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Der Einschnitt
„Das ist unmöglich,“ wimmert sie und bricht jetzt vollkommen in Tränen aus. Ihre Knie geben nach, und es fühlt sich an, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. „Ich will zu meinem Sohn!“, schreit sie jetzt schluchzend zu der Krankenschwester, die sie versucht zu stützen.
Ihr Mann steht fassungslos an der Wand neben der Tür. Er kann noch nicht ganz begreifen, was da gerade passiert ist.
***
„Ich hab solche Rückenschmerzen. Ich kann mich kaum bewegen.“ Luca stemmt seine Hände in den Rücken, als er sich in die Küche zu seinen Eltern an den Frühstückstisch setzt. Er stöhnt leise auf, versucht gerade zu sitzen.
„Mensch Junge, du bist ja kreidebleich“, bemerkt Gerrit Lenkahn und mustert seinen Sohn von oben bis unten.
Luca schreibt morgen eine Englisch Klausur, weiß Gerrit. Und auf die hat er sich scheinbar nicht allzu gut vorbereitet. Er kennt die Tricks seines Sohnes, Klausuren dieser Art auszuweichen. Luca ist kein schlechter Schüler, er mag es nur nicht, schlechte Zensuren zu schreiben. Aber wenn am Wochenende eine Party mit seinen Freunden ansteht, hat diese natürlich Priorität und ist wichtiger, als für die Schule zu lernen. Deshalb erfindet er das eine oder andere Mal eine Krankheit, die ihn davon abhält, in die Schule gehen zu müssen. Aber heute scheint es ihm wirklich schlecht zu gehen. Das verkrampfte Gesicht seines Sohnes wirkt echt.
„Hast du dir vielleicht einen Nerv eingeklemmt?“, fragt Inga und unterbricht Gerrit in seinen Gedanken.
„Ich weiß nicht, fühlt sich schrecklich an. Mir ist schon ganz heiß. Ich glaube, wenn ich mir einen Nerv eingeklemmt hätte, würde es sich anders anfühlen.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht versucht er eine bequeme Sitzhaltung einzunehmen, jedoch ohne Erfolg. „Hast du was gegen die Schmerzen, Mama?“
Inga Lenkahn war als Arzthelferin tätig, bevor sie nur noch Hausfrau und Mutter wurde. Sie hatte deshalb immer die richtigen Mittelchen für jegliche Beschwerden parat. Doch ihr war bei der Sache etwas unbehaglich. „Ich kann dir Ibuprofen geben, aber wenn es so schlimm ist, sollten wir vielleicht lieber ins Krankenhaus fahren.“ Sie schaut Luca fragend an, der nicht sonderlich begeistert zu sein scheint.
„An einem Sonntag ins Krankenhaus? Dann warten wir ja ewig bis ich drankomme.“ Er schnauft aus und scheint noch zu überlegen, welche von beiden Torturen die angenehmere ist.
***
„Wir benötigen einmal Ihre Versichertenkarte bitte.“
Luca überreicht die Karte der Frau am Empfang, die sie entgegen nimmt, ohne ihn dabei anzuschauen.
„Weswegen sind Sie heute hier?“, fragt die Schwester.
„Nun, ich wollte Sie kennenlernen“, lächelt Luca sie verschmitzt an. Gleichzeitig entstehen Schweißperlen auf seiner Stirn. Sein Rücken tut doch verdammt weh.
Jetzt sieht Schwester ihn doch an, legt den Kopf schief und lächelt schweigend zurück. Sieht echt nett aus der Typ, denkt sie. Wenn er ein bisschen älter wäre, würden seine blauen Augen selbst sie mit Sicherheit rumkriegen. Bei dem Gedanken daran wird ihr Lächeln breiter.
„Nein, im Ernst, ich habe sehr starke Rückenschmerzen."
Und schon hatte er bei ihr verschissen. Die hübschesten Kerle waren die größten Weicheier. Wie immer im Leben.
Gerrit und Inga halten sich derweil im Hintergrund, da ihr Sohn schließlich schon alt genug ist, um so etwas alleine hinzubekommen.
Kaum hat Luca seine Beschwerden geschildert, wird die Dame am Empfang wieder unfreundlicher, wie Inga feststellt. Fast unmerklich verdreht sie sogar ihre Augen. Sie gibt ihm seine Versichertenkarte zurück und noch ein Formular zum Ausfüllen und verweist ihn ins Wartezimmer.
Inga weiß genau, was das auf sich hat. Sie kennt das nur zu gut aus der Praxis, in der sie gearbeitet hat, bevor Luca auf die Welt kam. Sie konnte solche Patienten damals auch nicht ertragen. Patienten, die wegen Kleinigkeiten kamen und so taten, als ständen sie kurz vor dem Sterben. Auch die Empfangsdame wird wohl denken, dass Rückenschmerzen bei einem so jungen Mann ja nicht lebensbedrohlich sind, und durchaus auf den Hausarzt warten können. Stattdessen kommt er ins Krankenhaus und verschafft dem Personal noch mehr Arbeit.
Aber sie kennt Luca nicht. Sie kann nicht wissen, dass es schon was zu bedeuten hat, dass er dem Krankenhausbesuch zustimmte.
Sie setzen sich in den Wartebereich. Gerrit geht zwischendurch hinaus, um eine Zigarette zu rauchen, während Inga die Zeitschriften liest und Luca immer wieder versucht, sich bequem hinzusetzen. So vergehen fast zwei Stunden.
„Luca Lenkahn“, ruft ein junger Mann in weißer Hose und grünem Poloshirt ins Wartezimmer. Freundlich sieht er sich um, aber da das Wartezimmer bis auf den letzten Stuhl mit Patienten und deren Begleiter gefüllt ist, gibt er den Versuch schnell auf, seinen Patienten ausfindig zu machen.
Luca erhebt sich, und Inga macht Anstalten mitzukommen. „Mama, ich kann das schon alleine. Pass solange auf mein Handy auf.“
„Okay, soll mir recht sein. Dann bis gleich. Wir warten hier oder vor der Tür.“
Luca merkt ihr die Enttäuschung an, aber er ist alt genug, um alleine mit dem Arzt zu sprechen.
Der Mann, der ihn aufgerufen hat, streckt ihm die Hand entgegen. „Hallo, Dr. Günther, kommen Sie bitte mit.“
Luca grinst ihn an. „Ich bin kein Doktor, und heiße auch nicht Günther sondern Luca."
Das Lächeln aus dem Gesicht seines Gegenübers verschwindet. Versteht wohl keinen Spaß, der gute Doktor, denkt Luca und schüttelt dem Arzt die Hand. Dann folgt er ihm bis in einen der vielen aneinandergereihten Zimmer.
„Nehmen Sie Platz.“ Dr. Günther setzt sich hinter den Schreibtisch. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ich habe hammer Rückenschmerzen und irgendwie das Gefühl, dass mein Oberkörper verbrennt. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, es fühlt sich auf jeden Fall heiß an. Hier.“ Luca lässt die Hand über sein T-Shirt kreisen.
„Gut, dann legen Sie sich mal hin. Ich werde erst einmal die Wirbelsäule abtasten und Sie anschließend ins CT schicken.“
„CT?", fragt Luca.
„Ist sowas wie ein Röntgenapparat. Nur ein bisschen genauer." Der Doktor zwinkert belustigt. „Ich vergaß, dass Sie ja kein Doktor sind."
Jetzt wurde ihm der Arzt langsam sympathisch. Luca grinste.
***
„Herr und Frau Lenkahn bitte!“
Inga und Gerrit sehen sich verwundert an. Es war keine Stunde her, dass ihr Sohn das Wartezimmer verlassen hatte. Sie wollten grade hinaus gehen, um ein wenig frische Luft zu schnappen, während sie auf Luca warteten. Nun gehen sie zu der Frau, die sie gerade aufgerufen hat. „Wo ist denn Luca? Warum werden wir denn jetzt gerufen? Ist etwas passiert?“
„Ich kann Ihnen dazu nichts sagen. Der Doktor möchte Sie sprechen. Kommen Sie bitte mit.“
Gerrit nimmt die Hand seiner Frau, und sie folgen gemeinsam der Krankenschwester. Inga kaut währenddessen an ihren Nägeln; eine Angewohnheit, die sie seit ihrer Jugend verfolgt. Sie macht sich Sorgen, natürlich, schließlich will der Arzt mit ihnen über Luca sprechen. Vielleicht hat er Krebs und deshalb solche Rückenschmerzen, oder eine Nervenerkrankung, eine Wirbelkörperfraktur, Borreliose, Meningitis. Hunderte Krankheiten kommen ihr in den Sinn, bei denen Rückenschmerzen ein Begleitsymptom ist, so viel weiß Inga noch aus ihren Berufsjahren. Sie macht sich völlig verrückt und merkt gar nicht, dass sie bereits ihr Ziel erreicht haben. Die Krankenschwester öffnet eine Tür und bittet sie hinein. Im Zimmer wartet bereits Dr. Günther. Sein Lächeln von vorhin ist verschwunden. Er räuspert sich.
Als Inga und Gerrit das Zimmer betreten haben, deutet der Arzt schweigend auf zwei Stühle in der Nähe des Schreibtisches. Inga rührt sich nicht. „Was ist mit Luca, Herr Doktor?"
Der Mann mit der weißen Hose und dem grünen Poloshirt blickt sie schweigend an.
„Es tut mir leid", sagt er nach einer Weile, „aber ihr Sohn ist gerade verstorben.“
Inga sieht, wie ihr Mann neben ihr zurückweicht. Er gibt irgendwelche Geräusche von sich, die Inga nicht identifizieren kann. Hatte er gewimmert? Sie selbst starrt nur auf den jungen Doktor, der vor seinem Schreibtisch steht und nervös einen Kugelschreiber durch seine Finger gleiten lässt.
Wieder fängt Dr. Günther an zu reden, und seine Worte treffen Inga wie glühende Messer, die sich in ihr Herz bohren. „CT." „Schockzustand.“ „Intubiert.“ „Thorax geöffnet.“ „Aortendissektion.“ „Verblutet.“ Die Messer bohren sich immer tiefer.
„Mein Beileid nochmals.“
„Ich möchte zu meinem Sohn“, sagt Inga fast tonlos.
„Frau Lenkahn, haben Sie verstanden, was ich Ihnen mitgeteilt habe?“ Dr. Günther berührt sie sanft am Oberarm.
„Das kann unmöglich sein. Mein Sohn ist gerade sechzehn Jahre alt geworden. Er hatte doch nur Rückenschmerzen. Man stirbt doch nicht an Rückenschmerzen.“ Inga laufen die ersten Tränen hinunter. Sie schüttelt den Kopf, versucht zu begreifen.
„Das ist unmöglich,“ wimmert Inga und bricht jetzt vollkommen in Tränen aus. Ihre Knie geben nach. Es fühlt sich an, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. „Ich will zu meinem Luca!“, schreit Inga jetzt schluchzend zu der Krankenschwester, die sie versucht zu stützen.
„Es tut mir so leid!“ Auch ihr hört man an, dass sie den Tränen nahe ist.
Gerrit steht fassungslos an der Wand neben der Tür. Er kann noch nicht ganz begreifen, was da gerade passiert ist.
Draußen am Empfang nimmt die junge Schwester die Versichertenkarte des nächsten Patienten entgegen. Für einen kurzen Moment muss sie an den Jungen mit den blauen Augen von vorhin denken, und lächelt. Dann wendet sie sich wieder ihrer Arbeit zu.