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Der Dämon

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09.12.2001
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Der Dämon

Bibliotheken und Büchereien sind voll von Geschichten über Wahnsinnige und Irre und ihre Taten. Sie begehen Mord und Totschlag. Manchmal drohen sie in Ihrem Wahnsinn gar den ganzen Planeten zu vernichten.
Niemals rettet ein Irrer die ganze Welt!

Es hatte fast den ganzen Tag geregnet. Rinnsale von Regenwasser flossen wie kleine Flüsse über die Kopfsteinpflaster der Straße. Mit hochgeschlagenen Kragen liefen die Menschen durch die Stadt, bemüht möglichst schnell von den Straßen nach drinnen zu gelangen.
Ein kleines Rinnsal des Regenwassers floß langsam und tröpfchenweise die Treppe nach unten. Die Treppe führte in einen großen Kellerraum, der angefüllt war mit hölzernen Tischen und Bänken. Weiter hinten lagerten Bier und Wein in großen Fässern. Der Geruch abgestandenen Alkohols lag in der Luft. Obwohl erst Nachmittag war und jemand das Lokal den ganzen Morgen gelüftet und gereinigt hatte, lag immer noch der Geruch abgestandenen Alkohols in der Luft. Er liegt immer in der Luft, wenn Menschen häufig irgendwo zusammensitzen und trinken.
Jemand hatte die Holzbänke und Stühle in Reihen aufgestellt, die von den Tischen gesäumt wurden. Vorne stand ein kleiner Tisch, an dem heute jemand eine Rede halten sollte. Etwa vierzig bis fünfzig Menschen, meist Männer, hatten sich inzwischen eingefunden und begannen bereits das erste Bier und den ein oder anderen Wein zu trinken. Langsam aber sicher füllte sich der Raum. Mit gespannten und etwas verschwörerischen Mienen betraten verschiedene Leute den Keller und nahmen Platz, meist natürlich nicht, ohne sich vorher etwas zu Trinken zu holen. Alkohol gehörte offensichtlich zum Leben. Vielleicht war er sogar eine der Grundlagen, auf die Veranstaltungen wie diese an Tagen wie diesem aufbauten.
Paul saß zwischen seinem Bruder und einem Fremden. Er hatte nicht mehr als eine Ahnung von dem, was hier heute stattfinden sollte. Niemals verstand Paul wirklich, was auf dieser Welt passierte. Es schien ihm manchmal, als würden alle anderen Menschen ein Geheimnis miteinander teilen, weil sie immer wußten, wie man in den unterschiedlichsten Situationen des Lebens dachte und handelte. Als Kind war Paul von einem Pferd gefallen, mit dem Kopf auf ein Kopfsteinpflaster. Seitdem war alles anders. Es war, als ob ein Schleier zwischen ihm und der Welt lag. Er konnte die Welt wohl sehen, aber er verstand sie nicht. Und was noch schlimmer war, die Welt schien ihn nicht zu verstehen.
Paul fühlte sich wohl, weil sein Bruder bei ihm war. Sein Bruder war Offizier und Paul war stolz auf seinen Bruder und noch stolzer war er natürlich, daß er heute mit ihm hier sein durfte.
Die Tür wurde aufgerissen, einige schemenhafte Gestalten schoben sich durch den Eingang. Die Menschen um Paul standen auf und begannen zu applaudieren. Eine der Gestalten löste sich von den anderen, hob die Hand zögerlich zu einem Gruß an das Publikum und nahm auf dem Stuhl am vorderen Tisch Platz. Nach kurzer Zeit kehrte Ruhe ein und das Auditorium wartete an seinen Plätzen auf das, was der kleine Mann vorne zu sagen hatte. Paul verstand nicht, was der Mann sagte. Es klang furchtbar kompliziert. Es mußte mit Politik zu tun haben, das wußte Paul wohl, den er kannte die Worte, die mit Politik zu tun hatten. Er hörte sie häufig genug, wenn Vater und Bruder sich unterhielten. Paul bemerkte einen leichten Glanz in den Augen der Zuhörer. Auch sein Bruder schien bewegt von dem, was der Mann zu sagen hatte. Obwohl er klein und unscheinbar schien, mußten die Worte des kleinen Mannes am Tisch gewaltig sein. Ab und zu applaudierte das faszinierte Publikum. Mit der Zeit wurden die Zustimmungsbekundungen der Zuhörer immer deutlicher. Aus spärlichem Beifall wurde langsam tosender Applaus. Immer mehr Zuhörer nickten mit dem Kopf, wenn der Mann einen seiner Sätze beendet hatte. Paul nickte ebenfalls mit dem Kopf und applaudierte ab und an, weil die anderen dies auch taten. Dann kam er sich so normal vor. Wie sein Bruder zu sein, so völlig normal, das war sein Wunsch. Der Mann am Tisch sprach von einem Vertrag und daß er unzumutbar sei. Paul wußte, was ein Vertrag ist, sein Bruder hatte es ihm erklärt. Er wußte, daß ein Vertrag eine feste Abmachung ist, die nicht gebrochen werden darf. Aber der Mann vorne wollte, daß der Vertrag gebrochen wurde. Und alle schienen ihm zuzustimmen, sie schienen sogar begeistert davon. Der Mann vorne sprach jetzt im Stehen. Seine Stimme wurde immer lauter, sie war gewaltig und erfüllte den Raum. Sie war wie ein Wasserfall, kein Geräusch wäre in der Lage, sich dem Tosen in den Weg zu stellen. Mit knappen energischen Gesten unterstrich der Mann seine Worte, obwohl es dem nicht bedurft hätte. Die Menschen waren begeistert von diesem Mann. Er hatte sie in seinem Bann. Sie konnten ihm nicht entkommen. Paul wußte, er mußte sie verzaubert haben und mit jedem Wort das noch lauter, noch energischer, noch gewaltiger aus seinem Mund kam, wurde Paul sicherer, der Mann hielt die Menschen in seinem Zauber gefangen. War nur Paul in der Lage zu bemerken, was hier vor sich ging? Sogar sein Bruder war zu einem Teil der begeisterten Menge geworden. Und die Begeisterung wurde immer größer.
Pauls Großmutter hatte ihm von Dämonen und ihrer Wirkung auf die Menschen erzählt. War der Mann da vorne ein Dämon, versteckt in einem kleinen, unscheinbaren Körper?
Die Begeisterung im Raum wurde unerträglich. Paul stand der Schweiß auf der Stirn. Er glaubte zu ersticken. Und sah der Dämon da vorne nicht gerade ihn an und schien mit einem Lächeln auf den Lippen und glühendem Augen bedeuten zu wollen, daß er Ihn, seinen Bruder und die ganze Welt vernichten wolle? Die Spannung in Pauls Seele explodierte.
Die Welt verschwamm vor seinen Augen. Paul konnte sich selbst zusehen, wie er das Messer aus der Scheide am Gürtel seines Bruders zog und wie er, als liefe er auf Watte in Zeitlupe, einen Satz nach vorne machte und dem Mann am Tisch das Messer tief in den Hals stieß. Im gleichen Moment spritzen einige Fontänen Blut davon. Bewegung und Stimmengewirr füllten den Raum. Paul wurde nach hinten gezogen und geschlagen. Die Menschen liefen wie wild durcheinander.
Paul konnte nichts denken. Sein Geist war leer. Er wurde weggetragen. Wo war sein Bruder? Er versuchte sich zu lösen. Jemand schlug so fest zu, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Sie hatten es immer noch nicht bemerkt. Sie konnten den Dämon nicht sehen! Paul erhielt seine Freiheit nie mehr zurück.
Der Mann am Tisch verblutete. Über seinen tragischen Tod war am nächsten Tag in allen Zeitungen zu lesen. Viele Menschen sagten, eine hoffnungsvolle Politikerkarriere sei von einem Geisteskranken vernichtet worden. Sie waren so fasziniert gewesen von dem was der kleine Mann gesagt hatte, von seinen Vorstellungen von einem großen Reich mitten in Europa, von seinen Vorstellungen über ein Europa in dem die Menschen, die eben noch seine Zuhörer gewesen waren, Morgen schon Herrscher sein würden.

 

Hi

Mal völlig unabhängig von der Story: Extrapunkte für die politische Korrektheit, einen Irren die Welt retten zu lassen. Wurde ja auch höchste Zeit :D

Meine sonstigen Gedanken kann ich im Moment nicht klar formulieren, versuche es seit ner viertelstunde... Gefällt mir auf jeden Fall!

 

Auch mir gefällt die Geschichte sehr gut. Die Sache mit der Rede war wohl eine Anspielung auf Hitler, oder? Ich meine, der Mann konnte ja auch Reden halten wie kein Zweiter --- Teilgrund, warum er so mächtig war und so vielen den Kopf verdrehte...

Ich würde sagen; irre war Paul gar nicht, im Gegenteil: Der einzig Normale. Aber das hab ich von Michael Douglas in "Falling Down - ein ganz normaler Tag"(oder so) auch gedacht... :D

Griasle
stephy

 

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