Was ist neu

Der Gauklermarkt

Mitglied
Beitritt
17.05.2015
Beiträge
8
Zuletzt bearbeitet:

Der Gauklermarkt

Mit der wahren Liebe verhält es sich wie mit Geistererscheinungen:
alle Welt redet davon, aber nur wenige haben sie gesehen.
François de La Rochefoucauld

„Yalla, yalla!“ rief Mohammed in sein Mikrofon, woraufhin sich müde, alte Leiber von ihren bequemen Sitzen erhoben und den Ausgängen des Reisebusses zuströmten. Mohammed war der Leiter unserer dreißigköpfigen, deutschen Reisegruppe. Gerade waren wir nahe des Gauklermarktes von Marrakesch angelangt, nach Casablanca am Morgen die zweite von vielen Reiseetappen durch Marokko.
Als ich ins Freie stieg, wurde ich von der Wärme des nordafrikanischen Frühlings und seinen eigentümlichen Gerüchen umfangen. Meine Knie freuten sich nach drei Stunden sitzen über ein bisschen Bewegung und ich verfluchte mich innerlich, die nächste Woche in diesem blöden Touristen-Bus verbringen zu müssen. Unauffällig machte ich ein paar halbe Kniebeugen und spürte Leben in meine Beine zurückkehren. Allmählich sammelte sich meine Gruppe draußen, jeder mit Outdoorklamotten ausgerüstet, als würden wir eine Expedition durch den Dschungel Kambodschas starten. Der Reiseleiter winkte uns und schritt mutig voran. Wir flossen wie zäher Honig hinterher in den Strom wilden Treibens, dessen geordnetes Chaos ein domestizierter Europäer nie verstehen wird.
Wie einen gezogenen Säbel hielt Kommandeur Mohammed eine gefaltete Tageszeitung in die Luft und schnitt eine Schneise für seine Rentnertruppe in die lärmenden Massen, bis sich endlich eine freie Fläche vor uns auftat. Im Schatten einer wuchtigen Palme am Rande des Platzes straffte er seinen gemütlichen Wanst und hob an, uns mit Informationen zu einem der eindrucksvollsten Märkte der Welt zu mästen.
Allerdings hörte ich kaum hin. Dass man hier im Mittelalter Menschen hingerichtet und ihre Köpfe aufgespießt zur Schau gestellt hatte, war mir bereits aus meinem Reisebüchlein bekannt. Und auch, dass es hier vor nicht allzu langer Zeit einen Anschlag mit vielen Toten gegeben hat, war mir nicht neu. Die Fakten und Namen der Jahrhunderte dazwischen konnte und wollte ich mir nicht merken. Ein weiterer Grund für meine Unaufmerksamkeit war allerdings noch ein anderer. Als ich zwischendurch einmal meinen Blick kreisen ließ, meinte ich plötzlich, zwischen all den Menschen im Getümmel meine verstorbene Frau Ina erblickt zu haben und ich schaute verwirrt dieser Fata Morgana hinterher.
„..und desshalb, ‚‘Djemaa el Fna‘, wie Marktplatz hier heißen, bedeuten auch Versammlung der Toten.“Die Stimme Mohammeds, der mit seinem Vortrag geendet hatte, holte mich in die Wirklichkeit zurück. Er entließ uns, den Markt selbst zu erkunden. „Eine Schdunde, Yalla, Bittäschön!“
Die Ehepaare verdrückten sich zu zweit, die Alleinstehenden bildeten kleine Rudel. Als Witwer hätte ich mich wohl zu Ihnen gesellen müssen (und einige der Damen hatten bereits unverblümt erwartungsvolle Blicke zu mir herüber geworfen), doch entschied ich mich zu einem Alleingang.
Noch bevor ich eine Einladung zur gemeinsamen Einsamkeit bekam, ließ ich mich bereits von den Menschleibern des Marktes verschlucken und ergab mich dem Diktat ihrer Ströme. Unterwegs erblickte ich die ersten Spektakel, vor denen mich bereits mein Reiseführer gewarnt hatte. Da waren Schlangenbeschwörer, die mit ihren Tröten wild vor Kobras in Kampfstellung herum wedelten. In ihrer ganzen Aufmachung, ihren weißen Gewändern und Turbanen, erinnerten sie mich sehr an ihre Kollegen aus Indien, die ich noch aus meiner wilden Hippiezeit kannte. Aus meiner Tasche zückte ich deshalb jetzt meine Kodak-Einwegkamera und bannte die Szenerie auf Zelluloid. Sogleich sprang einer der Beschwörer auf und lief mir mit geöffneter Hand entgegen. Ich spendierte dem Mann zehn Dirham für seine Tierquälerei, und hoffte, mich damit freigekauft zu haben. Doch der freundliche Mann bot mir sogleich an, eine Schlange, die sich um seinen Arm gewunden hatte, zu streicheln. Ich lehnte dankend ab und warf mich wieder in die Menschenfluten. Kurz hatte ich das Gefühl, jemand würde meine Hand fassen, doch neben mir waren nur gehetzte Marktgänger. Diese trieben mich zur nächsten Attraktion, kleine Äffchen, die in betont niedlichen Kostümen ihre Kunststücke vollführten. Von ihren Hälsen gingen Eisenketten zu den Händen ihrer Peiniger, die mit undurchdringlichen Mienen ihre Befehle aussprachen, wodurch die kleinen Pelztiere Purzelbäume schlugen und Pirouetten drehten. Ich erinnerte mich, dass ich ja eigentlich Veganer und somit gegen jede Form der Tierversklavung war. Daher beschloss ich, auf den Anblick des Schauspiels zu verzichten und weiterzugehen.
Als nächstes folgte ich dem Klang wilder Trommelrhythmen. Der Blick wurde frei auf zwei tanzende Frauen, die mit glitzernden Schleiern bekleidet ihre Hüften zu den orientalischen Klängen kreisen ließen. Einzig blank waren ihre Bäuche, auf die sich alle Blicke richteten, und auch die geschminkten Augen, aus denen sie verführerische Blicke abfeuerten. Das war ein Voyeurismus, den ich mir gestattete, und so trat ich näher. Nicht lange jedoch und ich stellte fest, welchem Irrtum ich erlegen war. Es handelte sich um zwei Männer, die weibliche Gebärden exakt imitieren konnten. Selbst ihre Stimmen klangen hell und kehlig, wenn sie lachten. Ich war ein wenig erschrocken und schämte mich, als ich merkte, dass meine Füße mich bereits weitertrugen. „Ts,ts“, zischte plötzlich Inas Stimme tadelnd in mein Ohr, aber als ich mich hastig umwandte, war dort natürlich niemand.
Bald fand ich mich mit Marokkanern (im Übrigen nur Männer) in einem Kreis um einen Geschichtenerzähler stehen, der auf Berberisch eine wahrscheinlich anekdotenreiche Geschichte zum Besten gab, denn nach jedem Satz machte ein lebhaftes Kichern und Lachen die Runde. Illustriert wurden seine Ausführungen von einem Schauspieler. Dieser kniete am Boden, trug eine schwarze Jelaba und machte gerade theatralische Gesten und Mimen, indem er flehend die Hände zum Himmel streckte, während sich sein faltiges Gesicht zu einer Trauermine verzog. Dann aber warf der Erzähler eine neue Information in die Runde. Der Ausdruck des Alten veränderte sich schlagartig; er zog eine Grimasse, brüllte auf und ließ einen zahnlosen Mund erkennen. „Iiina, Iiina!“, meinte ich ihn rufen zu hören, doch es konnte auch etwas ganz anderes sein. Darauf zog er seine Jelaba hoch über seine knöchrigen Beine und warf sich umständlich auf den Bauch, wobei er zwei Stummel in die Höhe reckte, an dessen Enden so etwas wie Füße zu erkennen waren. Unter dem Gejohle der Massen robbte der Greis, dessen Behinderung Teil der Erheiterung bildete, über den Asphalt.
Angewidert wendete ich mich ab. Die Spektakel dieses Marktes mochten ja berühmt sein, doch waren sie mir zu martialisch. Ich konnte nicht verstehen, weshalb sich keiner über diese offensichtlichen Grotesken aufregte und man sich dies alles freiwillig antat.
Ich ging also bestimmten Schrittes vom Platz in eine nahe gelegen Gasse, fernab der Suks und der Menschenmassen, und suchte dort nach einem Cafe. Schnell wurde ich fündig, trat in das unscheinbare Etablissement und hoffte auf einen ruhigen Platz, wo ich einen thé à la menthe schlürfen konnte. Doch wurden meine Erwartungen nicht erfüllt, denn der Laden war brechend voll. Ich schaute suchend durch den lärmenden Raum, als ich den Blick eines alten Mannes kreuzte, der in der hinteren Ecke allein an einem Tisch saß. Er schien sofort mein Begehr zu verstehen und mit einer höflichen Geste bot er mir sogleich einen Platz an, den ich mit einem unsicheren Nicken annahm. Ich kämpfte mich an seinen Tisch und brachte ein klägliches „salam aleikum!“ hervor, auf dass der alte Herr jedoch freundlich ein „wa aleikum a salam!“ erwiderte. Er hatte das ehrwürdige Aussehen eines Tuareg, mit seinen großen Augen und seinem hochgewachsenen Körperbau, und trug eine braun-weiß gestreifte Jelaba.
Nachdem ich dem gehetzten Kellner meinen Wunsch zugerufen hatte, befürchtete ich auch sogleich eine unangenehme Pause, denn ich wusste partout nicht, ob und wie ich mit dem alten Herrn ins Gespräch kommen sollte. Doch da fragte er mich schon auf Französisch, woher ich käme, was mich nach Marokko treibe und wie mir Marrakesch gefalle. Erleichtert sagte ich ihm, dass ich aus Deutschland sei und eine Reise von meinen Töchtern spendiert bekommen hatte, um mich von dem plötzlichen Tod meiner Frau abzulenken, der mich vor ein paar Monaten zum Witwer gemacht hatte. In Afrika, das ich vorher noch nie beehrt hatte, sollte ich, symbolisch wie real, eine neue Welt erleben. Und, im besten Falle, auch einen neuen Frühling. Auf seine letzte Frage antwortete ich dann etwas zögerlich, was dem Greis sofort auffiel. „Also Marrakesch ist wirklich sehr schön, keine Frage“, sagte ich, „ Aber ich komme gerade vom Markt, und, naja…“ Der Alte winkte ab, bevor ich mich um höfliche Worte für hässliche Dinge bemühen musste. „Sie müssen sich nicht entschuldigen dafür, dass sie ein feinfühliger Mensch sind!“, sagte der Alte. „ Allgemein ist der Anblick von den dort gebotenen Dingen für Euch Touristen nicht nur erheiternd, sondern oft genug auch verwirrend. Trotzdem werden Sie nicht viele Orte auf der Welt finden, wo die Attraktionen noch so rauschhaft und ursprünglich dargeboten werden wie hier. Die Lust am Betrachten ist den Menschen nun mal eigen, und je grotesker das Dargebotene, desto schwerer fällt das wegschauen, nicht wahr?“ Man stellte mir gerade meinen Tee vor die Nase und ich war froh, dadurch kurz dem Blick des Greises entgehen zu können. „Wissen Sie“, fuhr der alte Mann fort, „ wenn es nicht so voll ist wie heute, arbeite ich gewöhnlich als Wahrsager auf dem Markt, um meine Rente etwas aufzubessern. Sie werden mir sicher beipflichten, dass die Atmosphäre dort meinem Geschäft alles andere als abträglich ist. Doch das ist nur die äußere Seite. Der Markt repräsentiert die ganze, ungeschminkte Fratze unseres Daseins. An solchen Orten, an Orten der Unmittelbarkeit, herrscht immer Magie. Und wer sich darauf einlassen kann, wird viel verstehen über die Vergangenheit und die Zukunft, über das Leben und den Tod. Nicht wahr, der Tod ist Ihnen dort begegnet?“ Ich zuckte zusammen. Meinte der Mann etwa diese merkwürdigen Erscheinungen mit Ina? „Keine Sorge“, winkte der alte ab, „das ist mein Geschäft. Ich lese in Ihnen wie in einem Buch. Berufskrankheit!“, kicherte er verschlagen. Dann wurde er wieder ernst. „Menschen, die abrupt aus dem Leben geschieden sind, bleiben als Geister häufig noch ein Weilchen unter uns. Es ist dann die Aufgabe der Verbliebenen, sie loszulassen. Nur so werden sie und auch wir gleichermaßen erlöst, und die Welt kann sich wieder drehen!“

Als mir die Unterhaltung mit dem Alten etwas zu unheimlich wurde, hatte ich meinen Tee hastig ausgetrunken, mir dabei die Zunge verbrüht und mich dann ungelenk verabschiedet. Auf dem Weg zu meiner Reisegruppe dachte ich dennoch über die Worte des Wahrsagers nach.
Man wartete bereits auf mich. Als wir wieder gen Reisebus marschierten, bekam ich plötzlich Lust, mit den anderen zu plaudern. Auch die Gedanken an die nächsten Tage wogen auf einmal nicht mehr so schwer. Ich atmete durch. Vielleicht war Loslassen ein gutes Zauberwort.

 
Zuletzt bearbeitet:

Ja,
loslassen muss man lernen, denn wenn man es nicht lernt, wird man einen Menschen nie wahrhaftig geliebt haben, denn die wahre Liebe hat nichts mit Besitzansprüchen zu tun,

lieber Nikolaides -
und damit erst einmal hallo und herzlich willkommen hierorts!

Eine interessante Geschichte erzählstu da in ruhigem Ton, der zu der Ruhe und Weisheit des alten Tuareg passt und so einen Kontrast bildet zu der Unruhe und dem Lärmen des touristisch angereicherten Gewimmels eines orientalischen Marktes. Möglich, dass Du hier gar nicht in Deiner Muttersprache schreibst, und umso erstaunlicher die geringe Fehlerzahl gegenüber sonstigen muttersprachlichen Neueinsteigern … Gleichwohl, ein paar Schnitzer sind zu beheben, wobei der erste eher für ein wenig Flüchtigkeit spricht, gelingt Dir doch ansonsten das Komma am Ende der wörtl. Rede bei einem „übergeordneten“ Satz ( wie der Duden so sagt):

„Yalla, yalla!“[,] rief Mohammed …

Hier kommt dann Ausnahmsweise einiges zusammen („deshalb“, wenigstens ein Satzzeichen erscheint mir misteriös und ein Leerzeichen/eine Leertaste ist auf jeden Fall nachzutragen)
„..und des[…]halb, ‚‘Djemaa el Fna‘, wie Marktplatz hier heißen, bedeuten auch Versammlung der Toten. […]“Die Stimme …
Ein Geheimnis ist mir derzeit diese Passage „… deshalb, ‚‘Djemaa el Fna‘, wie …“, wobei die Kommas nach „deshalb“ und vor „wie“ korrekt sind, jenes aber vor dem einfachen, hochgestellten Anführungszeichen, ebenda, wo ich jetzt das Sternchen hinsetz „deshalb, *‘Djemaa“ mir zu denken gibt …

Als Witwer hätte ich mich wohl zu Ihnen gesellen müssen …
(Warum wählstu hier die Höflichkeitsform „Ihnen“?)

…, der auf Berberisch eine wahrscheinlich anekdotenreiche Geschichte zum Besten gab, …
(„berberisch“ als Adjektiv gibt’s, aber „Berberisch“ erweckt den Eindruck, als gäbe es nur eine Berbersprache, aber gerade im gesprochenen Wort sind die Unterschiede zwischen den Sprachen/Dialekten größer als im geschriebenen, was ja nur unter Vorbehalt mit dem friesischen und dem bairischen Dialekt hierzulande verglichen werden kann.
Warum also nicht „Tamashek“?, was der Tuareg wahrscheinlich spricht.

Hier wäre der accent nachzutragen

Caf[é]

Erleichtert sagte ich ihm, dass ich aus Deutschland sei und eine Reise von meinen Töchtern spendiert bekommen hatte, um mich von dem plötzlichen Tod meiner Frau abzulenken, der mich vor ein paar Monaten zum Witwer gemacht hatte.
(Warum wird nur am Anfang – „sei“ der Konjunktiv verwendet, wenn die indirekte Rede dann in den – für meine Ohren nicht ganz korrekten – Indikativ verfällt?)

„ Aber ich komme gerade vom Markt, und, naja…“
(Die Auslassungspunkte behaupten hier, am vorhergehenden Wort – naja – fehlte wenigstens ein Buchstabe. Besser eine Leertaste zwischen dem letzten Wort und den Punkten … Wobei mir auch auffällt, dass Du - zumindest hier - zu Anfang der wörtl. Rede eine Leerstelle hast, wo korrekt keine hingehört

… je grotesker das Dargebotene, desto schwerer fällt das wegschauen, nicht wahr?“ Man …
Entweder „das Wegschauen“ oder „…, desto schwerer fällt (es) wegzuschauen, …“

„Keine Sorge“, winkte der [A]lte ab, „das ist mein Geschäft.

So viel oder wenig für heute vom

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Das Double brauchts's dann doch nicht ...

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom