Der andere Mann
Es muss doch einen Weg geben, meine Unschuld zu beweisen. Es kann einfach nicht sein, dass ich unschuldigt büßen muss. Gottverdammt, wenn ich überhaupt wüsste, was ich damals gemacht habe. Ich kann sie nicht umgebracht haben, aber wenn ich wüsste, was in jener Nacht passiert ist, würde ich bestimmt einen Weg finden, meine Unschuld zu beweisen. Ich weiß ja nicht einmal, wie man eine solche Pistole bedient, erst recht nicht in meinem Zustand damals.
Gottverdammt, ich brauche mehr Zeit. Mir sind hier ja die Hände gebunden. Wenn ich Zeit hätte um Nachzudenken und mir den Ort noch einmal ansehen könnte, würde ich mit Sicherheit etwas finden. Aber hier, hier denkt man ständig im Kreise, von einer Zellenecke zur anderen, bis man wieder dort angelangt ist, wo man angefangen hat.
Wenn ich einfach versuche zu fliehen? Das wäre denen nur recht. Ich käme keine fünf Meter weit bis sie mich erschießen und sich das ganze Drumherum sparen. Aber ich muss jetzt etwas unternehmen! Ich muss sie von meiner Unschuld überzeugen oder zumindest Zeit gewinnen. Zeit...
Spielt das überhaupt noch eine Rolle? Vielleicht ist alles schon besiegelt und es gibt jetzt keinen Weg mehr zurück, nicht einmal mehr in die Zelle. Vielleicht ist dieses grüne Linoleum eine Einbahnstraße ins Nichts. Aber wie kann das sein? Wie kann es sein, dass Unschuldige hingerichtet werden?
Bin ich denn unschuldig? Vielleicht habe ich sie nicht getötet, aber vielleicht bin ich trotzdem schuldig an ihrem Tod. Vielleicht ist das die Strafe dafür, dass ich mich nicht erinnern kann. Die Strafe für den Bourbon, für den Schlaf. Die Strafe dafür, dass ich das Leben zu sehr gelebt habe.
Das kann doch nicht sein. Verdammt, es gibt so viele andere, die ebenso leben wie ich es tat, wenn nicht schlimmer. Wieso bin ich hier und sie nicht? Das kann nicht gerecht sein. Gott, das kann nicht gerecht sein! Vielleicht ist es für die Menschen gerecht, weil sie nicht wissen, was ich weiß. Aber du weißt es, Gott. Du weißt es! Und der Tod ist deine Sache. Wieso lässt du es zu?
Verdammt, wieso lässt du mich nicht wenigstens verstehen, weshalb ich hier bin? Ist das irgendein grausamer Witz, dessen Pointe ich versäumt habe? Was bist du überhaupt für ein Schöpfer, dass du das Leben deiner Geschöpfe mit dem Tode strafst? Welches Recht hast du überhaupt dazu? Wieso hast du uns dann überhaupt das Leben gegeben?
Das kann nicht das Ende sein. Wenn schon von Gott und den Menschen keine Gerechtigkeit zu erwarten ist, dann muss ich selbst wenigstens gerecht sein. Dann muss ich jetzt einen Weg finden, zu meiner Gerechtigkeit zu kommen.
Was ist denn dann überhaupt gerecht? Sie ist tot, alles sieht danach aus, dass ich der Mörder war, ich selbst weiß nicht, was geschehen ist. Ich glaube nicht, dass ich es war. Aber was ist der Glaube schon wert? Ich habe ja auch geglaubt, dass Gott gerecht ist. Spielt es überhaupt eine Rolle, ob es für mich gerecht ist? Vielleicht ist die Gerechtigkeit nur für die anderen da?
Aber meine Gerechtigkeit. Was ist mit meiner Gerechtigkeit? Ich habe auch ein Recht auf Gerechtigkeit.
Vielleicht ist der Tod gerecht. Vielleicht ist das meine Gerechtigkeit. Ich verlasse das Leben und damit auch das Leid. Und ich werde sie wiedersehen. Ist das nicht gerecht?
Das kann doch nicht sein. All die anderen, denen es erlaubt ist, weiter zu leben...
Vielleicht haben sie eine andere Gerechtigkeit. Ich habe ja von meiner Gerechtigkeit gesprochen.
Ja, der Tod mag meine Gerechtigkeit sein.
Lasst die Mörder kommen.