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Der dicke Weihnachtsmann
Vor langer, sehr langer Zeit, standen die kleinen, roten Backsteinhäuschen genauso wie heute kreisförmig um die Kirche herum, die auf einer kleinen Anhöhe die Mitte von Wesselburen überragt.
Handwerker und Kaufleute bildeten mit ihren bunten Geschäften und Werkstätten einen farbenfrohen Reigen, und die geschäftige Vielfalt war für die Bewohner der umliegenden Marschen stets ein willkommener Anlaß, in die kleine Stadt zu kommen, insbesondere jetzt, in den stillen Tagen vor Weihnachten.
Sicher trugen dazu auch die Geschäfte von Anna und ihrer Nachbarin bei. Anna war eine blonde Frau mit langen lustig wippenden Zöpfen. Ihre roten Pausbäckchen leuchteten in ihrem fröhlichen Gesicht wie zwei rote Weihnachtsäpfel. Und niemanden störte es, dass sie auch sonst ein wenig rundlich war. Das lag sicher daran, dass Anna in ihrem Laden knusprige Kekse, Kuchen, süsse Kringel und andere Leckereien feil bot, die nicht nur Kindern Freude bereiteten. Und all diese feinen Sachen backte sie auch noch selbst in dem kleinen Anbau hinter ihrem Laden. Hmmmh – roch es dort lecker nach Zimt, Apfel, Mandel, Lebkuchen und den vielen anderen verlockenden Düften der Weihnachtszeit.
„Anna, bei dir stinkt es wieder einmal ganz erbärmlich“, ließ sich eine keifende Frauenstimme vernehmen. Die fröhliche junge Frau steckte ihren Kopf zur Tür hinaus, wischte sich noch einmal die mehlbestäubten Hände in ihrer weißen Schürze ab und blickte ihre Nachbarin an.
Schwarzgundis war eine sehr, sehr schlanke Frau. Die schwarzen Haare hatte sie kranzförmig um ihren Kopf gelegt, den langen mageren Hals zierte eine goldene Kette.
„Igitt, wie du aussiehst“, schimpfte die in einem kostbaren perlengestickten Kleid gewandete Frau. Sie mochte Anna nicht leiden, nicht den Geruch aus dem Laden mit den süßen Naschereien, nicht die zupackenden Hände, schon gar nicht Annas rundliche Gestalt.
Schwarzgundis gehörte das Geschäft im Nachbarhaus. Sie verkaufte dort an die Frauen der reichen Bauern, der Beamten, des Lehrers oder des Pastors kostbare Kleider. Und da sie ihre Kleider für so wertvoll hielt, dass nur sehr schlanke Damen diese tragen sollten, hatte der Tischler ihr eine ganz schmale Tür ins Haus gebaut. So ergab es sich, dass die rundliche Anna ihre Nachbarin nie besuchen konnte, da sie einfach nicht durch den Türrahmen hindurch passte.
„Immer bist du mit Mehl und Teig bekleckert, deine Kleider riechen nach Backstube, und überhaupt... Du bist viel zu dick“, lästerte die Nachbarin vor Annas kleinem Laden.
Diese war traurig. Wie gerne hätte sie eine nachbarschaftliche Freundschaft gepflegt, Schwarzgundis mit Selbstgebackenem überrascht und auch manchmal ein kleines Schwätzchen gehalten. Aber nein, die Frau aus dem Kleidergeschäft lehnte Kekse und Kringel ab. „Davon werde ich nur so dick wie du“, schimpfte sie, „und dann passe ich nicht mehr durch die schmale Tür in meinen Laden.“
So zog sich Anna traurig in ihr kleines Häuschen zurück, erledigte geschwind die Bestellungen zum Weihnachtsfest und schloss alsbald ihren Laden. Sie wusch sich sorgfältig, legte ihr schönstes Kleid an, kämmte ihre Haare und band die Zöpfe neu.
Dann wartete sie gespannt. Es war früh dunkel geworden, heute, am Heiligabend. In den Häusern brannten die Kerzen und Öllampen, von der anderen Straßenseite fiel das Licht durch die bunten Fenster der Kirche auf den frisch gefallenen Schnee.
Unruhig rieb Anna sich die Hände. Nervös lief sie in ihrem gemütlichen Wohnzimmer auf und ab, warf gelegentlich einen Holzscheit in den großen Kachelofen nach, der das ganze Haus angenehm wärmte.
Endlich – ihr schien es wie eine Ewigkeit – mischte sich in das Läuten der Kirchenglocken der leise helle Klang von kleinen Glöckchen. Es war ein Geräusch wie Engelsgesang, der an ihr Ohr drang. Rasch eilte sie zur Tür und öffnete, bevor der Weihnachtsmann kräftig von außen gegen das Holz schlagen konnte.
Erschrocken wich sie zurück, als sie vor ihrem Haus den großen, bis oben bepackten Schlitten sah, die Rentiere, die geduldig mit ihren Hufen im Schnee schabten und froh über diese Unterbrechung ihrer Reise schienen, vor allem aber den Mann mit dem wallenden weißen Bart, dem roten Gewand mit der Zipfelmütze, den schweren Stiefeln und der tiefen Stimme, die irgendwoher aus dem weißen Haargestrüpp unter den gutmütig blinzelnden Augen herkam.
„Komm doch, Weihnachtsmann, möchtest du dich nicht ein wenig aufwärmen nach der beschwerlichen Fahrt durch die weite windige Marsch?“ bat sie den alten Mann in die Stube.
Gerne nahm dieser das Angebot an und ließ sich auf der Ofenbank nieder.
Anna brachte ihm zum Aufwärmen einen schönen heißen Glühwein, der phantastisch nach Zimt und frischen Früchten roch. Sie breitete bunte Teller mit selbstgebackenen Weihnachtskeksen, Lebkuchen, Christstollen und Kringel vor ihm aus.
Der alte Mann war schon sehr lange unterwegs an diesem Tag, der Wind hatte ihm mächtig zugesetzt und trotz des dicken Mantels war er kräftig durchgefroren.
So griff er zu und ließ sich die vielen Leckereien vortrefflich munden. Auch der Glühwein schmeckte sehr gut. Der Weihnachtsmann spürte die angenehme innere Wärme in sich aufsteigen. Nach einem halben Dutzend Gläsern wurde er immer fröhlicher, bis er schließlich sogar Weihnachtslieder anstimmte und mit Anna wohl einen der schönsten Chöre bildete, die zu jenen Tagen in Wesselburen zu hören waren.
Es war so gemütlich in Annas guter Stube, dass der Weihnachtsmann fast vergessen hätte, seine Reise fortzusetzen. Aber nur fast!
Als er mit viel, nein, mit sehr, sehr viel Weihnachtsgebäck im Bauch schließlich aufbrach, hatte er eine kräftige rote Nase, die ihm bis heute erhalten geblieben ist. Und diese stammte mit Sicherheit nicht von der Kälte, sondern von Annas Glühwein.
Anna stand etwas traurig in der Haustür und winkte dem guten Mann nach, als dieser sich dem Haus ihrer Nachbarin zuwandte.
Sie sah noch, wie Schwarzgundis ihre mit Samtbesatz bestickten Kleiderärmel durch den Türspalt streckte und den Weihnachtsmann mit seinen Gaben in ihr Haus zerren wollte.
Aber – o weh – es ging nicht. So sehr sie auch zog, er klappte nicht. Der Weihnachtsmann hatte so viel von Annas Selbstgebackenem gegessen und so viel Glühwein getrunken, dass er einfach nicht durch die enge Tür in Schwarzgundis Haus passte. Es half nichts. Er kam einfach nicht durch die schmale Tür hindurch.
Und so ergab es sich, dass die keifende Nachbarin in diesem und in allen kommenden Jahren keinen Besuch vom Weihnachtsmann erhielt und ohne Geschenk das Christfest feiern musste.
Der Weihnachtsmann aber beschloss, nie wieder abzunehmen.
Und so erfreuen sich heute noch alle Kinder dieser Welt an Annas herrlichem Gebäck. Warum? Ist doch klar – weil jeder Schokoladenweihnachtsmann auch einen dicken Bauch hat... und so ist einfach mehr daran.