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Der Brief

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16.09.2001
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Der Brief

Berlin, 18.9.98

Lieber Papa,
in irgend einer Kneipe fiel mir die beiliegende Werbepostkarte in die Hände. Dort lautet der Text:

-Lieber Vater, Du hast recht. Ich muß aufhören, mich immer nur querzulegen. Ab und zu auch mal nachgeben: Das macht alles viel leichter.-

Es ist eine Werbung für Cigarillos; nicht schlecht, was? Nur, auch bei mir liegt das ein oder andere quer und das ist leider viel zu selten die attraktive Blondine am Strand, die auf der Postkarte in männlicher Umarmung abgebildet ist, sondern eher der ganz alltägliche Stolperstein, die harmlos anmutende Denksperre oder das drängende Ungestüm meiner zahlreichen Ideen, die in so unterschiedliche Richtungen weisen, daß sie an einen Wurf beim Mikadospiel erinnern.

"Nun Junge, was liegt quer und wovor?", würdest Du nun fragen, um meine ausschweifende Einleitung damit in klare Bahnen zu lenken, sie als viel zu diffus entlarven. Allein, Deine Frage ist nicht leicht zu beantworten.

Anfangs mutete der Studienabschluß als eher einfacher Hürdenlauf an: Als Ziel das offizielle Diplomzeugnis auf DIN A4 Papier. Die Hürden im gleichen Format - 100 Blatt weißes Papier, nicht mal querliegend, sondern im Hochformat.

"Nun und Sportlerherz hast Du doch!"

Ja. Ein Wettkampf also scheinbar ohne Gegner, zumal für jemanden dessen schulische Leistungen und sprachliche Intelligenz schon früh an den zum Matador bestimmten Stierkämpfer gemahnten, nicht wahr? Dessen Schwert der gespitzte Stift ist und der Wort um Wort drängenden Wissens so elegant pariert, daß sie, um so wütender ihr Angriff, sich desto leichter aneinanderzureihen scheinen, verführt von seinem magischen Tuch, welches die Wörter durchwinkt auf ihre Plätze, in dieser schier unendlichen Arena jungfräulich weißen Papiers, zu immer schöneren Kombinationen, Satz um Satz, Absatz um Absatz, bis zur letzten sicheren Pointe. Olé, Olé, Olé. Stier erlegt, summa cum laude. Jubelstürme, Handschlag, Schulterklopfen:

"Das ist mein Sohn!"

Ein gerechter Sieg, gereift in jahrelanger, meditativer Klausur, in den heiligen Fluren von Bibliotheken, Prüfungsräumen und Hörsälen. Regale flüsternder Bücher als ewiges Spalier auf dem Weg in die Arena. Entsagung und Disziplin die einzigen Begleiter bei diesem einsamen Gang.

Während er in der Schlange steht, schweifen seine Gedanken. Er versucht sich an die Molekülstruktur der Kristalle zu erinnern, die wohl auch innerstes Wesen eben jener Soße sein könnten, die in der Glasvitrine, über dem Püree, bereits feine Klümpchen in der ranzigen Haut kristallisiert. Er ist cand. Dipl. Ing.

Es gibt Cordon bleu, und das schmeckt besser als das traurige Exemplar im Schaukasten vermuten ließe, unten, am Treppenaufgang der Mensa.

Als er 1992 zum ersten Mal hier stand, war er noch nicht einmal immatrikuliert. Ein Wartesemester und ein Abi-Schnitt von 1.9 hatten ihm aber immerhin schon Platz Nr.12 auf der Nachrückerliste gesichert. Berechtigung genug, so schien ihm, sich schon einmal umzusehen in der fremden Stadt, an der Uni, und um in der Mensa zu essen. Wahrscheinlich war es Kassler oder Rinderbraten oder Roulade, was dann damals auf seinem Tablett dampfte und ganz sicher war diese dunkle Soße darüber. Auf den flimmernden Bildschirmen unten in der Halle hätte er es nachlesen können - Jägersoße oder wie auch immer. Sie sollte ihn auf jeden Fall, allen geschmacklichen Moden zum Trotz, sechs Jahre lang begleiten. Er hatte sich einfach in irgendeine der Schlangen gestellt, die Menüwahl dem Schicksal überlassen und stand nun, sein volles Tablett balancierend, inmitten des konfusen Treibens lärmender Ingenieure und klappernder Teller.

In Luftreinhaltung lernte er später zwischen Punkt-, Linien-, und Flächenemissionsquellen des Autoverkehrs zu unterscheiden. Demnach waren die, wie Formel-1 Wagen in der Startrunde aufgereihten Studenten, die sich auch vor den Kassen formiert hatten, wohl linienförmige Emissionsquellen, die Gesprächsfetzen und Begrüßungsrituale emittierten und ihn ganz benommen machten.

Als er nach knapp zehn Minuten vorne an der Kasse angelangt war, die von den vor ihm Stehenden meist schweigend passiert wurde, als enthielte die blaue Karte mit dem Magnetstreifen nicht ihr bargeldloses Mensakonto, sondern den für diesen Fall notwendigen, computerlesbaren Gesprächscode für die Unterhaltung mit der Kassiererin, stahl er sich aus der Reihe, stellte sein Tablett mit der schon fast erkalteten Soße irgendwo ab und verließ schuldbewußt und schnellen Schrittes das Gebäude. Das mit der Karte hatte er nicht gewußt: Giro-Vend-Kasse, keine Annahme von Bargeld, stand auf dem Schild über der Kasse.

Nun, mittlerweile kennt er sich aus. Zum Cordon bleu gibt es heute eine extra große Portion Püree, "Ja, der Jung´ is´ doch so schlank". Zum Bezahlen steuert er seine Lieblingskassiererin an, die mit den langen, rosa lackierten Nägeln und reißt sie mit einem fröhlich-forschem "Guten Tag" aus der schweigsamen Routine, erntet Lächeln: "Guten Tag".

Zum Teufel Papa, (längst schon hat er den Gedanken aufgegeben, diesen Brief womöglich abzuschicken, er schreibt trotzdem weiter) in Wahrheit geht nichts.

Unbemerkt, von Erwartungen erdrückt, sitze ich vor dem Computer und jedes Flackern meines Bildschirms erscheint mir wie das hämische Durchblättern eines Stapels 100 leerer, weißer Seiten Papier, bis diese sich vor meinen Augen letztlich verselbstständigen und mich, mit meinen Büchern und meiner Motivation, in milchigen Nebel hüllen. Mein beflissenes Lächeln erstarrt auf kalten Lippen. Klinischer Tod, tüüüüü.

Nun was soll´s, schau ein bißchen fern und morgen stehst Du ganz früh auf und gehst dann in die Bibliothek, dort kannst du arbeiten, sage ich mir in solchen Fällen. Dann mache ich mir noch eine Liste für den nächsten Tag, morgen geht´s dann los, richtig.

Aber meistens Papa, höre ich nicht mal meinen Wecker, nachdem ich bis 4.00 oder 5.00 Uhr morgens vorm Fernseher hing, unfähig einzuschlafen, unfähig auszuschalten. Manchmal switche ich zwischen den nächtlichen Werbeblöcken für 0190er Nummern und onaniere. Erst wenn dann nur noch Arabella oder Bärbel meinen Wahnsinn begleiten, finde ich den Knopf, unfähig sogar mir noch die Zähne zu putzen. Eine Art metastabiler Zustand: Das ist "die kinetische Hemmung zweier potentieller Reaktionspartner". "Die Aktivierung kann durch Zuführung von Energie oder durch Katalysatoren erfolgen", steht im Lexikon.

Manchmal dauert es Tage bis sich diese Aktivierungsenergie einstellt. Tage die ich dann im Bett verbringe, lesend, schlafend, bis mir vom Liegen schon der Rücken weh tut; oder ich sehe fern, schau´ in die Röhre bis die Birne ganz weich ist. Kaum stehe ich mal zum Essen auf. Tüüüüüüü, kein Matador. Gruß, Dein Sohn.

Beim Essen schaut er aus dem Fenster, denkt noch mal an das Projekt "Brief an den Vater", beleuchtet es von allen Seiten. Dann macht er einen dieser unmöglichen Versuche, die Teller, Besteck und Becher so zu drapieren, daß der Drachen an der Geschirrückgabe nicht Galle speit, wenn er an der Reihe ist, sein Tablett auf das Laufband zu legen. Diesmal lag nur das Besteck nicht am richtigen Platz, und während er seinem Geschirr nachblickt, welches sich hinter der Klappe langsam seinen Blicken entzieht, nimmt er sich vor, es nach seinem Diplom noch einmal zu versuchen, mit dem Geschirr und dem Drachen.

Seine Liste für heute ist schon gut abgearbeitet und am Abend will er erneut einen Brief an seinen Vater aufsetzen, schließlich finanziert der ihn ja. Er weiß das wahrlich zu schätzen und so schlecht läuft es ja auch eigentlich gar nicht, oder?

 

Für mich sieht das nicht so ganz nach einer Kurzgeschichte aus... Ein Brief ist ein Brief und keine Kurzgeschichte, aber egal.

Der Protagonist scheint seine unverarbeiteten Spannungen und Probleme mit seinem Vater in diesem Brief aufarbeiten zu wollen. Meiner Ansicht nach exzellent formuliert, geht aber zu sehr in die Richtung "liebes Tagebuch, mein böser Vater... ich armer Sohn...". Zu viel "Psycho"-Stoff kann auch erschlagend wirken, besonders, wenn es den Anschein erweckt, als ob der Autor auch der Protagonist ist.

Trotzdem, wie gesagt, gut geschrieben. ;)

 

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