Mitglied
- Beitritt
- 09.01.2013
- Beiträge
- 3
Der Feind
Sie dachte wirklich, dass sie ihm dieses Mal entkommen war. Der Umzug letzten November in ein neues Haus, von Eckernförde nach Heide, weit weg. Monatelang hatte sie ihn nicht gesehen. Auch als der Frühling kam und sie ihren prachtvollen Garten genoss – nichts. Karin hatte bereits erleichtert aufgeatmet. Zu früh, natürlich. Erst kam nur das ungute Gefühl – war da nicht etwas? Nein, doch nicht. Aber irgendwie konnte sie seine Anwesenheit spüren, auch wenn sie ihn nicht sah.
Kalt lief es ihr bei diesen Gedanken den Rücken herunter. Ihn ein für alle Mal los zu sein, hatte sie sich so sehr gewünscht. Mit Abscheu erinnerte sie sich an all die Jahre, die Erniedrigung, wie er sie auf die Knie gezwungen hatte, stundenlang. Auf dem Boden war sie gekrochen, die Hände oft wund, zu dem Schweiß mischten sich manchmal Tränen der Wut. Es war so aussichtslos, er war stärker als sie, so viel stärker. Machte ihr das Leben zur Hölle, immer wieder, vor allem in Zeiten, in denen sie so glücklich hätte sein können. Manchmal träumte sie nachts immer noch von ihm. Dann war er einfach übermächtig, schlang sich um sie herum, fesselte und drückte sie, bis sie das Bewusstsein verlor.
Anfang April stellte sich dann heraus: Der Ortswechsel hatte nichts genützt. Erst war es nur sein widerwärtiger, süßlicher Geruch, den sie an einem der ersten lauen Frühlingsabende zu erahnen meinte. Eines Tages blickte sie aus dem Fenster und sah ihn – sofort stellten sich ihr vor Entsetzen die Nackenhaare auf. Was sollte sie nur tun? Ein erneuter Umzug kam nicht in Frage, sie hatte ihre Ersparnisse bereits beim letzten Mal aufgebraucht. Karin verschanzte sich in ihrem Haus, ging kaum noch vor die Tür. In ihren so heiß geliebten und sorgfältig gepflegten Garten traute sie sich kaum noch. Nur in ihrem Haus war sie sicher vor ihm, hier konnte er sie nicht aufspüren.
Sie beschloss, sich Rat bei einem Spezialisten zu holen. „Tja, da kann man wenig tun“, sagte ihr der kräftige Mann mit wettergegerbten Gesicht. „Von alleine wird er kaum verschwinden, das ist in diesen Fällen höchst unwahrscheinlich.“ Verzweifelung machte sich in ihr breit, eine Hilflosigkeit, die sie fast lähmte.
In der folgenden Nacht träumte sie wieder von ihm, dieses Mal war es schlimmer als je zuvor. Er war bis an ihre Haustür vorgedrungen, drückte die schwere Holztür ein, als wäre sie aus Pappe. Dann fiel er über Karin her.
Schweißgebadet wachte sie auf. Ihr Herz klopfte und anstelle ihres Magens spürte sie eine eiskalte Kugel. Ohnmächtige Wut machte sich langsam in ihr breit und vertrieb die jahrelange Hilflosigkeit. Entschlossen stand sie auf, streifte hastig ein paar dicke Socken und ihren Bademantel über und schnappte sich eine Taschenlampe. Die Nachbarn waren im Urlaub, das wusste Karin. Als sie den Spaten aus der Garage nahm, zitterten ihre Hände noch. Doch ihre Finger schlossen sich immer fester um den Holzstiel. Plötzlich fühlte sie sich stark, nahezu unbesiegbar. Wo hatte sie ihn das letzte Mal gesehen? Dort bei dem Kirschlorbeer? Tatsächlich da war er. Ganz friedlich sah er im Schein des Halbmondes aus, sehr zart, fast schön. Aber es gab für Karin kein zurück, zu lange hatte sie sich von ihm schikanieren lassen. Mit all ihrer Kraft stieß sie mit dem Spaten zu.
Die Dämmerung setzte bereits ein, als sie die letzten Stücke in schwarze Müllsäcke stopfte und diese zur Straße schleppte. Die körperliche Arbeit hatte ihr zugesetzt, doch innerlich fühlte sie sich wunderbar erleichtert. Zufrieden legte sie sich in ihr Bett und fiel augenblicklich in einen tiefen, ruhigen Schlaf. Vielleicht hatte sie ihn jetzt endlich besiegt, den ihr so verhassten Giersch.