich eine ziemlich geringe Reaktion. Das war wohl ein großes Glück, muß man doch folgern, daß das, was mir in der Folgezeit widerfahren sollte, ebenfalls nur geringe Reaktionen waren.

 

Mhmm, die Geschichte hat mich wirklich gefesselt und interessiert, ich las lechzend nach mehr... das Ende ist zwar ueberhaupt nicht abzusehen, aber dennoch ziemlich unbefriedigend :( Schade, ich haette jetzt einen richtigen Kracher erwartet, nicht nur eine harmlose kleine Wespe.
Der Stil war fluessig und du hast es auch geschafft, Spannung zu erzeugen, leider ist die Beantwortung auf die Frage nach der Tat enttaeuschend...

 

Hi lil_wismo,

daß die Tat so unbedeutend ist, ist die Quintessenz der Geschichte. Ansonsten gäbe sie - außer dem flüssigen Stil (danke!) - überhaupt nichts besonderes her. Du hast natürlich recht, die erzeugte Spannung wird nicht befriedigt - soll sie aber auch nicht. Deshalb bleibt die Frage, ob "Spannung" das richtige Genre für die Geschichte ist. Dieses ist jedoch am geeignetsten, den Leser, wie auch Dich, in den Glauben an eine schreckliche Tat zu versetzen und somit unfreiwillig in die Rolle all derer zu versetzen, die mich wie damals, ohne zu wissen, was passiert ist, vorverurteilten.

Viele Grüße aus Marburg

 

Die Story ist meines Erachtens genial.....wobei das Ende wirklich ziemlich unerwartet und unbefriedigend zugleich ist....aber insgesamt : Super ! :eek:

 

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