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Der Automatengnom

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11.12.2001
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Der Automatengnom

Liebe Leserin, Lieber Leser, ich bitte um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich möchte ihnen eine Begebenheit erzählen, welche die Grausamkeiten, die dem Funktionieren unserer Gesellschaft zu Grunde liegen, aufzeigen. Es ist eine Geschichte, die Ihre innerste Menschlichkeit, liebe Leserin und lieber Leser, in einem infernalischen Getöse zur Rebellion zwingen muss. Nun habe ich persönlich das Geschehene nicht selbst miterlebt sondern aus zuverlässiger Quelle erfahren, was mich ehrlich gesagt ein wenig betroffen macht aber auch glücklich stimmt. Denn um die Tatsachen nicht zu verfälschen, bin ich wohl gezwungen, die Notizen des Betroffenen im Originalton wiederzugeben. Mir persönlich bleibt nichts anderes übrig, als die Geschichte zu erzählen, wie ich die eigentliche Geschichte in die Finger bekam.
Nun denn, ich möchte Sie nicht weiter auf die Folter spannen.

Alles ereignete sich an einem regnerischen und kalten Oktobernachmittag. Ich stand, eingequetscht mit einer Horde nasser und übel gelaunter Menschen unter dem Dach einer Bushaltestelle. Zusätzlich zu den normalen Problemen, die einem eine solche Situation bereitet, wie zum Beispiel Schirmspitzen, gefährlich nahe kommende Zigaretten oder durch Pfützen fahrende Autos mit grinsenden Insassen, hatte ich mit meinem Erinnerungsvermögen zu kämpfen. Ich musste noch irgend etwas erledigen, aber ich kam nicht darauf was. Schließlich, als der heran brausende Bus auch den letzten der Wartenden bis auf die Knochen durchnässt hatte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich, ich wollte noch Geld bei der Bank einzahlen. Wie konnte ich das vergessen? Hatte ich nicht heute morgen mein höllisch schweres Sparschwein unter den Arm geklemmt und mich seitdem mit ihm durch Flure, Zimmer und Straßenschluchten qequält? Hatte ich mir nicht bei einigen Gelegenheiten fast den Arm verrenkt? Nun gut, offensichtlich hatte ich es verdrängt. Ich drängelte mich durch den zur Bustür strömenden Menschenfluss und begann, nachdem mich der erste Regentropfen an die aktuelle Wetterlage erinnert hatte, zur Tür der Bank zu rennen. Zu meinem Glück befindet sich diese nur wenige Meter von der Bushaltestelle entfernt.
Ich kramte meine Karte aus den Tiefen meines Geldbeutels hervor, öffnete die Tür und trat, dick eingepackt wie ich war, in die stickig heiße Luft des Bankgebäudes. Sofort war jede meiner Schweißdrüsen alarmiert und bis ich den Münzeinzahlautomaten erreicht hatte, glich ich mehr einer Pfütze denn einem seriösen Kunden. Ich führte die bei meinem Vorhaben üblichen Schritte aus, geriet etwas in Panik, als der Automat das Geld von mir forderte, rotierte ein wenig und öffnete schließlich mein Sparschwein und gab den Inhalt dem dunklen Schlund des Automaten preis. Der Automat begann zu rattern, und veranstaltete ein derart gewaltiges Getöse, dass ich schon fürchtete, mein Geld würde geschreddert. Natürlich war dem nicht so. Ich erhielt die korrekte Summe, auf die ich auch schon heute morgen gekommen war, als ich meinen Spargroschen unter Aufbringung größter Konzentration in der U-Bahn gezählt hatte. Zufrieden streckte ich die Hand dem Quittungsschlitz entgegen. Nun geschah das unglaublich. Anstatt einer sauberen, elektronisch gedruckten Bankquittung schob mir der Automat erst einen, dann zwei und schließlich auch noch einen dritten fein säuberlich gefalteten Zettel durch den Schlitz entgegen. Ich schnappte nach Luft. Doch mir blieb nicht viel Zeit zum Handeln. Ich steckte die drei Zettel in meine Tasche, war noch für eine Sekunde unentschlossen und rannte dann, von dieser Gelähmtheit, die mich wie ein zähflüssiger, alter Sirup umgeben hatte und in mich einzudringen drohte, doch zum Bus. Noch immer spürte ich die leichten Fesseln der Unentschlossenheit, die meine Handgelenke zu leichten Schüttelkrämpfen veranlassten. Ich stellte diese selbstverständlich augenblicklich ein, als die anderen Fahrgäste irritiert zu mir herüber sahen.
"Die Toren wissen nicht welch ein unglaublich unerwarteter und furchterregender Streich mir
soeben gespielt worden ist" dachte ich.
Ich wusste ja noch nicht, was es mit dem Inhalt dieser Zettel auf sich hatte. Zuhause angekommen, schüttelte ich mich einmal kräftig, trank drei Tassen lauwarmes Wasser und aß anderthalb Bananen. Sofort ging es mir besser und ich setzte mich an meinen Schreibtisch, kramte die Lesebrille hervor und begann die Zettel zu studieren. Sie waren mit einer feinen, ja geradezu winzigen Handschrift randlos bedeckt. Ich schluckte, zögerte, doch dann übermannte mich die Neugierde und ich begann zu lesen.

An dieser Stelle möchte ich Sie, liebe Leserin und lieber Leser, noch einmal daran erinnern, dass es sich bei dem Inhalt der drei Zettel, den ich sogleich im Originalton wiederzugeben gedenke, um eine revolutionäre Botschaft handelt, die ihr Denken auf den Kopf stellen kann, ja vielleicht sogar einigen von ihnen ihren Glauben an die großen Finanzinstitute verlieren lässt. Nun denn, ich persönlich glaube seit dem Vorfall mit der Vorfahrtsfeder an nichts mehr, ohne es vorher einer genauesten Prüfung zu unterziehen. Aber das ist eine andere Geschichte. Also weiter im Text.

Als ich die Botschaft der Zettel einige Male gelesen hatte, überfiel mich wieder dieses Gefühl der Lähmung. Es kroch, beginnend an meinen großen Zehen, langsam meine Schienbeine hinauf, dann ging es zu meinem Kreuz über, schließlich erfasste es meinen gesamten Oberkörper und war im Begriff meinen Kopf zu erobern, als ein Blitz am Gewitterhimmel mich aufschrecken ließ. Ich fühlte mich wie ein Frührentner, der das autogene Training übertrieben hatte.

Ich entschloss mich sofort, diesen Text zu verfassen. Doch nun habe ich Sie, liebe Leserin und lieber Leser, lange genug warten lassen. Anschließend an diese einleitenden Worte ist der Text der drei Zettel im Originalton zu finden. Der Einfachheit halber habe ich ihn kursiv verfasst. Ich verkneife mir ein Kommentar, damit Sie sich selbst ein Bild von den Ungeheuerlichkeiten machen können, die heutzutage, im Jahre 2000, in der Welt geschehen.

Sehr geehrter Kunde,

ich bitte um Ihre Hilfe. Eigentlich ist diese Anrede um einiges zu höflich. Ich flehe Sie an! Helfen Sie mir! Ich bin in diesem Automaten gefangen. "Wie ist dies möglich?", fragen sie sich. Nun, ich möchte es ihnen erzählen. Als ich vor einiger Zeit Nachts auf dem Weg zu meiner Freundin war, ging ich an diesem Bankgebäude vorbei. Ich war in Eile, hatte mich schon um eine halbe Stunde verspätet. Trotzdem konnte ich nicht übersehen, was dort in der Bank passierte. Nun gut, das ist eigentlich falsch ausgedrückt. Im Grunde genommen passierte gar nichts. Es war mehr eine Art Zustand. Ich ging wie gewöhnlich mit weit ausholenden Schritten an den großen Panzerglasfenstern der Bank vorbei und warf einen kurzen Blick in die wärmende Gemütlichkeit organisierten Reichtums. Doch in der Mitte des Vorraums saß etwas oder besser gesagt jemand, der mich völlig aus der Fassung brachte.
Auf dem Boden in der Mitte des Vorraumes, saß ein kleinwüchsiger Mann und schluchzte. Das war das erste, was mir ins Auge fiel. Ich blieb stehen und betrachtete die Angelegenheit genauer. Dabei fielen mir noch einige andere Merkwürdigkeiten auf. Der Mann hatte einen unglaublichen Haarwuchs. Zusätzlich zu seiner gewaltigen Mähne, die er auf dem Kopf trug, hatte er einen gigantischen Bart und einen abnormal behaarten Hals. Seine Augen waren klein und verkniffen. Sein Mund war spitz zulaufen und glich mehr einem Kolibrischnabel als einem menschlichen Organ. In den Händen hielt er einen dampfenden Becher. Ich blieb stehen und starrte gebannt auf dieses Ding. Dann fasste ich einen Entschluss, den ich noch heute bereue. Ich kramte meine Servicekarte hervor und betrat die Bank. Sofort richteten sich die Augen hinter den Haarbüscheln auf mich und fast war es so, als würde sich der Schnabel zu einem Grinsen aufraffen. Ich trat vor ihn, wusste aber nicht, was ich sagen sollte.
"Er fragst sich sicher, was ich hier mache und wer ich bin. Jaa, das fragt er sich" kam er mir mit einer heißeren Stimme zuvor. Jeder Vokal klang, verursacht durch die Form seines Mundes, wie ein "Ö".
"Äh, ja, ja" war das einzige was ich hervorbrachte.
"Ich möchte ihm eine Geschichte erzählen", kam es heißer aus dem Schnabel, "aber sie ist nicht leicht zu glauben. Ich bin ein Produkt des genetischen Fortschritts, auch als Automatengnom bekannt. Er weiß, was ein Computer kostet?"
Ich nickte.
"Und das ist mein Problem. Ich bin viel zu billig." sagte der Gnom..
Er fing an etwas zu schluchzten. Ich zögerte kurz, doch dann berührte ich ihn freundschaftlich an der Schulter. Er zuckte zusammen, schaute mich jedoch dann lächelnd an.
"Nun gut. Ich sitze in diesem Automaten", begann er wieder und zeigte auf den Münzeinzahlautomaten, "und zähle die Münzen, die dort durchrauschen. Es klingt unglaublich, aber... Ja, Er muss es mir glauben. Ich wurde außerhalb der Stadt in einer gigantischen Halle gefertigt. Ich weiß das, Jaaa, weil ich schlauer bin als die anderen. Ich habe meine kleinen Hände aus den Kabelbindern winden können, mit denen sie uns fesseln. Jaa! Feine kleine Hände! Dann habe ich durch einen Schlitz gelugt! Ich Luge gerne, jaaa! Hab die Halle gesehen und den ganzen Weg. Sieht er meine Augen? Sind rot, nicht wahr! Jaaa, ist die Lüftung. Verdammte Lüftung. Bläst mir in die Augen. Haben nicht daran gedacht. Sie, bei der Produktion. Haben mir gewaltig viele Haare gegeben, damit ich nicht krank werde, jaaa, brauche nur wenig Nahrung, habe spitzen Mund um schlechte Münzen gut aus dem Schwall herauspusten zu können. Jaaa, bin gut im Pusten. Sieht er das?"
Der Gnom stand auf und ging zum Münzeinzahlautomaten, dann hielt er mir eine verbogene Büroklammer entgegen. Ich war ohnehin völlig schockiert und mich hätte vermutlich nichts mehr erschrecken können.
"Feine kleine Hände", fing er wieder an und öffnete die Klappe vom Münzeinzahlautomaten, "haben Schloss aufgemacht. Jaaa, bin schlau, schlauer als alle! Kann gut zählen! Jaa! Sieht er das? Toilette ist mein Sitz, Essensklappe, Schwall, Lüftung. Alles wie ich gesagt habe!"
Im Inneren des Automaten bot sich mir ein erschreckendes Bild. In der Mitte befand sich eine winzige, gepolsterte, Toilettenschüssel. Anscheinend der Sitz des Gnoms. Dahinter war eine gigantische Klingel.
"Wozu ist die?" fragte ich und zeigte auf die Klingel.
Der Gnom begann von einem Bein auf das andere zu hüpfen und fing wieder mit seinem Gebrabbel an. Ich kann es gar nicht richtig wiedergeben, aber ich gebe mein Bestes.
"Weckt mich! Jaaa. Denn auch ich muss schlafen. Hat er nicht gedacht, oder?", kam es aus seinem Mund, dann zeigte er auf einen Schacht etwas unterhalb der Klingel, "hier kommt essen, feines Essen. Jaaa, mag essen gerne! Muss immer nur zählen und tippen. Sieht er hier? Ist Tastatur für Ergebnis. Jaaa, verrechne mich nie, bin schnell und schlau."
Ich schaute diese arme Kreatur eine Weile an und dann geschah das Unglück. Ich weiß nicht was mich zu dieser Tat bewegt hat, ob es meine Menschenliebe, meine frühere Kampfansage gegen alle großen Konzerne oder meine humanistische Erziehung war, aber ich tat es.

"Ich möchte Dir helfen" sagte ich.
Der Gnom fing an zu lachen und sprang wieder von einem Bein auf das andere.
"Doch ehrlich. Ich tue Deine Arbeit für eine Stunde. In der Zeit kannst Du Dich ein bisschen erholen und umschauen."
"Gut, gut, gut. Er hat ein goldenes Herz! Jaaa, will ein bisschen wandern gehen. Bin in einer Stunde zurück. Bestimmt. Braucht er keine Angst zu haben" brabbelte der Gnom.
Dann zeigte er mir alles und ich zwängte mich in den Automaten.
"Anna wird mich schon verstehen. Sie hätte so einem Automatengnom sicher auch geholfen" dachte ich noch bei mir, dann knallte der Gnom die Tür zu und die Schallisolierung gab mir das Gefühl in einem anderen Universum zu sitzen. Ich lauschte auf meinen Atem und versuchte mich in den Gnom hineinzuversetzen.
Das ist mir auch gründlich gelungen. Ich sitze seit mehr als 5 Tagen hier drinnen. Bitte holt mich raus! Der kleine Scheißer ist einfach weggelaufen. Dabei wollte ich ihm doch nur helfen. Immer wenn ein Bankangestellter mir Essen über das automatische Versorgungssystem schickt, brülle ich, dass ich nicht der richtige Gnom bin.
"Netter Versuch, Heinz" kommt dann zurück, oder sie beleidigen mich sogar. Ich halte das hier drinnen nicht mehr lange aus! Bald kommt die Umstellung auf Euro. Ich kann doch gar nicht so gut zählen. Holt mich hier raus. Ich bitte Euch. Ich bin doch auch nur ein Mensch!

© by Olafson

 

Hallo Olafson!
Ich hab dich bei dieser 12.Klass-Arbeitsveranstaltung in deiner Schule gesehen bzw. gehört. Da du diese Seite hier empfohlen hast, war es ja ein leichtes, deine Geschichte zu finden. Ich wollte dir sagen, dass mir besonders der Anfang, in den du die eigentliche Geschichte "eingewickelt"hast gefallen hat. Als du sie gelesen hast, dachte ich erst, du würdest das so davor sagen. Dem war ja aber nicht so. Ich bewundere auch "Sunproduction", finde aber, dass es im Film nicht so richtig rübergekommenist.

 

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