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Der Freund der Steine
Dies ist die Geschichte von Malquin, dem Steinmetz.
Er lebte in einem Dorf und arbeitete tagaus, tagein an seinen Steinen. Er lebte allein, denn er hatte keine Familie mehr, seit seine Eltern gestorben und sein einziger Bruder fortgezogen war. So hatte er jede Menge Zeit, um sich mit seinen geliebten Steinen zu beschäftigen. Mit der Zeit schuf er wunderschöne Kunstwerke, steinerne Engel, Zauberwesen wie Einhörner oder fliegende Pferde, die er alle in dem kleinen Garten hinter seinem Haus aufstellte.
Die Dorfbewohner jedoch hatten keinen Sinn für seine Kunst, und verlangten nur ab und zu eine Grabstein, wenn jemand verstorben war. Malquin nahm dies hin und gab sich auch bei den Grabsteinen viel Mühe. Doch auch dafür hatten die Dorfbewohner keinen Blick.
Malquin jedoch liebte seine Stein-Skulpturen. Oft ging er nachts zwischen ihnen spazieren, liebkoste die Figuren, als so sie lebende Wesen wären, und manchmal sprach er auch mit ihnen. Wenn er traurig war, vertraute er sich dem Engel an, und fand ein wenig Trost bei ihm. Natürlich konnte der Engel nicht antworten doch er hörte geduldig zu, und schaute Malquin aus seinen großen, ruhigen Augen an. Auch mit dem Einhorn, dem Pegasus, der kleinen Elfe und dem Troll sprach Malquin oft, denn er war trotz seines Berufes im Dorf nicht sehr hoch angesehen, und hatte keine Freunde. Wenn er manchmal in der Dorfschenke bei einem Krug Bier saß, saß er meistens allein, denn die Dorfbewohner hielten ihn für seltsam, verschroben und eigensinnig.
Doch in Wirklichkeit war Malquin nur einsam.
Eines Nachts beschlossen ein paar übermütige Dorfjungen ihm einen Streich zu spielen, und klauten den Pegasus, das fliegende Pferd. Sie trugen es aus Malquins Garten und versteckten es in der elterlichen Scheune. Malquin tobte als er den Verlust bemerkte, und ging auf jeden los, der ihm über den Weg lief. „Wo ist mein Pferd?“ schrie er, „was habt ihr meinem fliegenden Pferd angetan?“ Er packte die Leute an den Schultern und schüttelte sie, als ob er so die Wahrheit aus ihnen heraus bekommen konnte. Doch niemand konnte ihm sagen, wo sein geliebter Pegasus war. Malquin suchte das ganze Dorf ab, er ging in jedes Haus und riß jede Tür auf, die er finden konnte – vergeblich. Die Dorfbewohner sahen ihm bei seiner Suche nur kopfschüttelnd zu, „ jetzt ist er völlig übergeschnappt“, dachten sie. Nur eine junge Magd hatte Mitleid mit ihm. Als er zum Haus ihrer Eltern kam, nahm sie seine Hand bevor er die Tür aufreißen konnte und sagte: „Ich glaube, ich weiß wo dein Pegasus ist. Meine Brüder haben es in der Nacht hergebracht und in der großen Scheune versteckt.“ Und sie ging mit ihm in die Scheune und half ihm suchen. Doch sie fanden nichts. Die junge Frau holte ihre beiden Brüder herbei und zog ihnen die Ohren lang. „Wo ist Malquins Pferd?“ schrie sie ihre Brüder an. „Wir wissen es nicht! Vielleicht ist es ja weggeflogen, “ antworteten die beiden Burschen frech. Doch ihre Schwester gab nicht nach, bis sie den Diebstahl zugaben und das Versteck verrieten. Malquin war unglaublich erleichtert, dass seinem Pegasus nichts geschehen war, und eilig brachte er ihn nach Haus, in den Garten.
Von da an begann Malquin seine Stein-Skulpturen zu bewachen. Nacht für Nacht, ob Sommer oder Winter, verbrachte er jetzt im Garten, drehte seine Runden und bekam nicht mehr sehr viel Schlaf. Dafür war er tagsüber bald so müde, dass er seine Arbeit vernachlässigte und die Dörfler maulten, dass er nicht nur verrückt, sondern auch noch faul und müde sei, und nicht mal mehr einen Grabstein herstellen könne. Doch das war ihm egal, er mied die Menschen immer mehr und hatte nur noch Augen für seine Skulpturen.
Eines Tages beschloss er sie noch besser vor den Dorfbewohnern zu schützen, und baute einen großen, runden Turm auf einem kleinen Stück Land, außerhalb des Dorfes, das ihm gehörte. Dorthin brachte er alle seine Kunstwerke, jedes noch so kleine Exemplar erhielt sein eigenes Regal, die großen stellte er auf Podeste. „Jetzt sind sie sicher“, dachte er und ging erleichtert nach Haus.
Doch dort war es ihm mit einem mal, als sei er jetzt noch einsamer als zuvor. Er ging in die Dorfschenke, um sich auf andere Gedanken zu bringen und um wieder einmal unter Menschen zu sein. Doch die Dorfbewohner mieden ihn, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, und keiner setzte sich zu ihm. Nur die junge Magd, die an diesem Abend dem Wirt zur Hand ging, brachte ihm einen Krug Bier und hatte ein paar freundliche Worte für ihn. „Ihr seid ein Künstler, Meister Malquin“, sagte sie, „ diese Leute hier sind nur einfache Bauern und verstehen euer Talent nicht. Bitte seid ihnen nicht böse.“ Malquin antwortete nicht, saß allein an seinem Tisch und beobachtete die Anwesenden. Und insgeheim wünschte er sich, dass nur einer einmal mit ihm sprechen würde.
Am nächsten Tag packte er sein Handwerkszeug ein und schloss seine Werkstatt. Auch sein Haus schloss er ab und nahm nur das Nötigste mit, was er zum Leben brauchte. Die Dorfbewohner sahen ihm hinterher, als er aus dem Dorf ging. „Endlich sind wir diesen seltsamen Querkopf los“, sagten sie. Nur die Magd lief ihm hinterher und fragte, wohin er wolle. „Zu meinen Freunden, in den Turm“, antwortete Malquin.
Dort angekommen, richtete er sich häuslich ein und begann sofort wieder an seinen Steinen zu arbeiten. Er hatte noch einige große Steine vom Turmbau übrig, und schuf daraus noch schönere, noch größere Skulpturen: einen zweiten Engel, mit riesigen, filigranen Flügeln, eine wunderschöne Jungfrau, einen Krieger, der mit Pfeil und Bogen bewaffnet war und zuletzt einen Baum, den er vor den Turm stellte und jeden Abend mit neuen Kerzen bestückte, die er anzündete.
Die Dorfbewohner sahen den leuchtenden Baum von fern und wunderten sich. „Wieder so eine neue Verrücktheit von Malquin“, sagten sie, „was will er nur mit einem Baum, soll er doch in den Wald gehen, da stehen genug Bäume!“ Nur die Magd erkannt die Schönheit seines Baumes. Heimlich schlich sie in der Nacht zu Malquin, brachte ihm Essen und eine Decke und setzte sich eine Weile zu ihm unter den Baum. So war Malquin einmal nicht ganz so einsam wie sonst.
Doch die meiste Zeit war er allein mit seinen Skulpturen, und es dauerte nicht lange bis er sie mehr für Menschen hielt als für Steine, denn er redete den ganzen Tag mit ihnen. Er sprach mit den Engeln über seine Einsamkeit, der Jungfrau beichtete er seine Sehnsucht nach Liebe und mit dem Krieger sprach er darüber, wie man den Turm am besten bewachen könne. Nachts saß er unter seinem leuchtenden Baum und träumte oft davon, wie es wäre, wenn er eine Familie hätte.
So vergingen viele Jahre und die Dorfbewohner hatten Malquin fast schon vergessen, als etwas sehr Merkwürdiges geschah: eines Morgens wachten sie auf und stellten fest, dass vor jedem Haus plötzlich eine von Malquins Steinfiguren stand! Vor dem Haus des Müllers stand die kleine Elfe, vor dem Wirtshaus stand der Troll, vor der Kirche standen die beiden Engel und mitten auf dem Dorfplatz standen die Jungfrau, der Krieger, das Einhorn, der Pegasus und der Baum.
Wie waren die Figuren ins Dorf gekommen? Was sollten sie hier?
Einige Männer machten sich auf zu Malquins Turm, um Rede und Antwort von ihm zu verlangen. Sie traten die Tür ein und riefen nach ihm.
Doch als sie den Turm betraten sahen sie, dass Malquin sich an einem der Dachbalken erhängt hatte und tot war.
Erschrocken liefen sie ins Dorf zurück und berichteten was geschehen war. Schuldbewußt schauten sie sich alle an, und wussten nicht, was sie sagen sollten. Und wohin sollten die Steinfiguren?
Als es Abend wurde, machten sie sich auf den Weg ins Wirtshaus, denn es war eine Versammlung einberufen worden. Auf dem Weg dahin kamen sie unweigerlich an Malquins Figuren vorbei, und es war ihnen mit einem Mal so, als würden diese plötzlich sprechen können: „Er war so einsam“, schienen die Engel zu flüstern, „ Er sehnte sich nach Liebe“, sprach die Jungfrau. „Er war ein guter Mann“, meinte man vom Krieger zu hören, „ Er war unser bester Freund“, riefen das Einhorn und der Pegasus.
Die Dorfbewohner fingen an, ihr abweisendes Verhalten zu bereuen, und langsam begriffen sie, wie sehr Malquin unter ihrer Ablehnung gelitten hatte. „Aber was können wir jetzt noch tun?“ fragten sie sich. Lange berieten sie, keiner wollte das Gasthaus als erster verlassen und die Nacht war schon weit fortgeschritten, als sie endlich nach Haus gingen.
Am nächsten Tag holten sie Malquins Leiche aus dem Turm und begruben ihn auf dem Dorffriedhof. Ein Handwerksbursche schaffte einen Grabstein herbei, in den er mehr recht als schlecht eingemeißelt hatte: „Hier ruht Malquin, der Freund der Steine. Er war ein großer Künstler, ein guter Mann und ein einsamer Mensch. Möge er in Frieden ruhen.“
Danach trugen sie sämtliche Steinfiguren auf einem Stück Wiese hinter seinem Grab zusammen, damit Malquin von seinen Freunden umgeben war.
Und jede Nacht geht seitdem einer aus dem Dorf zu Malquins Grab, zündet alle Kerzen des Steinbaumes an und bleibt ein paar Minuten unter ihm sitzen, um Malquin wenigstens jetzt ein wenig Gesellschaft zu leisten.