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Der öde Nachmittag
Nicht, dass ich den Nachmittag heute nur regnerisch, kalt, typisch herbstlich fand – nein, das war es nicht. Aber der Nachmittag war für mich schrecklich unerträglich öde. So öde wie der kleine, hässliche Kaktus auf dem Fensterbrett. So öde wie das graue Fensterbrett selbst und so öde wie das ganze Fenster eben, dessen öden Glas ich mit meinem Blick durchbohrte.
„Hättest du die reizende Liebenswürdigkeit, nicht mehr so gelangweilt aus dem Fenster zu blicken und dich an den Tisch zu mir zu gesellen, um dich ebenfalls an dem frohlockenden Mahl laben zu können, werter Herr?“, spottete Tamara. Ich gehorchte, weil ich dachte, dass ich wenigstens beim Essen die Zeit ein wenig tot schlagen könnte.
Ich setzte mich und durchbohrte die Fertignudeln in feiner Tomatensoße mit meinem Blick, während Tamara schon zu essen begann.
„Du siehst aus wie ein bärenhungriges Burgfräulein.“, sagte ich und steckte mir eine Nudel in den Mund. Tamara grinste, doch eigentlich war meine Aussage böse gemeint, genau so wie: „Frohlockendes Mahl? Darunter haben die im Mittelalter sicher etwas anderes verstanden.“
Tamara kaute, schluckte energisch und glotzte mich genervt an.
„Sag mal, was ist denn bloß los mit dir? Seit Tagen verhältst du dich so merkwürdig und bist total gemein zu mir! Ich habe dir doch gar nichts getan. Und jetzt habe ich doch nur versucht...“ Den Rest ihrer Aufregung schluchzte und weinte sie vor sich hin.
Da tat sie mir plötzlich Leid. Dieses verzweifelte Gesicht passte irgendwie nicht zu ihr. Komisch, aber mich beeindruckte ihre Reaktion.
Instinktiv nahm ich sie tröstend in die Arme, doch da heulte sie erst richtig los.
Es erschien mir eine Ewigkeit, dass ich sie so umarmte, als ich sagte: „Na, du hast mir einen ganzen Ozean in meinen schönen Pulli geheult. Versuch dich nicht auch noch da rein zu schnäuzen, sonst wird aus dem Ozean ein überdimensionaler Sumpf!“ Jetzt lachte sie kurz.
Nachdem ich mich an dem eigentlich guten Essen laben und bevor ich wieder zum Fenster gehen konnte, um dem öden Regen weiter zuzusehen, meinte Tamara: „Guck’ nicht immer so aus dem Fenster und lass uns ein wenig spazieren gehen, es wird schön!“
„Ich mag das Fenster!“
„Hast du den Kaktus schon bemerkt? Ich habe ihn heute Morgen gekauft.“
„Den finde ich hässlich.“ Doch dabei musste ich grinsen. Ich mochte es immer, sie zu necken. „Sei doch nicht so!“, sagte sie fröhlich. „Mit deiner Unzufriedenheit vertreibst du uns noch die Sonne!“
Es schien tatsächlich die Sonne, vielleicht auch, weil ich jetzt etwas besser gelaunt war.
Nach einer Weile blieb Tamara stehen, deutete mit ihrem Kopf übertrieben auf ein Café, sah mich jedoch nicht erwartungsvoll an, sondern setzte wieder ihren Willen durch und steuerte auf einen freien Platz zu.
Zuerst saßen wir nur gelangweilt da, dann erzählte Tamara in einem beiläufigen Ton: „Wusstest du, dass mein Großvater vor einigen Tagen gestorben ist? Nicht? Jedenfalls weiß ich nicht wieso. Nun ja, er war eben alt. So ist das Leben!“ Sie seufzte gelassen, schmunzelte und schwieg.
Komisch, aber diese Reaktion beeindruckte mich wieder an ihr.
Wie konnte man nur so über einen anderen Menschen reden? Dieses Schmunzeln war eine Geste, die all ihre Leichtsinnigkeit, Gleichgültigkeit, Herzlosigkeit und Arroganz verriet. Wie konnte ihr nur dermaßen egal sein, wenn ein Mensch gestorben ist? Vor allem ein Verwandter?
Womöglich brachte ich mit meinen stillen Gedanken und dem Schweigen Langeweile ins abwechselnde Getränke-Schlürfen und dem einander Gegenübersitzen, denn Tamara stand auf und meinte: „Zahle bitte und dann gehen wir, ja?“ Aber auch da wartete sie nicht auf meine Meinung und verließ das Café.
Das war sie eben, die Tamara! Manchmal wusste ich nicht, ob ich sie ganz normal als Freundin gern hatte, oder doch mehr wollte und mich wirklich in ihre schönen, großen grün-blauen Augen und dem langen, braunen, welligen Haar verknallt hatte.
Das war alles ihre Fassade, von der ich irgendwie so fasziniert war. Eine Fassade, die in Wirklichkeit ein Mauerblümchen bedeckte. Ich war mir nicht sicher, ob ich nur ihr Aussehen mochte und ihren Charakter nicht. Vielleicht wollte ich eigentlich auch gar nichts von ihr.
Ich wusste nicht, ob ich mir alles nur vormachte, weil ich keinen anderen hatte, über den ich so denken konnte.
Im Moment wusste ich nicht mal, ob ich froh und zufrieden oder empört und beunruhigt über diese realistische Betrachtung sein sollte.
Sie war trotzdem etwas Besonderes für mich.
Ich merkte, wie sie auf einmal schon sehr weit vorne war, nachdem ich auch aus dem Café ging. Aber ich hatte keine Lust sie einzuholen. Ich hatte keine Lust mit ihr zu reden. Ja, ich hatte nicht mal Lust neben ihr herzugehen.
Als Tamara gerade die Straße überqueren wollte, spielte sich eine Szene vor meinen Augen ab, von der ich hoffte, dass es eine Szene aus einem Theaterstück wäre. Ich wünschte jetzt irritiert in einem Kinosaal aufzuwachen, doch ich fand es komisch und eigentlich auch gar nicht brauchbar, mich in den Arm zu kneifen.
Ein kleiner Lastwagen fuhr brutal in Tamara hinein, die erschrocken und aufschreiend auf den Asphalt schlitterte und sich nicht bewegte.
Ich vernahm erschrockene und schreiende Frauen, die sich bemühten, mit ihren hohen Stöckelschuhen über die Straße zu laufen. Ich vernahm verwirrte Männer, die nicht wussten, ob sie zuerst erschrocken sein oder lieber einen Schrei ausstoßen sollten. Ich vernahm Kinder, die staunend oder verängstigt davonliefen und von ihren Eltern schnellstens weggeschleppt wurden. Ich vernahm das Quietschen von Autorreifen und das Öffnen der Türen.
Ich vernahm überall besorgte Menschen.
Ich blieb wie in den Bürgersteig eingepflanzt stehen und durchbohrte das blutende Gesicht des Mädchens, welches genau in meine Richtung blickte, mit meinem Blick. Doch irgendetwas war anders. Ihre leeren Augen, ihr leerer Blick waren stärker.
Ich war nicht aufgeregt, aber wie elektrisiert.
Das Mädchen, in dessen Fassade ich mich womöglich verliebt habe; das Mädchen, das nun kaputt auf der Straße lag; das Mädchen würde sich nie wieder rühren.
Komisch, aber ihre Reaktion beeindruckte mich wieder ein mal.
Ich schmunzelte.