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Das vergessene Federmäppchen
Das vergessene Federmäppchen
Milena hatte Angst, verstand das alles nicht. Noch gestern war sie, wie an jedem Wochentag, zusammen mit Damir, ihrem Freund von gegenüber, in die Schule gegangen. Sie hatten anschließend in ihrem Zimmer die Hausaufgaben erledigt, später dann zwischen den Weinstöcken gespielt und bei ihm zuhause zu Abend gegessen. Burek hatte es gegeben, Burek, gefüllt mit Schafskäse und Kartoffeln.
Heute hatte sie ihre Nachbarn kaum wiedererkannt. Alle in der Straße hatten früh morgens mit gleichförmig starren Gesichtern die Fenster ihrer Häuser mit Brettern oder Platten vernagelt, Tische und Stühle aus den Vorgärten und unter den Terrassen weggeräumt. Auch waren alle Autos verschwunden, die sonst in den Einfahrten oder am Rande der schmalen Straße geparkt waren. Bevor ihr Vater zur Arbeit gegangen war, hatte er ihnen verboten, das Haus zu verlassen. Selbst in die Schule hatten sie nicht gehen dürfen. Ihre Mutter hatte den ganzen Morgen über Koffer und Taschen gepackt und auf ihre Frage, was denn geschehen sei, nur ausweichend geantwortet. Papa würde ihnen alles erklären, wenn er von der Arbeit käme.
Da Vater ihr Fenster zur Straße hin nicht verbarrikadiert hatte, hockte Milena auf der Fensterbank und hielt Ausschau nach ihm. Die Aprilsonne stand schon hoch am wolkenlosen Himmel, und doch bot sich ihr ein trostloses Bild. Keine der Frauen aus der Nachbarschaft saß wie üblich draußen, putzte Gemüse, trank Kaffee bei einem Schwätzchen oder hängte Wäsche auf eine Leine. Kein Kind war zu sehen und auch nicht einer der vielen Hunde, die sonst stets frei umherliefen.
In den Vorgärten und auf der unbefestigten Straße, deren Schlaglöcher provisorisch mit Dreck und Steinen aufgefüllt waren, regte sich nichts. Es wirkte unheilvoll gespenstisch.
Das Klappern der Terrassentür unterbrach die Stille. Ihr Vater war heute durch den Weingarten, der sich hinter ihrem Haus bis hin zur weit entfernten Parallelstraße erstreckte, von seiner Arbeitsstelle aus zurück nach Hause gekommen. Er nahm seine Dienstmütze ab, ging quer durch das Wohnzimmer und hängte sie zusammen mit seiner Uniformjacke im Flur auf. Sie vermisste sein fröhliches Lächeln, als er ihr leicht über das Haar streichelte.
„Alles klar, mein Sohn?“, begrüßte er ihren Bruder knapp und gab Mutter, die inzwischen von oben die Treppe herunter gekommen war, einen Kuss auf die Wange.
„Viel kann ich euch noch nicht sagen“, begann er ernst, „eines steht aber fest: Jetzt ist auch Krieg in Bosnien! Sarajevo wird schon seit gestern angegriffen und auch in Mostar hat es heute Schießereien gegeben. Übermorgen werde ich euch zu Tante Miranda ans Meer fahren, da ist es sicherer.“
Sofort fragte Milena ängstlich:“ Und du, du gehst auch mit, oder?“
„Zunächst muss ich hier bleiben“, antwortete Vater. „Ihr braucht euch keine Sorgen machen, hier unten bei uns wird wohl nichts passieren. Dann kann ich euch auch bald wieder abholen.“
Milena und ihr Bruder waren in ihr Zimmer gegangen und Vater und Mutter saßen noch bis in die Nacht hinein und redeten miteinander. Mit einem Mal kam Milena schlaftrunken die Treppe hinunter.
„Papa, ich muss aber morgen aus dem Haus, zu Damir und ihm das hier bringen“, sagte sie mit weinerlicher Stimme und zeigte eine Federmappe vor, „er hat sie gestern hier vergessen.“
„Das machen wir zusammen“, beruhigte sie ihr Vater, „mein Dienst beginnt erst am Mittag.“
Da Mutter am Abend nicht wie sonst Brot gebacken hatte, war Vater schon früh am nächsten Morgen in die Stadt gegangen, eines beim Bäcker zu kaufen. Bei seiner Rückkehr betrat er das Haus wieder durch die Terrassentür. Er wirkte noch ernster und nachdenklicher als am Tag zuvor. Während des Frühstücks sprachen sie kaum ein Wort. Dann, für alle unvermittelt sagte er bestimmend: „Ich werde jetzt zur Dienststelle gehen und mir heute und morgen frei nehmen. Wenn ich zurückkomme, fahre ich euch zur Tante!“
„Was ist geschehen?“ Milenas Mutter sah ihren Mann besorgt an.
„Komm mit“, forderte er sie auf, verließ den Frühstückstisch und ging in das Wohnzimmer und dort zum Fenster.
„Das ist geschehen“ sagte er Kopfschüttelnd und zeigte nach draußen auf die Straße. Milena und ihr Bruder waren ebenfalls aufgestanden und ihren Eltern gefolgt. Sie schauten hinaus und verstanden nicht was das da sollte. Jemand hatte in der Mitte der Straße eine Linie gezogen. Das frische Weiß der Kalkfarbe hatte sich mit Staub und Dreck vermischt und war hier und da, mal zur einen Straßenseite, mal zur anderen hin verlaufen.
„Sieht aus, als habe jemand einen Stacheldraht da hingelegt“, sagte Mutter entsetzt und bevor jemand eine Frage stellen konnte erklärte Vater mit Ärger in seiner Stimme: „Dieser Strich soll uns trennen. Bis hier her und nicht weiter bedeutet das, bleibt wo ihr seid, das ist die Grenze! An der Hauptstraße, unten am Ende unserer Straße haben sie sogar schon Betonbarrieren aufgestellt und kontrollieren den Verkehr.“
„Aber wir sind doch eine Stadt!“, protestierte Milenas Bruder.
„Bisher waren wir sogar ein Land. Doch jetzt ist das da drüben Bosnien und hier ist Kroatien“, sagte Vater.
Um Milena und ihrem Bruder ein wenig die Angst zu nehmen, fuhr er dann ruhiger fort: „Ihr könnt ein wenig nach draußen, bleibt besser hinter dem Haus. Aber überschreitet auf keinen Fall diese dreckige Linie!“
Milena hatte lange mit Ihrer Puppe hinter dem Haus gespielt. Dabei musste sie ständig an das Federmäppchen von Damir denken. Der Ärmste konnte nun nicht schreiben und nicht malen. Da Papa gesagt hatte, wenn er zurück sei, würden sie sofort losfahren, fasste sie einen Entschluss. Sie würde das Federmäppchen aus dem Haus holen, ganz vorsichtig bis an die weiße Linie gehen und dann Damir rufen. Der würde kommen, und sie konnte es ihm hinüber werfen. Und so machte sie es auch. Vorsichtig näherte sie sich der Grenze in der Mitte der menschenleeren Straße. Schon in einigem Abstand dazu rief sie erst leise und dann ganz laut und mutig Damirs Namen. Als sich nach einem weiteren Versuch nichts auf der anderen Seite regte, trat sie noch näher an die Linie heran. Vorsichtig blickte sie nach unten. Da war noch etwas Platz zwischen ihren Schuhspitzen und der weißen Farbe. So schlurfte sie Millimeter für Millimeter weiter bis, bis ein Schuh die Linie berührte.
Damirs Vater war Zöllner. Bisher hatte er in der vierzig Kilometer entfernten kroatischen Hafenstadt Ploce gearbeitet. Da er auf der bosnischen Seite ihrer Straße lebte, würde er seinen Dienst nun an der neuen Grenzstation auf bosnischer Seite verrichten müssen. Milenas Vater war Postbote. Sein Zustellbezirk lag im bosnischen Teil der Stadt. So war klar, dass sich auch bei ihm etwas ändern würde. Er war zurück gekommen und beriet mit Mutter, wie sie am besten das Gepäck durch die Weinreben zur Parallelstraße schaffen konnten, wo Vater ihr Auto abgestellt hatte. In ihre Straße hatte man ihn nicht hineinfahren lassen. Auch wenn er ansonsten über die Schlaglöcher in der Straße geschimpft hatte, heute hätte er sie gerne in Kauf genommen.
„Und was ist nun mit der Post für deinen Bezirk?“, wollte Mutter wissen.
„Die wird erst einmal gesammelt, denn es gibt keine Stelle drüben, an die wir sie weitergeben könnten. Aber warum fragst du?“
„Du weist“, antwortete Mutter, „Sie warten drüben auf ihr Visum für Amerika, um ihre Familie dort zu besuchen. Sie haben so lange dafür gespart, und Damir kennt seinen Onkel nur von Bildern. Könntest du nicht ...?“
„Nein, kann ich nicht!“, unterbrach Vater wirsch, „ich arbeite bei der Post, da gelten strenge Vorschriften; abgesehen davon habe ich diese idiotische Linie nicht gezogen!“ Er stand auf und ging zum Fenster.
Mutter sah ihm erstaunt nach, so böse hatte sie ihren Mann noch nie erlebt.
Milena erschrak furchtbar und zog abrupt ihren Fuß zurück. Irgendetwas Schlimmes geschieht jetzt, kam es ihr in den Sinn, und scheu blickte sie nach links und rechts. Doch nur Hundegebell drang an ihr Ohr, sonst blieb alles ruhig. Sie blickte auf die Linie vor ihren Füßen. Da, wo ihre Fußspitze diese berührt hatte, gab es keine Farbe mehr. Was hatte ihr Vater gesagt? ‚Überschreitet auf keinen Fall diese Linie!’ Mach ich auch nicht, dachte Milena und wischte mit Ihrer Schuhsole solange über die Farbe vor sich, bis nur noch die Erde zu sehen war. Fast gleichzeitig hörte sie von gegenüber leise ihren Namen rufen.
Behutsam ging sie durch die Lücke in der Linie zu Damir hinüber, dessen Kopf hinter einem Pfeiler der Terrasse hervorlugte. Sie war noch nicht bei ihm angelangt, da rief dieser: „Mili, da, dein Vater!“ Sie drehte sich um und wollte gerade erklären, dass sie nicht über die Linie gegangen sei, da hatte ihr Vater die Mitte der Straße erreicht, wischte so wie sie die Farbe weg und ging auf Damirs Vater zu, der ihm entgegen kam. Beide umarmten sich und Vater, der seine Postuniform trug, nahm aus seiner ansonsten leeren Posttasche einen Brief heraus und reichte ihn seinem Gegenüber.
Das war der vorläufig letzte Tag in ihrer Straße, denn bald darauf gab es einen furchtbaren Krieg. Nachdem Milenas Vater sie, ihren Bruder und ihre Mutter zur Tante ans Meer gebracht hatte, musste er ein paar Tage später zum Militär. Auch Damirs Vater wurde Soldat. Seine Frau aber und Damir verbrachten die Zeit des Krieges in Amerika. Mehr als zwei Jahre später kehrten alle nach Hause zurück. Sofort erkannte Milena jeden wieder, denn die Starre war aus den Gesichtern gewichen und sie blickten freundlich wie früher.
Und obwohl die eine Seite der Straße heute zu Bosnien und die andere zu Kroatien gehört, gibt es in dieser Straße keinen Grenzzaun, auch keine trennende Linie mehr. Das einzig Neue ist, die Straße wurde inzwischen asphaltiert.