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Das Wunder des 14. April 1912
„Das muss ein Wunder sein.“, sagte einer und schlug Scheren zusammen. „Ein Wunder?“, fragte ein Zweiter. „Was ist ein Wunder?“ „Ich habe die Menschen oft davon sprechen hören, von Wundern. Es ist dann, wenn etwas Schönes passiert, das man nicht erwartet.“ Das war eine gute Beschreibung für den Inhalt eines Wunders.
Der Raum der vor einigen Stunden noch das war, was die Menschen eine Küche nannten, hatte sich einige Zeit nach einem lauten Geräusch, von dem keiner der Hummer wusste, um was es sich handelte (aber in ihren Augen das war, was man allgemein ein Wunder nennt), fast vollständig mit Wasser gefüllt und an der Decke kämpften die Köche um den letzten Rest Sauerstoff. Wild und wie Tiere drückten sie sich gegenseitig unter Wasser, nur um sich wieder hoch zu kämpfen und wieder Luft zu holen. Es war ein ungeahnter Anblick für die Hummer, für die der überraschende Wassereinbruch die Gelegenheit zur Flucht aus ihrem Gefängnis, einem Aquarium bedeutete. In Anbetracht der Umstände versuchte keiner der Menschen sie von ihrem Ausbruch abzuhalten.
Nach einiger Zeit war der Todeskampf der Köche von noch mehr Wasser für beendet erklärt worden und die Hummer wagten nun den zweiten Ausbruch, dieses Mal durch die Türe der Küche nach draußen in einen prächtigen, aber bis zum Rand mit Wasser und Leichen gefühlten Saal. Durch den Raum schwammen Tische und Stühle, Teller, Besteck und feine Becher aus Glas.
„Was hat dieses Wunder für uns ausgelöst?“, fragte einer der Hummer. Man könnte nun annehmen, dass einer der Hummer mit „Gott!“ geantwortet hätte, aber die Hummer waren den Menschen voraus und der Glaube an ein göttliches Wesen war für sie abstrakt. Eine Welt in der Menschen kamen, um Hummer in kochendes Wasser zu werfen und danach zu verspeisen konnte keinen Gott beinhalten, so wie die Menschen an ihn glauben. „Ich weiß es nicht.“, sagte der Hummer, der von den Menschen das Wort 'Wunder' gelernt hatte.
„Ob es für die Menschen auch ein Wunder war?“ „Auf jeden Fall wird es sie gewundert haben, dass ihr Metallkoloss versunken ist, den sie doch für unsinkbar hielten.“ „War dieses Wunder unsere Rache an den Menschen?“ „Rache wofür?“, fragte ein Dritter. „Für die Sklaverei, den Mord und das Verspeisen unserer Schwestern und Brüder! Das Schicksal für ihre Untaten an den Geschöpfen der Ozeane!“, stolzierte der Erste hochmütig. Er war einer der Jüngeren gewesen und auch der, der noch am längsten von ihnen überleben würde. „Schicksal? Daran glaube ich nicht.“, sagte erneut der Zweite. „Das was man Schicksal nennt, ist immer bloß ein ironischer Zufall. Ihr Untergang und unser Aufstieg, das ist eigentlich bloß eine unerwartete Wendung.“ Zustimmend schwieg der Rest der Hummer.
Nach einiger Zeit fanden die Hummer ihren Weg nach draußen, ins offene Meer. An der Oberfläche trieben mehr Leichen, Überreste des Schiffes, Metallstücke, sogar eine Tür schwamm dort und einige, wenige Rettungsboote. „Seht nur, einige der Menschen haben überlebt. Ob sie aus ihren Taten lernen werden?“, sagte ein Hummer und ein anderer antwortete: „Ich glaube kaum, mein Freund. Für die Menschen wird der Untergang noch in einhundert Jahren noch eine Tragödie sein, das Wunder der Hummer werden sie niemals begreifen.“