Das verlorene Lachen
„Es zerbricht mir das Herz sie so traurig über die Strasse hinken zu sehen. Ihre wunderschöne Lockenpracht spielt lustig im Wind, ihr hellblaues Sommerkleidchen flattert dazu. Nur ihr warmes, charmantes Lächeln, das ist verschwunden. Wie vom Winde verweht.
Oh, sie kommt direkt auf mich zu. Doch wieso erwidert sie mein Lächeln nicht? Schon sind es über drei Monate her, dass sie ihr Lachen verloren hat. Wie lange will sie das noch durchziehen? Bitte mein Schatz, lache doch wieder! Du weisst doch, wie sehr ich dein herzhaftes Lachen geliebt habe.
Hey, sie trägt ja noch immer das goldene Medaillon, das ich ihr zu Weihnachten geschenkt habe. Wie wunderschön es in der Abendsonne glänzt. Ja, beinahe so schön wie sie, ist es. Ein kleines Medaillon aus Rotgold, in geschwungener Herzform. Man kann es aufklappen und dann auf jeweils beiden Seiten ein Foto hineinkleben. Als ich es ihr geschenkt habe, schnitt ich vorher eigenhändig unser Lieblingsfoto auseinander. Nun ist auf der einen Seite des Herzens sie zu sehen, in ihrem über alles geliebten hellblauen Sommerkleidchen, auf der anderen Seite sieht man mich mit meinen kurzen, blonden Haaren und der Pilotensonnenbrille, die sie mir auf einem unserer Ausflüge gekauft hat, auf der Nase.
Nicht nur ihr Lachen ist weg, auch ihre Abenteuerlust hat sie verloren. Wir haben so viel gemeinsam unternommen. Ich habe jede einzelne Stunde, Minute, ja sogar Sekunde, haargenau in meinem Kopf gespeichert. Nie werde ich diese Ausflüge vergessen. Vor allem aber unser letzter Ausflug nicht. Nur deshalb hinkt sie nun. Und alles wegen mir. Ich möchte ihr so gerne sagen wie viel sie mir bedeutet. Doch ich kann nicht. Es geht nicht.
Ich hätte ihr viel früher sagen sollen: „Ich liebe dich“. Spätestens an unserem letzten gemeinsamen Ausflug. Es war so ein wunderschöner Tag. Den ganzen Tag paddelten wir mit dem kleinen Boot auf dem See umher. Gegen Mittag setzten wir ans Ufer über und eröffneten ein romantisches Picknick. Alles war perfekt. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Doch gegen Abend, als wir das Boot schon wieder zurückgebracht hatten und Hand in Hand dem Quai folgten, wendete sich unser Glück. Ich sehe alles noch haargenau vor mir: die vier Jungs in ihren dunklen Klamotten, alle ungefähr zwischen 15 und 20 Jahre alt, wie alle gemeinsam schnurgerade auf uns zukamen und dieses Mädchen an meiner Seite blöd anbaggerten. Sie hat zu mir noch gesagt: “Komm, lass uns ganz ruhig weitergehen. Beachte sie einfach nicht.“, doch es war schon zu spät. Der grösste von den vier Burschen wollte ihr Medaillon. Wieso hat sie es ihm nicht einfach gegeben? Dann wäre vielleicht alles noch so wie früher. Und als sie ihm dann eine Ohrfeige gegeben hat, weil er sie anfassen wollte, hat ein anderer schon seine Waffe gezückt. Alles ging so furchtbar schnell. Ich sehe nur noch wie er die Waffe direkt auf sie richtete und…“
Das Mädchen hinkte durch ein riesiges, eisernes Tor und blieb wenige Meter danach stehen. Es schaute auf die Blumen zu seinen Füssen. Eine Weile stand es dort wie versteinert. Dann griff das Mädchen unter Tränen an sein Medaillon. Es hielt es fest umschlungen. Schliesslich schloss es die nassen Augen langsam, küsste das Medaillon und flüsterte leise und mit zitternder Stimme: „Ich liebe dich!“ Die Augen noch geschlossen, drehte es sich um und hinkte mit bedrückten Schritten den Weg, den es gekommen war, wieder zurück.
Auch dem blonden Knaben kullerten die Tränen nun übers Gesicht, und sie tropften auf das blutverschmierte Shirt mit den beiden Einschusslöchern. Er ging langsam auf das mit Blumen geschmückte Grab zu, vor welchem das Mädchen gestanden ist und verschwand. Verschwand über diesem Grab, auf welchem ein Foto eines Mädchens in hellblauem Sommerkleid, Hand in Hand mit einem blonden Knaben, eine Pilotensonnenbrille auf der Nase, hingestellt wurde.