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Der Fremde, der ich bin
Ich ließ eine Münze fallen. Eine unerhebliche Summe Geldes, nicht der Rede wert. In der rechten Hand hielt ich diese Münze, bis sie mir entglitt; dort ruhte sie zur Vorbereitung, um dem Busfahrer nicht seiner kostbaren Zeit zu berauben, nicht im Durcheinander des Geldbeutels nach passenden Münzen suchen zu müssen, während es ihm eilt und sein Fahrplan Gefahr läuft, sich zum reinen Wunschdenken zu verwandeln. Geraume Zeit stand ich so in vorbereiteter Vorbildlichkeit, neben mir ein Mensch. In guter städtischer Tradition haben wir uns angeschwiegen, uns nicht einmal begrüßt. Und weil wir diese Tradition verehren, ließen wir selbst unsere Blicke nicht begegnen. Er war anwesend, als mir das Geld aus der Rechten herausfiel.
Kaum klimperte es metallisch auf dem Boden, da stürzte sich dieser Fremde auf das Objekt seiner Begierde, auf mein Geld. Er bugsierte mich zur Seite, warf sich regelrecht auf dieses runde Stück kapitalistischer Lebensfreude, der Speichel trof ihm von den Mundwinkeln; mir schien, er würde dafür töten, neuer Besitzer dieses Geldstückes werden zu dürfen. Nein, ich sollte bei der Wahrheit bleiben: Der Fremde blieb kultiviert, aber vor meinem geistigen Auge tat er genau dies, gab mir den Barbaren zum Besten.
Dies waren also meine Gedanken, als das Geklimpere aussetzte und mein Geldstück so am Boden lag. Natürlich bückte ich mich in Eile, ohne Umschweife zielgerichtet gen Metall, doch diese kurze Zeitspanne reichte aus, um mir einen Wilden bildlich vorstellen zu können. Und wieder lüge ich, denn während ich seine Wildheit innerlich sehen konnte, war ich ebenso dabei ihn zu schelten und maßzuregeln, auch dies im Geiste.
Aber weshalb habe ich diesen unschuldigen Fremden, in meiner Welt der Gedanken, zum raubenden Sittenlosen gemacht? Weil er so unfreundlich meiner Unfreundlichkeit begegnet war? Weil er die Physiognomie einer geschundenen Raubrittergestalt hatte? – Indes ist die Lösung dieser Frage ein unangenehmes Unterfangen, denn nichts davon kann zutreffen. Die Lösung schmeichelt dem Ich nicht, denn Grund dieses geistigen Spektakels sind meine niedersten Instinkte, mein Handeln, entkleidet der Sittlichkeit, die so schwer anerzogen wurde. Das Klimpern von Geld löst etwas in mir aus, daß sich mit Gier beschreiben läßt. Sofort wußte ich, daß der Unbekannte in meinen Gedanken, kein Unbekannter ist; sofort erkannte ich mich selbst, aber Scham ließ Erkenntnis weichen. Dabei war ich es doch, der sich so gierig nach seinem gefallenen Fahrgeld niederließ, gerade so wie der Kerl, den nur ich sah.
So spielt mir mein Gehirn einen Streich, indem es einen Fremden zum Protagonisten meines Gedankentheaters erhob, ihn aber handeln ließ, wie ich handeln würde, hätte ich keine Erziehung erhalten. Eigentlich ist es kein Streich, sondern womöglich die Absicht der Natur, dem Ich nicht mit der Tür ins Haus zu fallen und es zu desillusionieren, somit das Ich aufzuwerten. Dies mag die Quelle des Selbstbewußtseins sein, aber auch der Ursprung machiavellistischer Weltsicht.
So also sähe ich aus, hätten mir meine Eltern keine Zurückhaltung gelehrt. Natürlich war die mir gelehrte Zurückhaltung nichts anderes, als Duckmäusertum, doch man kann auch tugendhaft handeln aus falschen Gründen. Wenn Eltern als klare Linie vorgeben, nicht negativ aufzufallen, dann bleibt dem Kind die Frage, was denn nun negativ sei – man duckt sich weg, versucht nicht aufzufallen, meidet das Positive wie das Negative, um dem letzteren ganz sicher zu entgehen. Mit den Jahren erhebt man diesen Mangel zur Tugend und nennt es Zurückhaltung. Die wilde Fratze meines Denkens war ich, in die Nacktheit der Tugendlosigkeit geworfen; ein sittenloses Ich, so wie jedes Ich gerne selbstbedienend nähme, hätte es nicht Regeln gelehrt bekommen.
Nichts geschah weiter. Der Herr bemerkte mein Gedankenspiel nicht und ich hatte immer noch nicht den Drang mit ihm zu sprechen, ihm gar davon zu berichten. Doch gab es kein Zurück mehr, irgendwie sah ich mich mit ihm verbandelt und Mitleid bestimmte nun mein Gefühl zu ihm. Womöglich war er arm, womöglich benötigte er dies Geld, um sich Medikamente zu besorgen – er hätte also Gründe so zu handeln, wie ich entbehrt meiner Erziehung, gehandelt hätte. Ich blieb meiner städtischen Gewohnheit treu und ignorierte seine mögliche Armut und tröstete mich, daß er nur im Geiste armutsgetrieben nach meinem Geld gierte.
Soll man sich seiner Gedanken schämen? Üblicherweise teilt man sie ja nicht mit. Aber tut man es doch, sollte dann eine Entschuldigung eines dummen Denkprozesses wegen stattfinden? – Es war nur ein fiktives Niederträchtigsein, Schaden trug niemand davon, Scham aber ist nicht einfach verwerfbar. Schon heute aber entschuldige ich mich für den Tag, an dem ich meine Sittlichkeit über Bord werfe und zum Untier der Gier werde.