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Der alte Mann und das Fest
Der alte Mann erwachte durch einen leichten Tritt gegen seine Schulter. Sofort spürte er die Kälte der Steine, die seinen ganzen Körper durchfroren hatte. Er drehte sich schwerfällig herum und blinzelte, über ihm schwebte ein Kopf, darunter ein Anzug.
"Aufstehn, Opa! Mit dir im Eingang wird's nichts mit dem Geschäft. Außerdem ist nicht oft Weihnachten, also mach, das du weiterkommst!" Kopf und Anzug verschwanden, ein Türgong ging, dann war Ruhe.
Der alte Mann brummte nur und stützte sich auf den Ellbogen, er begann zu husten, der Winter bekam ihm jedes Jahr weniger. Mit knackenden Gelenken stand er auf, rollte die verfilzte Decke und die dünne ISO-Matte zusammen, die sein Bett darstellten und stopfte sie in den Jutesack, der ihm als Kopfkissen diente und seinen einzigen Besitztum beinhaltete. Den Sack auf dem Rücken und die eisigen Hände in den Taschen des alten Parka verborgen, machte er sich auf den Weg.
Trotz allem ging es ihm heute besser, was eindeutig daran lag, dass er den billigen Cognac, eigentlich sein Hauptnahrungsmittel, gestern ausgelassen hatte. Dieser Tag war etwas Besonderes, und er wollte ihn nicht mit einer Fahne und einem schweren Schädel ruinieren. An diesem Samstagmorgen füllten sich die Straßen der Fußgängerzone schnell, das Fest rückte näher und die Verzweiflung derer, die noch Geschenke suchten, nahm zu. Gehetzt eilten sie von Geschäft zu Geschäft, ohne der selten schönen, meist eher kitschigen Dekoration nebst säuselnd süßlicher Musik Beachtung zu schenken.
Der alte Mann bewegte sich gewohnt durch die Menge. Wie Fische, die einem Taucher entgegenkamen, wichen ihm die Leute aus. Für sie war er der blinde Fleck in ihrer heilen Welt, nur kurz registriert und dann schnell vergessen. Das half ihm, die Aufmerksamkeit für seine Umgebung auf ein Mindestmaß zu reduzieren, er nahm sie nur wie ein Rauschen im Hintergrund wahr. Und heute schwankte er nicht, sein Gang war fest. Seine Zuversicht wuchs, fast wollte er anfangen zu pfeifen, als ihn ein schwerer Stoß aus seinen Träumen holte.
Im nächsten Moment flog er auf den Gehweg und ein stechender Schmerz fuhr durch seine Schulter. Er stöhnte und als er aufblickte, sah er einen Jugendlichen, fast noch ein Kind, der halb auf ihm lag und ihn mit großen Augen ansah, in denen schnell Zorn aufblitzte. Er musste wie ein Wilder aus dem Eingang des Kaufhauses gestürmt sein, an dem der alte Mann gerade vorbeizog.
"Mann, Alter! Musst du hier im Weg rumkriechen? Hätte mir sonst was brechen können, also verpiss dich, klar?"
Der Junge rappelte sich rücksichtslos auf, zeigte noch einen Stinkefinger und verschwand in der Menge. Ein paar Leute waren stehengeblieben und hatten die Szene verfolgt. Kurz wurde der alte Mann zu einem Teil ihrer Wirklichkeit, und sie gafften ihn an wie ein exotisches Tier. Keiner machte Anstalten, ihm aufzuhelfen, und die ersten gingen schon weiter. Mühsam kam er wieder auf die Beine und sah sich nach seinem Sack um, der ein wenig abseits auf dem Gehweg lag. Eine Mutti und ihre kleine Tochter standen daneben, das Mädchen zeigte auf den alten Mann und fragte:
"Mami, was hat der Mann denn?"
Die junge Frau blickte nervös von dem alten Mann zu ihrer Tochter und zischte:
"Der arme Onkel ist hingefallen und hat sich wehgetan. Vielleicht bekommt er Medizin vom Nikolaus. Und jetzt komm!"
Sie ging weiter und zog die Kleine hinter sich her. Der alte Mann nahm seine Habseligkeiten und setzte seinen Weg fort. Seine Schulter pochte immer noch hartnäckig und von der Zuversicht war nur ein kleiner Funken übrig. Armer Onkel - so hatte ihn bis jetzt noch niemand genannt.
Die nächste Ecke führte ihn raus aus dem Einkaufsviertel, das Sozial-Café war nicht mehr weit. Als er dort ankam, herrschte schon reger Betrieb. Einer der Sozialarbeiter öffnete gerade die Tür und die Kumpels von der Platte drängten sich ins Warme. Der alte Mann kam hinterdrein. Im Gemeinschaftsraum gab's für jeden erstmal ein Frühstück, und er langte richtig zu, denn es musste bis abends vorhalten. Anschließend bereiteten sich die Tippelbrüder auf den Tag vor, packten ihre Sachen und machten sich wieder auf den Weg.
Mit dem Sack auf dem Rücken verließ der alte Mann das Haus und betrat eine andere Welt. In der Fußgängerzone begrüßte ihn die Menge mit einem Lächeln und guten Wünschen. Einige folgten ihm, wollten mit ihm sprechen und ihm sogar die Hand geben. Auch der alte Mann lächelte, denn heute war er jemand, und das konnte man ihm nicht mehr nehmen. Am Eingang des Kaufhauses stellte er seinen Sack auf den Boden und setzte sich auf den Stuhl. Es bildete sich eine Traube, strahlende Eltern schoben ihre Kinder nach vorn. Der alte Mann öffnete den Sack, nahm die große Glocke heraus und schwang sie laut und vernehmlich.
"Ho ho ho", rief der Weihnachtsmann, "ich wünsche euch allen Frohe Weihnachten!"