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Das Verhör einer notorischen Lügnerin
Man machte es zum Stadtgespräch. Es lag an der Ungeheuerlichkeit dessen, was ihr geschah. Hauptsächlich aber waren es die Umstände, die zur Ungeheuerlichkeit erwuchsen, weil niemand der Zuhörer ihrer Geschichte und dem damit verbundenem Unrecht, welches ihr angetan wurde, Glauben schenken wollte. Es ist inzwischen lange her, als es geschah. Wahrnehmungen, Ängste der Menschen vor der Möglichkeit des Verbrechens, das nicht nur anderen geschehen kann, sondern einem selbst, sind der Grund hierfür, es niederzuschreiben. Es soll sich um das Jahr 1980 herum in jener Stadt so zugetragen haben und der Kampf gegen das Vergessen – ja, vielleicht auch ein Kampf gegen das Verbrechen – aber hauptsächlich der Kampf gegen das Vergessen gibt mir den Grund zur Rekonstruktion dieser wütend machenden Geschichte, die mir von jemandem in glaubwürdiger Weise so zugetragen wurde. Niemand maß ihr wirklich historische Bedeutung bei denn verglichen mit den wirklich wichtigen zeitgeschichtlichen Geschehnissen zu jener Zeit war dieser Vorfall nur Nebensache und keiner Zeitungsnotiz wert. Die Betroffenen, seien es die Täter wie das Opfer, bleiben uns in Namen gänzlich unbekannt. Und sei es auch nur ein Gerücht gewesen. Es begann dann ganz in der Nähe der Straßenbahnhaltestelle, von der sie die junge Frau damals aufgegriffen hatten und sie begann in anzunehmender Weise mit dem lauten Motorgebrause eines alten, ungepflegten Personenkraftwagens, der eines Nachts mit überhöhter Geschwindigkeit die Straße vom Zentrum herkommend stadtauswärts unterwegs war und an einer unbelebten Stelle der Strecke plötzlich scharf bremste.
Effetvoll stieß einer von ihnen die rechte Hintertür des Wagens auf und sprang auf den Bürgersteig. Die kräftige Männergestalt beugte sich zurück in das Fahrzeug, schnappte nach ihr und zog sie mit rohen Griffen heraus. Sie war nicht bewusstlos, lediglich schwer benommen und er tat ihr weiterhin Gewalt an, als er sie schonungslos auf den Bürgersteig zerrte. – „Halte das Maul!“, warnte er sie, sich etwas zu ihr herabbeugend und er prustete sehr dabei um sie nachhaltig einzuschüchtern. – „Es war nicht schlimm, was Dir geschah und es war doch schön, hast du gesagt und beweisen kannst du sowieso nichts. Es ist sinnlos darüber zu reden. Hast Du gehört?“, drohte er ihr zynisch während die anderen Männer im Fahrzeug sehr unruhig geworden waren; der eine, auf der Rückbank sitzende, jüngere Mann streckte sich heraus und rief nach seinem Komplizen: „Beeilung! Sonst stehen wir übermorgen noch hier.“
Sie war ganz fertig und wusste nicht was ihr eben geschah als der Kerl wieder im Fahrzeug verschwand und die Tür hart zuknallte. Im selben Moment quietschten die Räder und das Auto verschwand auf der kaum befahrenen Straße in Richtung Nordstadt und die Männer ließen sie allein, auf dem schmutzigen Bürgersteig, zurück. Sie konnte nicht mehr. Zuerst wandt sie sich und ihr Bein, mit dem sie auf der Bordsteinkante so hart aufgeschlagen war, hatte sie mit beiden Händen umfasst und daran gerieben, um den Schmerz zu vertreiben, den ihr ein Stoß beigebracht hatte. Aus ihrem Gewimmer entwickelte sich zunehmend ein untröstliches Schluchzen und sie war froh, jetzt allein gelassen zu sein damit sie endlich begreifen konnte, dass sie wirklich noch lebte. Langsam erhob sie sich und sie setzte sich auf den kalten Boden, brach erschöpft mit dem Oberkörper über ihre eingewinkelten Knie zusammen. Ihre Hände hatte sie vor sich geöffnet und sie bemerkte an ihnen viel Schmutz. Verzagt verrieb sie die Tränen aus ihrem Gesicht. Sie brauchte für sich, gab sich dann einen Ruck und stand vorsichtig auf, rückte sich gerade, bückte sich um den Schmutz von ihrer Jeans wenigstens etwas abzureiben. Die Hose war heilgeblieben, stellte sie im matten Schein der Straßenlaterne fest. Lediglich am Ellenbogen verspürte sie Schmerzen, die von einer Schürfung herrührten und ihre Bluse war auch an dieser Stelle zerrissen. Es fror ihr. Ihre Handtasche, in der sich neben dem Schlüsselbund auch ihr Portemonai befand, hatten sie ihr nicht wiedergegeben und sie fühlte sich auch deshalb restlos aufgeschmissen. Ihre Jacke, die sie jetzt gerne angehabt hätte?
Es dauerte vielleicht zwei Minuten, bis ein weiteres Auto die Strecke entlang fuhr. Sie fasste sofort Mut und aufgebracht, verzweifelt um Hilfe bittend, lief sie dem Fahrzeug entgegen und winkte der Person am Steuer zu. Der Fahrer fuhr zuerst an ihr vorbei, entschied sich dann anders und stoppte sein Fahrzeug dem sie erleichtert zulief. Panisch riss sie die Beifahrertür auf und fragte: „Können sie mir helfen?“ – Der Fahrer sah sie ganz verdutzt an.
„Ist Ihnen etwas geschehen?“, fragte er sie und er wollte sofort wissen ob sie einen Arzt bräuchte. – „Soll ich Sie ins Krankenhaus fahren? Mein Gott wie sehen Sie denn überhaupt aus?“, fragte er weiterhin und er löste spontan seinen Sicherheitsgurt, vergewisserte sich flüchtig, dass kein Fahrzeug käme, bevor er schnell seine Tür öffnete und aus dem Wagen sprang. Er ging entschlossen um das Heck herum und stellte sich zu ihr. - „Was ist los?“, fragte er.
„Ich kann es Ihnen auf die Schnelle nicht erzählen.“, sagte sie zu ihm. Er stützte sich auf die Kante der Wagentür und zeigte mit dem linken Arm auf den Sitz. Er fragte, ob sie sich nicht hineinsetzen wolle. Sie fasste Vertrauen zu ihm und setzte sich zögerlich in den Wagen hinein.
„Sie müssen zum Arzt. Unbedingt.“, sagte er.
„Aber nein ...“, antwortete sie. Er schloss die Tür hinter ihr und begab sich forsch zurück ans Steuer.
„Ein Arzt ist jetzt nicht so wichtig. Ich bin überfallen worden. Aber ich habe keine schwerwiegenden Verletzungen erlitten, das weiß ich genau. Fahren Sie mich bitte umgehend in das nächste Polizeirevier, wenn Sie mir helfen wollen. Die Täter laufen noch frei herum und sie sind sehr gefährlich. Wo ist die nächste Polizeistation? Wissen Sie es?“
„Es ist nicht weit.“, antwortete er. – „Warten Sie, ich fahre Sie schnell dorthin, wenn Sie es meinen. Keine fünf Minuten von hier. Kommen Sie nicht aus dieser Stadt?“, fuhr er fort und drehte dabei den Schlüssel und setzte das Fahrzeug ingang.
„Doch. Ich lebe aber am Stadtrand. Und ich kenne mich hier zwar ganz gut aus aber wann geht man schon einmal zur Polizei. Noch niemals habe ich das nötig gehabt.“, antwortete sie.
Von irgendwo her rauschte es immer in der Stadt. Die Menschen hatten sich längst daran gewöhnt und sie ignorierten es. Die Nacht verlor allmählich ihren Glanz, dort vorne, beim Amüsierviertel, wo die Lichter in den Schaufenstern, die Leuchtreklamen über den Kneipen entlang der Straße, mehr und mehr in Konkurrenz zum hereinbrechenden Tageslicht an Kraft verloren hatten und die wenigen Menschen, die jetzt immer noch in den schmalen Gassen in der Sperrzone unterwegs waren, verfielen langsam einen nachtbedingten Gleichmut durch die Überreizung ihrer Sinne. Mancher von ihnen hatte die ganze Nacht über getrunken und schwankte deswegen seines Weges. Die beiden fuhren ein kurzes Stück geradeaus, bis zur Haltestelle, die er umfuhr, um auf die andere Straßenseite zu wechseln. Mattblau erschien ihm im Dämmerlicht das Hochhaus, oben gegenüber des kleinen mittelalterlichen Friedhofes, dessen uralten Grabmale die Stadtverwaltung unter den Bäumen gelassen hatte, wo jetzt die Fassaden der Häuserzeilen ringsherum allmählich aus ihrem Nachtschlaf erwachten und gräulich aus dem Dunkel der Nacht hervortraten. Er fuhr darauf zu, um dort auf Höhe des Bankgebäudes links abzubiegen um ins Zentrum zu gelangen.
„Sie müssen jetzt keine Angst haben.“, sagte er.
„Wir sind gleich da und sie können mir vertrauen. Es wird Ihnen nichts geschehen. So beruhigen sie sich doch und zittern sie nicht so sehr.“, forderte er sie auf.
„Sie haben gut reden.“, antwortete sie ganz klamm.
„Wenn Sie wüssten, wie mir zumute ist. Und jetzt zu den Bullen.“
„Ihnen wird schon nichts geschehen. Man wird Ihnen helfen. Ich bin davon überzeugt.“, wirkte er beruhigend auf sie ein. Dann schwiegen sie.
„Was fällt Dir ein, so etwas auch noch der Polizei zu sagen?“, fragte er sich ganz in Gedanken versunken. Es war ihm inzwischen glasklar, wie es geschah. Er hatte sich unterwegs ausführlich mit ihren Schilderungen auseinandergesetzt und dabei kam er zu der Einstellung, dass sich Frauen frei bewegen dürfen. Und natürlich bleibt dabei ein Restrisiko von Gewaltanwendung gegen sie. Wenn ihre Werbung natürlich so verstanden wird, dass sie sich außerhalb des Schutzes anderer so freimütig aussetzt, brauche sie sich nicht zu wundern.– Doch. Ganz manierlich sieht sie aus. Gut, etwas verwegen wirkt sie auf ihn aber doch nicht schwerwiegend am Körper verletzt. Sie hatte einfach die Lust dabei verloren. Und dann haben die sie etwas härter angefasst.“, hatte er während der Fahrt überlegt.
„Ich glaube kaum, dass ich da mit ´rein muss.“, sagte er ihr, als er den Wagen bremste und vor der Wache anhielt. Die tiefe Schlucht der hohen Häuser auf beiden Seiten der Straße bedrückte sie. – „Nein. Nein, es ist nicht nötig. Ich gehe allein hinein. Es muss sein.“, antwortete sie ihm.
„Ich bin heute Nacht überfallen worden ...“, sagte sie. Der Mann hinter der Scheibe musterte sie und er schwieg zunächst. – „Überfallen wurden Sie?“, fragte er dann und seine Stimme war sehr streng. Es hatte sie verängstigt aber sie wollte jetzt nicht umfallen. – „Es ist eine ungünstige Zeit. Sie müssen warten. Setzen Sie sich auf die Bank dort an der Wand. Ich werde bescheid sagen. Es wird zur gegebenen Zeit jemand zu ihnen kommen und sie abholen.“ Sie war ganz froh.
Sie platzte gleich damit heraus als sie endlich in dem kleinen Zimmer dem Beamten an einem kahlen Tisch gegenübersaß. Er hatte eine Schreibmaschine vor sich und drehte gerade ein Formular in sie hinein. Er unterbrach sie sofort, als sie zu reden begann und meinte nur: „Moment ´mal. Erst einmal ihre Personalien, junge Frau. So schnell geht ´s ja nun auch nicht."
„Ihr Name ist bitte?“, begann er dann damit, zur fortgeschrittenen Tageszeit eher gleichgültig, ihre Daten zu erfragen.
„ ... und geboren sind Sie im Gebüsch?“, fragte er. Sie hielt inne. Überlegte und fragte dann leise nach:
„Wo ich geboren bin, möchten Sie wissen?“
„Na, nun wo denn?“, fragte er noch einmal. Sie überlegte. Seine arrogante, verächtliche Art hatte Methode.
„Ich bin in Göttingen geboren. Ich wohne erst seit knapp neun Jahren hier. Am 25. April 1947.“, korrigierte sie das Benehmen des Beamten, der dann sagte:
„Und der Grund ihrer Anzeige ist Vergewaltigung. Man hat Sie also vergewaltigt? Heute nacht oder wann sollte das gewesen sein?“
„Ja, vielleicht vor vier bis fünf Stunden, die seither vergangen sind.“, antwortete sie.
„Das ist natürlich ein harter Hammer, den Sie hier zu Protokoll geben. Beweise? Waren sie beim Arzt? Wir brauchen natürlich Atteste. Ist doch klar, nicht?“
„Ja natürlich. Und der Herr, der mich an der Straße aufgegriffen hatte, als ich um Hilfe rief, wollte mich ja auch ins Krankenhaus fahren. Aber ich wollte lieber erst zur Polizeiwache. Wissen Sie ...“, überlegte sie und fuhr dann fort: „..., die Männer sind sehr gefährlich und die laufen noch frei herum.“
Dem Beamten missfiel ihr Auftreten. Er mochte keine Emanzen, so wie er die junge Frau vor sich einschätzte. Inzwischen war es taghell draußen und während er überlegte, viel ihm auf, dass die Deckenleuchte im Raum noch brannte und er stand auf, ging zum Lichtschalter und er drückte hastig das Licht aus. Dann ging er an seinen Tisch und er setzte sich nicht gleich sondern stützte sich auf und lehnte sich ihr entgegen:
„Wissen Sie, es kommen hier alle Tage irgendwelche Tussis an, die meinen, man hätte ihnen ein Leid zugefügt. Und wenn man mit denen spricht, dann merkt man, dass es gar nicht so schlimm war und im Grunde sollte ich die nur trösten. Stimmt es nicht auch mit Ihnen ein wenig so? – Nur, dazu müssen Sie wissen, dass mir meine Dienstzeit viel zu kostbar ist. Ich habe einfach auch noch etwas anderes zu tun, als mir Ihren Herzschmerz anzuhören. Und vergewaltigt fühlen wir uns doch alle einmal, mehr oder weniger. Aber deshalb muss man doch nicht gleich zur Polizei gehen. Dazu schlafen wir uns doch wohl lieber erst mal unseren Rausch aus. Ist das richtig so?“, fragte er abfällig. Es fiel ihr nichts darauf ein. – „ ... aber ich möchte doch sehr bitten.“, hielt sie empört inne. „Die haben mich weggegriffen. Haben mich in ihr Auto gezerrt und sind mit mir weg.“
„Wohin? Woher und wohin sind die mit Ihnen gefahren?“
„Wohin? Ich weiß es nicht. Jedenfalls aus die Stadt hinaus und dann irgendwo in einen Wald. Aber die hatten mich doch schon während der Fahrt so bedrängt.“
„Mit drei Mann waren sie unterwegs?“, fragte er.
„Nein, zu viert waren die.“, antwortete sie während er seinen Stuhl vom Tisch wegdrückte. – „Vier Mann. Dann war das doch ein bisschen doll. Und nun. Von wo haben die sie abgeholt?“
„Wo kamen Sie her? Ich meine, Sie wohnen doch in der Südstadt, haben Sie angegeben. Was wollten Sie also am ganz anderem Ende der Stadt? Dazu gehören doch wohl auch Gründe, nicht war, sich dort einfach an den Straßenrand zu stellen und Leute anzuhalten.“
„Ich höre wohl nicht richtig?“, begehrte sie auf.
„Ich war eingeladen. Bei einem befreundeten Ehepaar, das dort wohnt.“
„Aber die hätten sie doch auch nach Hause bringen können. Oder wenigstens zur Straßenbahn begleiten können, damit Ihnen nichts geschieht.“
„Ja, natürlich. Aber ich wollte es nicht. Wissen Sie, ich war doch gar nicht alleine da. Aber ich wollte früher nach Hause und wollte niemanden damit belästigen. Es ist außerdem schwer genug einen Parkplatz wiederzufinden, wie Sie vielleicht wissen. Wissen Sie, ich halte mich für erwachsen. Und ich brauche nicht immer einen Beistand. Aber deshalb bin ich doch wohl kein Freiwild für sexsüchtige Kerle, die sich Frauen auf offener Straße ergreifen und mit denen machen dürfen, was die wollen.“ – „Abgeholt sagen sie dazu?" - Es hatte sie entsetzt. Dann begann sie langsam zu reden während sie noch überlegte: „Es war doch wohl etwas anderes als von denen abgeholt zu werden. Wissen Sie, ich stand vielleicht erst fünf Minuten an der Haltestelle und habe mir dabei vielleicht auf- und abgehend die Beine vertreten. Also es waren höchstens zehn Minuten, die ich wartete als plötzlich neben mir das Auto anhielt und ein Mann die Tür aufriss und mich schnappte. Er zog mich so unerwartet ins Auto, so dass ich nicht bemerkte, wie mir geschah. Als ich auf den Sitz flog, zog der Typ die Tür zu und der Fahrer gab Gas. – Gib´ mal her, sagte der andere auf dem Hintersitz und er packte mich an den Arm und zog mich über den ersten ´rüber. Der fasste auch mit an und sie zogen mich in ihre Mitte. Der Typ auf dem Beifahrersitz drehte sich zu uns herum und sagte etwas, von wegen, ich solle keine Angst haben und nicht anfangen zu schreien, es hätte sowieso keinen Zweck. Bis wir aus der Stadt heraus waren und bis dahin hatten die mich längst entblößt.“
„Zwei Männer, sagten Sie, haben sie in ihre Mitte genommen? Und zwei saßen vorne? Haben Sie denn wenigsten gekratzt und die ordentlich gebissen? Dann hätten die doch damit aufgehört?“
Sie meinte, diese Frage könne nicht sein Ernst gewesen sein. –
„Ich kann die doch nicht verbeißen, in dem Wagen. Die hätten mich getötet.“, antwortete sie.
Der Beamte schwieg. Dann sagte er: „Na, so einfach ist das auch nicht. Sieht man doch. Besonderes geschehen ist Ihnen augenscheinlich nicht viel. – Wie ging es dann weiter? Wurden Sie nur von den beiden hinten sitzenden geschlechtlich bedrängt? Oder auch von den beiden vorderen? Also, von allen vieren?“
„Ja, ja, natürlich. Und das auch nicht lediglich im Auto. Die zogen mich heraus und schmissen mich auf den Boden. Und sie taten mir Gewalt an. Ich habe mich ruhig verhalten und habe manches über mich ergehen lassen. Ich schrie wohl: Hör` auf. Aber wenn ich nicht nachgegeben hätte, weiß ich nicht was mir geschehen wäre.“
„Müssen Sie aber mit rechnen, nicht wahr, wenn sie an der Haltestelle auf- und abgehen, dass Sie dann auch falsch verstanden werden. Ich sehe da nämlich ein Selbstverschulden, junge Frau. Wie bei all den anderen Flittchen, die hier alle Nase lang angeschissen kommen und Strafanzeige erstatten wollen, wegen nichts. Und wir leiten dann Verfahren ein, die sehr bald im Sande verlaufen, weil man die Tat nicht beweisen konnte oder weil die Täter nicht zu ermitteln sind. Ich fürchte, so wird es auch in Ihrem Falle sein.“
Er rückte mit seinem Stuhl, sah nach unten, so dass sich sein beginnendes Doppelkinn etwas über dem Hemdskragen spannte. Er zog kraftvoll die Schublade unter der Tischplatte hervor und kramte in ihr. Dann schmiss er eine Banderole mit Garn auf den Tisch und wühlte nach einer Nadel in der Schublade, die er scheinbar in Routine darin aufbewahrte. Er fand sie bald und legte sie sich auf den Tisch. Dann schob er die Schublade wieder zu. – „So, nun sehen Sie mal her!“, sagte er barsch. Er nahm die Banderole in seine Hand und zog etwas Faden davon ab und übergab ihn der jungen Frau, die mit großen Augen vor ihm saß und ihren Mund vor Überraschung nicht wieder zu bekam.
„Halten Sie ´mal den Faden!“, sagte er. „Ich mache mit Ihnen mal meinen Lieblingstest. Wissen Sie, der lügt nicht.“ – Er hob die spitze Nähnadel vom Tisch und hielt sie in seiner rechten Hand hoch und hielt das Öhr über die Mitte des Tisches. Dann forderte er die junge Frau auf, den Faden durch das Öhr zu schieben. Sie stutzte und fragte: „Was soll das jetzt hier? Ich will eine Anzeige erstatten und erwarte ...“ – Der Beamte schüttelte mit dem Kopf.
„Erst wenn Sie den Test bestanden haben, bin ich bereit auch nur den ersten Buchstaben ihres Namens in das Protokoll zu schreiben, haben Sie verstanden? –
„Also, ich möchte doch sehr bitten.“, sagte sie und nahm widerwillig den Faden und versuchte ihn in das Öhr zu stecken. Der Beamte begann, mit seiner Nadel hin- und herzuschwenken, als wolle er sie hypnotisieren. – „Na, so geht es ja nun ganz und gar nicht.“, sagte sie. „Sie müssen dann aber auch bitte die Nadel still halten.“
„Und schon ist es ´raus!“, überraschte er sie aufbrausend. – „Wir brauchen jetzt gar nicht mehr weiter zu machen, das ist doch klar, nicht? Nun, was will uns der Test sagen?“, fragte er hartnäckig?
„Ich kann es beim besten Willen nicht sagen.“, antwortete die junge Frau. - „Aber wenn es nicht aufhört mit Ihnen und wenn sie sich weiterhin weigern, meine Anzeige aufzunehmen, werde ich mich über sie beschweren. Darüber müssen Sie sich im Klaren sein.“, sagte sie. – „Die haben mich vergewaltigt, wissen Sie was das bedeutet? Und Sie wollen mir hier weismachen, ich trüge selbst die Schuld daran? Ich nenne es dann einfach nur noch ungeheuerlich mit Ihnen!“, schluchzte sie.
„Mädchen, Mädchen aber nun wollen wir doch wohl mal aufhören, hier zu heulen. Was die Nadel Ihnen zu sagen hat, dass ist doch klar, nicht? Ich meine, wenn Sie ein wenig heftiger gewackelt hätten, so wie ich eben, dann wäre das auch gar nicht möglich gewesen. Sie sind wohl etwas begriffsstutzig?“
Er sprang von seinem Stuhl auf, so dass sie erschrak. Er schritt rasch zur Tür des Büros und riss die Tür auf. Dann schnellte er zu ihr und griff ihr unter den Arm, sie solle jetzt abhauen:
„Und jetzt ´raus hier. Wir können für Sie nichts tun. Ist Dir das klar?“
Sie empörte sich. – „Fassen Sie mich nicht so an!“, sagte sie ihm barsch. Dann erhob sie sich. Noch zögernd bald fest entschlossen verschwand sie aus dem Zimmer und ging weinend den Gang entlang und verschwand aus der Wache hinaus.“
Wie weit wollte man mit ihr gehen? Darf man das mit ihr, hatte sie sich betäubt gefragt, als sie beschämt über die unbefahrene Fahrbahn auf die andere Straßenseite ging und dort um ein Paar Ecken herum in der City verschwand. Um dort mit ihrer Scharm unterzutauchen. Die sonntagvormittägliche Leere in der Einkaufsmeile wirkte auf sie entmutigend. - „Wohin?", fragte sie und: „Was machen die mit mir?". Sie fühlte sich an Ahnungslosigkeit und Unschuld beraubt. Sie wird nicht als harmlos und gutwillig erkannt. Eine notorische Lügnerin sei sie, haben die gemeint.
Auf dem Belag der Fußgängerzone waren die Reinigungsfahrzeuge unterwegs und beseitigten die Spuren der Turbulenzen aus der vergangenen Nacht. Für einen Augenblick wollte sie sich von ihnen mit hinfort spülen lassen. Langsam fand sie ihre Fassung und suchte im Moment einfach nur das Weite. Sicher auch eine Anlaufstelle. Man muss es allen sagen, glaubte sie. Damit es durch die Köpfe mancher geht. Und bei aller Abwägung, auch dem Täter hinsichtlich der Schwere seiner Schuld eine Chance einzuräumen, die ihm mildernden Umstand zuspricht, weil auch er ein Opfer seiner eigenen Triebhaftigkeit ist, außerdem eines seiner Umwelt, die ihm Rollen zuweist und Regeln vorgibt, aus denen heraus er sein Verhalten abzustimmen hat, so sollte es doch klar werden, dass es Grenzen gibt, innerhalb dieser Spielräume, die dort festzulegen sind, wo die Vernunft zwischen dem an Gesetzestreue ausgerichteten menschlichem Ermessen bei der Beurteilung von Missständen und fragwürdigen Taten einerseits und der Anwendung der reinen Willkür hierbei andererseits, einen klaren Trennstrich zieht. Es war ihr eben unerträgliche Willkür widerfahren weil man ihr vorverurteilt aus geschlechtspezifischen Gründen die Schuld von vornherein zugewiesen hatte. Die eigene Schuld, die mehr wog, als die Schuld der Täter. Mehr noch, bei dem Opfer wollte man gerade eben nicht einmal mehr seine Unschuld vermuten, weil es bequemer ist.
Man muss es allen sagen, beschloss sie. Man muss ihnen ein Bewusstsein schaffen. Auch für die Gefahren, denen Frauen ausgesetzt sind, weil sie aus der Triebhaftigkeit des Mannes heraus erwachsen, die man niemals verlässlich ausschließen kann, wohl aber erziehen und umgehen. Sie wünschte sich zumindest Solidarität mit manchen, die ihr glauben mögen, die sie trösten mögen und die Willens sind, ihre Würde wieder herzustellen und zu wahren. Frauen haben Rechte, die es zu verteidigen gilt. Das sagte sie hiernach taumelnd in mancher Kneipe, in der sie landete. Forderte es auf den Straßen, bei den Behörden und in den Bürgerinitiativen. Und sie sprach mit der Presse. Lediglich das Lauffeuer, das ein Schicksal entfachte, das Stadtgespräch, das damit ausgelöst wurde steht nun hier exemplarisch dafür, dass es möglich war, durch Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit, Veränderungen herbeizuschaffen. Der Wille Vieler war aus ihrem Schicksal erwachsen, an den bis dahin verkrusteten Auffassungen und Strukturen der Stellung der Frau im geltenden Rechtssystem etwas ändern zu wollen. Es sollte aufhören, dass man die Frau in biblischer Anlehnung dem Willen des Mannes unterstellte und sie dadurch der Männergewalt schutzlos auslieferte. Darum rüttelte sie an den Prinzipien aber auch dem Wankelmut der bis dahin herrschenden Meinung, frau könne nur lügen.