Demiurgie
Am Anfang ist Nichts.
Dunkelheit.
Und Stille.
Ein undenklich großes Nie und Nirgendwo, eine gewaltige Leere jenseits von Zeit und Raum. Weit weg und überall zugleich, eine alles erfüllende Lichtlosigkeit, undurchdringlich und von einer nie erlebten Reine.
Alles ist eins.
Im Nichts.
Alles ist Nichts.
Doch plötzlich, in diesem grenzenlosen Ozean des Nichts-Seins aller Dinge, ist etwas.
Das Wort.
Am Anfang ist das Wort, und das Wort ist in mir, und das Wort bin ich. Alle Dinge sind durch dasselbe entstanden, und ohne das Wort ist nichts entstanden, das entstanden ist. In ihm ist das Leben, und das Leben ist das Licht.
Licht.
Ich.
Ich fühle mich denken, und das ganze Universum besteht aus Nichts und diesem meinem einzigen Gedanken dass ich denke. Ich fühle keinen Körper, sehe kein Licht und höre keinen Laut. Alles was ist, bin ich. In einer endlosen Sphäre aus Nichts bin ich.
Ich bin.
Ich bin das Licht, das die Dunkelheit verjagt, das Geräusch, das die Stille zerreißt, das Wort, das die Bedeutungslosigkeit verunsinnt. Mörder der Stille, Verjäger der Dunkelheit, einziger Kämpfer gegen alles, das Nichts ist, erwacht aus einem langen, schlaflosen Traum.
Ich bin wach.
Geräusche, doch immer noch Dunkelheit. Schimmerlicht, doch noch immer Stille. Sinnesreize strömen auf mich ein, doch ich bin noch nicht bei mir genug um zu wissen, was ich mit ihnen anfangen soll. Und so versuche ich, das Licht zu schmecken, die Geräusche um mich herum zu fühlen, die frische Luft auf meiner Haut zu hören und das erste was ich sehe, höre und schmecke, schmecke, höre und sehe ich mit meiner Nase.
Ich rieche.
Ich rieche etwas neben mir. Es bewegt sich manchmal und ungleichmäßig, es macht leise Geräusche und es riecht nach Jugend, Schweiß und Schlaf. Ich kenne diesen Geruch, habe ihn sein Leben lang in mich aufgesogen und würde ihn unter allen Gerüchen der Welt herausriechen können.
Du.
Geschöpf.
Kind.
Ich öffne meine Augen und entziehe mich damit freiwillig, wenn auch nicht ganz ungezwungen, dem schönen Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachsein, und plötzlich ist Dein Geruch nur noch Dein Geruch, nicht weniger aber auch nicht mehr so viel wie noch vor einem Augenblick in jenem vergrößerungsglasartigen Niemandsland namens Halbschlaf, in dem das Schöne schöner, das Große größer und das Hässliche noch hässlicher ist. Ich blicke neben mich und sehe Dich schlafen. Du liegst mit verknoteten Extremitäten in, unter, auf und neben Deinem Bettzeug und schläfst noch tief und fest mit halbgeöffnetem Mund und einem Nimbus aus kastagnettenbraunem Haar, wieder kurz, ich habe mich noch immer nicht wieder an den neuen alten Anblick gewöhnt. Ab und zu stößt Du einen kleinen Grunzlaut aus und entflechtest ein paar Deiner Arme und Beine, um sie gleich darauf mit irgendwelchen anderen wieder zu verknoten. Hinter Dir steht der Kamin aus unserem Wohnzimmer, in dem wir geschlafen haben, in unserem Bettzeug das ohne seine Betten vor dem Kamin liegt, in dem noch ein winzig kleines Feuerchen vor sich hinkokelt. Auf der anderen Seite des Zimmers, gegenüber vom Kamin, steht eine Fensterfront und blickt hinaus auf den Ozean. Ich höre des Meeres Rauschen, und der Mond hat die ganze Nacht wie ein schmutziger kleiner Voyeur durchs Fenster gestarrt und uns belauscht, zusammen mit den Sternen, von denen immer noch einige leise und verschämt vor sich hin kichern, was ich ihnen nicht übel nehme. Sie sind ja noch so klein.
Leise, um Dich nicht zu wecken, sammle ich meine Klamotten vom Wohnzimmerboden auf, ziehe sie an und versäume auch nicht, meinen langen Mantel von der Garderobe zu nehmen, denn draußen ist es kalt, zu kalt für Anfang Juni. Der Sommer ist ein früher Herbst in diesem Jahr, doch zieht es mich hinaus in die kühle Morgenluft, denn noch befinde ich mich halb im Schlaf und weiß kaum, wer noch was noch wo ich bin, nicht was wahr ist und was nicht. Ein klarer Kopf ist was ich brauche, und auf einem Spaziergang wird sich schon irgendwo einer finden. Ich öffne die Haustür, und mir fällt eine glasige Wand aus Kälte entgegen. Alles in mir sträubt sich dagegen in sie hineinzulaufen, und ich sehne mich danach den Vormittag in einer heißen Badewanne zu verleben, doch ich schiebe all das beiseite und werfe mich mutig in die Morgenluft, wie einer, der erste Mal vom Drei-Meter-Brett springt, widerwillig und mit der Gewissheit, etwas Unnötiges und doch irgendwie Heldenhaftes zu tun. Die Haustür fällt hinter mir ins Schloss, und ich versuche die Kälte um mich herum zu vergessen. Erinnerungen, die ich aus der Traumwelt herübergerettet habe, tropfen wie warmes Wasser auf meine Seele, angenehm zunächst, doch dann verliert sich ihre Wärme, sie verdunsten und ihr Effekt verkehrt sich ins Gegenteil: sie kühlen mich langsam aus, und eine vom Meer her kommende Windböe macht mich zittern.
Eine große Wiese, taubedeckt, unter einem Schleier versteckt, hier und dort und da unter wabernden Nebelschwaden leise hervorschimmernd, nicht grün, eher grau, kaum braun, mir will nicht einfallen, wie die Farbe heißen mag, die ich sehe. Vielleicht gräun. Gräun, wie eine sich mit Gewalt jeder Definition entziehen wollende Mischung aus Allem und Nichts. Eine Farbe, die sich kaum um diese Bezeichnung verdient macht, ein phantasmagorisches Durcheinander; zusammengemixt aus 16,7 Millionen anderen ist genau dies die Farbe in der dieser Tage meine Gedanken gemalt sind.
Gestern.
Morgen.
Heute morgen.
Knietief im taunassen Gras, Basketballschuhe, nein, -stiefel an den Füßen, die trotzdem nass werden, denn die Zwergensärge aus Polyurethan und Nubuk sind viel zu groß und unzugeschnürt und gehören Dir. Das allein lässt mir die Füße feucht werden, meldet sich ein Gedanke bei mir, doch ich schiebe ihn wieder weg, denn das was ich dachte war nicht so witzig für wie ich es hielt. Fort mit dir, zurück dahin woher du kamst, als nicht ganz weg sondern nur aus dem Sinn. Vergeblich warte ich darauf, dass zur Rettung der Situation die Redensart mit den großen Fußstapfen mein Bewusstsein befällt, aber scheinbar kann ich nicht mehr denken, was ich will.
Der Wald wirft mir Brocken aus Kälte entgegen, die sich in meiner Kleidung fest- und durch sie hindurchbeißen, bis hinunter auf meine Gänsehaut aus recyceltem Reibeisen. Klamme Klamotten kleben an meiner Haut und quälen mich bei der kleinsten Bewegung, denn sie erinnern meinen Körper an sich, daran, dass es ihn gibt, daran, dass es mich gibt, mich, ich, erinnere mich an mich, an es, an alles was ich bin und war und sein will und also vielleicht oder nie sein werde.
Ich bin.
Welch ein unbeschreibliches Glück liegt in diesen Worten, das unbeschreiblichste der Welt. Es ist die einfachste Form des Glücks, allein lebendig zu sein, als auch seine komplexeste, gedenkt man aller Dinge, derer es bedarf, um diese beiden einfachen Worte möglich zu machen, nämlich der geistig höchsten Stufe aller hochentwickelten organischen Kohlenwasserstoffverbindungen, die stoffwechseln und sich fortpflanzen auf einem erkalteten Steinklumpen, der um eines jener kosmischen Feuer kreist, die vor Ewigkeiten aus der Nachgeburt von Raum und Zeit entstanden sind.
Die Erfahrungen eines Lebens, meines Lebens, schreien sich in mein Bewusstsein, buhlen untereinander um jeden Fünkchen meiner zerstreuten Aufmerksamkeit, stoßen einander rüde beiseite, fallen übereinander her, sich gegenseitig in den Rücken und ineinander zusammen, und sind sich dennoch einig in ihrem erklärten Ziel, mich zur Einsicht in die unausweichliche Konsequenz ihres Daseins zu vergewaltigen. Alle sind sie da, Ereignisse aus mehreren Dekaden zusammengepfercht in meinem kleinen, platzen wollenden Kopf, einander hilflos ausgeliefert, längst unvoneinandertrennbar verschmolzen zu einem großen, durcheinanderen, manchmal ekelhaften, anderntags vor Schönheit schillernden und ständig auf seine Daseinsberechtigung pochenden Ich. Ein Mosaik aus Vergangenheit. Wie in einem Zeitungsfoto unter der Lupe betrachtet, ein Pixel neben dem anderen, jedes für sich genommen klein und unscheinbar und doch in seiner einzigartigen Farbe eine der ungezählten Facetten des Lebens widerspiegelnd, so enthüllen tausende von Pixeln zusammen und mit dem nötigen Abstand betrachtet nicht lediglich ein großes Gewirr aus Bunt, sondern ein Kunst-Werk, ein Bild, das viel mehr sagt, als hundert, tausend Worte. In der Tiefe des Mikroskops hingegen wird aus jedem Punkt ein eigenes Bild, selbst aus Flecken, Strichen und Punkten zusammengemalt, aus Orten, Zeiten, Handlungen und Menschen, die alle ihrerseits ein nicht entwirrbares Dimensionengeflecht verkörpern. Unergründlich wo alles anfängt, unerträglich wo alles zusammenläuft. Eingebettet, eingewoben, eingesperrt und eingeschmiegt, geschützt, gefangen, geborgen und verborgen wie ein Bläschen in einem Schaum aus Sein, bin ich, wie ich sein muss um sein zu können. Alles, das jemals war, hat gemacht, was jetzt ist. Ich bin und kann nicht anders sein, denn alles, was jetzt ist, ist die Folge Allens, das jemals war, und wer die Welt und das Leben nicht versteht, versteht weder seinen Ursprung noch sich selbst. Alles, vom Urknall vor fünfzehn Milliarden Jahren bis zu dem kleinen Menschenkind, das an einem frischen Junimorgen von seinem kleinen Haus aus am Strand entlangschlendert und Sand in die Schuhe bekommt und sich darüber freut 'Ich bin' sagen zu können, all das ist mit unsichtbaren Fäden miteinander versponnen, und nicht ein Ding, das ist, könnte ohne alle anderen so sein. Und was macht Gott? Gott träumt, und indem Gottt träumt er erschafft er mich zwar, kann aber, ebenso wie ich wenn wir träumen, nichts dafür und hat an mir mindestens ebenso viel Spaß wie ich an meinen Träumen und Phantasien, meinen Gedanken und heimlichen Wünschen. Ist ein Traum ausgeträumt, wird man aus ihm aufwachen wie aus einem langen, tiefen Schlaf, und er wird nichts weiter sein als eine verschwommene, lückenhafte Erinnerung an etwas, das sich, als es war, so wirklich angefühlt hat wie das Leben, und doch nur ein Phantasiegespinst war, ein Konglomerat aus Bildern und Tönen, Farben, Gerüchen, Geräuschen und Gefühlen, die sich im Laufe meines Lebens in mir angesammelt haben, und die nun irgendwie wie durch Zauberhand von selbst in eine neue Ordnung verfallen sind. Niemand kann seine Träume steuern. Nicht einmal Gott hat Einfluss auf seine eigenen Träume. Gott ist es, der unsere Träume macht, wie wir die Träume unserer Phantasiefiguren ersinnen, aber Gottes eigene Träume werden von einer noch viel höheren Kraft angetrieben, der er selbst ebenso hilflos ausgeliefert ist, wie wir ihm.
Eine Geschichte geht zu Ende, ein Traum wird ausgeträumt, ein weiteres Bild wird durch ein paar letzte Pinselstriche vollendet, und doch ist dieses Bild, so groß und schön es auch sein mag, und so viel Arbeit und Zeit auch in ihm stecken, nichts weiter als ein kleines Mosaiksteinchen, selbst nur ein winzig kleiner Bildpunkt in einem größeren Bild, dem des Lebens, das sich langsam aber sicher zu etwas zu entwickeln scheint, das sich endlich ansehen kann ohne vor Ehrfurcht zu erschaudern über die unverständlichen Wege, die das Leben findet um sich selbst zu offenbaren. Endlich sehen, was es zu sehen gibt, ohne dabei zu erstarren, sehen und verstehen und zu schätzen wissen, was das Leben bedeutet, mir und Dir und jedem der lebt, und wissen, dass einer Hand voll Kohlen- und Wasserstoffatome kein größeres Glück hätte zufallen können, als Spross jenes Milliarden Jahre alten Wunders zu sein, das sich Leben nennt.